Das deutsche Hochschulsystem ist in den vergangenen fünf Jahren internationaler, durchlässiger und heterogener geworden. Aber: Der Wandel hin zu einem digitalen, flexiblen und optimal berufsvorbereitenden System ist noch nicht geschafft. Das ist die Zwischenbilanz des Hochschul-Bildungs-Reports, den der Stifterverband und die Unternehmensberatung McKinsey gemeinsam seit fünf Jahren herausgeben.
Die aktuelle Ausgabe des Reports mit dem Schwerpunkt "Chancengerechte Bildung" wurde am 20. November 2017 vom Stifterverband und McKinsey & Company veröffentlicht. "Unser Hochschulbildungssystem bewegt sich grundsätzlich in die richtige Richtung, aber nicht schnell genug", erläutert Volker Meyer-Guckel, der stellvertretende Generalsekretär des Stifterverbandes die Entwicklung. Alarmierend sei die Zwischenbilanz insbesondere für das Handlungsfeld Lehrer-Bildung: Es gibt immer weniger MINT-Studienanfänger im Lehramt und männliche Grundschullehramtsanfänger, Berufs- und Praxisbezogenheit der Lehrveranstaltungen werden extrem schlecht beurteilt.
Der Report quantifiziert auch erstmals, wie sich soziale Selektion an den Hochschulen fortsetzt. Die Chancengerechtigkeit des deutschen Hochschulsystems habe sich in den vergangenen Jahren nur langsam verbessert. "Eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben nur etwa halb so viele Nichtakademiker- wie Akademikerkinder", stellt Meyer-Guckel fest. Danach höre die soziale Selektion aber nicht auf: Nur acht von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Master gegenüber 45 Kindern aus Akademikerhaushalten. Und: Während jedes zehnte studierte Akademikerkind dann noch promoviert, ist dies nur bei jedem 100. Arbeiterkind an den Universitäten der Fall. Um diesem Trend entgegenzuwirken, ist nach Ansicht von Stifterverband und McKinsey unter anderem ein stärker an der Diversität der Studierenden und unterschiedlichen Studienformen orientiertes BAföG sinnvoll.
Eine Arbeitsmarktanalyse im Rahmen des Hochschul-Bildungs-Reports zeigt zudem: In Deutschland fehlen bis zu 95.000 Datenspezialisten. "Die Anzahl der Studienanfänger in den MINT-Fächern ist außer in den Lehramtsstudiengängen zwar gestiegen, es mangelt aber weiter an Informatik-Studierenden und MINT-Studentinnen", stellt McKinsey-Seniorpartner Jürgen Schröder fest. Diese Entwicklungen haben erhebliche Auswirkungen. "Für die Unternehmen ist dieser Mangel an Fachkräften ein deutlicher Wettbewerbsnachteil", warnt Schröder. Stifterverband und McKinsey empfehlen daher, die Einrichtung von Data-Science-Education-Programmen für Bachelorstudiengänge an Hochschulen, die grundlegende Datenanalysefähigkeiten für alle Fächer vermitteln, für alle Studierende einzuführen. Darüber hinaus sollte es mehr gezielte Kooperationen von Hochschulen und Unternehmen bei der Vermittlung von Datenanalysekompetenzen geben, beispielsweise durch Hackathons.
Auch auf die Schulen wirkt sich der Mangel an Informatikstudierenden aus. Derzeit beträgt der Anteil der Lehramtsstudierenden, die Informatik als erstes, zweites oder drittes Studienfach wählen, nur 1,6 Prozent. Schröder: "Für die Einführung eines Wahlfaches Informatik und Programmieren in Sekundarstufe I und II wären 4.000 zusätzliche Informatiklehrer nötig. Für die Einführung eines Pflichtfaches Informatik von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II nach britischem Modell wären es sogar rund 24.000." Abhilfe könnte hier ein Bund-Länder-Pakt zur Informatiklehrerausbildung bringen: Hochschulen, die bereits heute Lehramtsstudiengänge in Informatik anbieten, sollten eine einmalige Kapazitätserhöhung erhalten, um mehr Lehrer ausbilden zu können. Die Länder sollten sich im Gegenzug verpflichten, den Informatikunterricht auszuweiten und mehr Informatiklehrer einzustellen, um eine Kopplung zwischen Lehrerausbildung und -einstellung zu erreichen. Parallel müsse die IT-Infrastruktur an Schulen durch einen Digitalpakt deutlich ausgebaut werden (Breitbandausbau, Computerausstattung).
Im Jahr 2020 werden in deutschen Hochschulen bis zu 40.000 Flüchtlinge eingeschrieben sein. Diese Zahl haben Stifterverband und McKinsey erstmals für den Report berechnet. Es könnten aber auch doppelt so viele Flüchtlinge sein, wenn Faktoren wie fehlende Sprachkenntnisse, gesundheitliche Probleme und finanzielle Hürden beseitigt würden. "Die Motivation vieler Flüchtlinge in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland ist besonders hoch", stellt McKinsey-Partnerin Solveigh Hieronimus fest. Dieses Potenzial sollte besser genutzt und die Prozessdauer von der Einreise bis zur Aufnahme eines Studiums durch Ausbau und Förderung von studienvorbereitenden Sprach- und fachlichen Kursen an Hochschulen verkürzt werden. Die richtige Zuordnung von Flüchtlingen im Bildungssystem sollte durch eine Erfassung von Kompetenzen, gekoppelt an eine frühzeitige Bildungsberatung, sichergestellt werden.
Der Hochschul-Bildungs-Report erscheint seit 2013 jährlich. Er liefert messbare Ziele für das Jahr 2020, die im Dialog mit Experten aus den Stifterverbands-Mitgliedsunternehmen, Wissenschaftsorganisationen und Vertretern der Zivilgesellschaft formuliert wurden. Er gibt Empfehlungen, wie diese Ziele zu erreichen sind. Dazu wird jedes Jahr der Status quo des Hochschulsystems in sechs Handlungsfeldern – Chancengerechte Bildung, Internationalität, Beruflich-akademische Bildung, Quartäre Bildung, MINT Bildung, Lehrer-Bildung – anhand von 71 Indikatoren analysiert.