ZiviZ-Survey 2023: Hauptbericht

Zivilgesellschaftliche Organisationen im Wandel
Gestaltungspotenziale erkennen
Resilienz und Vielfalt stärken

ZiviZ-Survey 2023 (Hauptbericht) (Cover)

Der ZiviZ-Survey ist eine repräsentative Organisationsbefragung, die seit 2012 regelmäßig zentrale Strukturmerkmale und Entwicklungen in der organisierten Zivilgesellschaft erfasst. Es handelt sich um eine einzigartige repräsentative Organisationsbefragung in Deutschland, die das gesamte Spektrum an Engagementfeldern abdeckt. Im Rahmen des ZiviZ-Survey 2023 haben von den 125.000 eingeladenen Organisationen 12.792 an der Online-Befragung teilgenommen. Der aktuelle Hauptbericht stellt zentrale Entwicklungen in der Organisationslandschaft sowie die Herausforderungen von Organisationen in unterschiedlichen Engagementfeldern und räumlichen Kontexten vor. Bereits im März 2023 wurde ein Trendbericht veröffentlicht, der erste Ergebnisse der Befragung und Entwicklungen über die vergangenen zehn Jahre skizzierte. Gefördert wurde der ZiviZ-Survey 2023 von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt sowie den acht Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Saarland und Schleswig-Holstein und dem Stifterverband.

Ziel dieses Berichts ist es, mit einer neuen empirischen Datengrundlage zur vielfältigen Landschaft zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland einen Beitrag zu einer zielgenauen Förderung von Engagement zu leisten. Die Studie liefert auch Orientierungswissen für Vorstände und Geschäftsführungen gemeinnütziger Organisationen und Verbände. Zuletzt dient die Studie auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Engagement- und Zivilgesellschaftsforschung als Grundlage für weiterführende Forschungsvorhaben.

In dem Bericht wird zunächst der ZiviZ-Survey als inzwischen etabliertes Instrument der Dauerberichterstattung über zivilgesellschaftliche Organisationen vorgestellt. Im Anschluss werden zentrale Strukturmerkmale zivilgesellschaftlicher Organisationen zu Engagementfeldern, Personalstrukturen und der Finanzierung dargestellt. Der Bericht geht im Anschluss noch auf eine Reihe an Themen wie Diversität, Krisenresilienz oder Zusammenarbeit mit engagementfördernden Infrastruktureinrichtungen ein, die besonders häufig im Fokus aktueller engagementpolitischer Debatten stehen. Abschließend werden auf Grundlage ausgewählter Befunde der Studie Handlungsempfehlungen für die Engagementförderung diskutiert.

 

Zentrale Ergebnisse der Studie

Zivilgesellschaftliche Organisationen bieten gesellschaftliche Vielfalt selten ab (Grafik)
Mehr als jeder vierte Sportverein berichtet von gesunkenen Zahlen freiwillig engagierter Personen (Grafik)
32 Prozent der Umweltschutzorganisationen berichten von gestiegenen Engagiertenzahlen (Grafik)
30 Prozent der Organisationen haben inzwischen freiwillig Engagierte, die keine Mitgliedschaft aufweisen (Grafik)
Neugegründete Organisationen übernehmen immer häufiger Aufgaben, die vormals im Verantwortungsbereich des Staates lagen (Grafik)
Jede dritte Kulturorganisation berichtet von gesunkenen Einnahmen aus selbsterwirtschafteten Mitteln (Grafik)

Die wichtigsten Erkenntnise auf einen Blick:

  • Mehr als 650.000 zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland
    Im Jahr 2022 existierten in Deutschland gemäß der Bestandsaufnahme von ZiviZ 656.888 zivilgesellschaftliche Organisationen, wobei eingetragene Vereine mit 94 Prozent den größten Anteil ausmachen. Während die Dynamik bei Vereinsgründungen nachlässt, erleben gemeinnützige Kapitalgesellschaften und Genossenschaften eine auffällig starke Zunahme. Die Vereinslandschaft entwickelt sich regional unterschiedlich: Am stärksten wuchs der Vereinsbestand zwischen 2016 und 2022 in Berlin und Bayern, am stärksten sank er in Thüringen und Bremen. In städtischen Zentren, insbesondere in Hamburg und Leipzig, war die Dynamik bei Vereinsneugründungen in den vergangenen Jahren besonders hoch.
     
  • Die meisten Organisationen müssen mit sehr knappen Ressourcen haushalten
    Mehr als die Hälfte der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland hat Gesamteinnahmen von weniger als 10.000 Euro. Nur 27 Prozent der Organisationen haben bezahlte Beschäftigte. Vor finanziellen Problemen stand in den vergangenen Jahren insbesondere der veranstaltungsabhängige Kulturbereich, da Veranstaltungen während der Pandemie nur eingeschränkt stattfinden konnten. Von der insgesamt positiven Beschäftigungsentwicklung im Dritten Sektor scheinen zudem bislang mehrheitlich bereits professionell operierende Großorganisationen zu profitieren.
     
  • Neue Bildungs- und Umweltorganisationen stärken die breite Themenvielfalt in der Zivilgesellschaft
    Organisationen sind in einer Vielzahl unterschiedlicher Engagementfelder aktiv, wobei sich über die Hälfte der Organisationen primär den Bereichen Sport, Kultur oder Bildung zuordnet. In den vergangenen zehn Jahren gingen die Anteile des organisierten Sports und der sozialen Dienste an allen zivilgesellschaftlichen Organisationen allerdings leicht zurück, jene der Bereiche Bildung und Umwelt nahmen zu. Im Vergleich zu ländlichen Räumen sind in Städten eine größere Vielfalt der Engagementfelder und ein stärkerer Fokus auf Bildung, Wissenschaft und Soziales zu beobachten. In ländlichen Räumen sind hingegen die traditionellen Engagementfelder Sport, Kultur und Freizeit stärker vertreten, insbesondere in Regionen mit schwächerer  ozioökonomischer Lage.
     
  • Wandel im Rollenverständnis und in der Beziehung zum Staat
    Das Rollenverständnis zivilgesellschaftlicher Organisationen verändert sich. Immer mehr Organisationen möchten Impulse für sozialen Wandel geben und an politischen Prozessen partizipieren. Auch die Erwartungen an den Staat ändern sich, insbesondere im Hinblick auf eine stärkere finanzielle Unterstützung. Den Hintergrund dafür bildet die klar erkennbare Tendenz, dass Organisationen immer häufiger als Lückenbüßer für mangelnde staatliche Daseinsvorsorge auftreten und sich in Bereichen engagieren, die traditionell im Verantwortungsbereich des Staates lagen. Trotz dieser Entwicklung gibt es weiterhin viele Organisationen, die Aktivitäten und Angebote gänzlich unabhängig von staatlicher Finanzierung anbieten möchten.
     
  • Entwicklung der Engagiertenzahlen offenbart die Gewinnenden und Verlierenden der Pandemie
    Die Pandemie hat bereits zuvor bestehende Herausforderungen von Organisationen bei der Gewinnung und Bindung von Mitgliedern und freiwillig Engagierten intensiviert. Dennoch sind die verschiedenen Engagementfelder in unterschiedlichem Maße betroffen. Sportvereine stehen vor besonders großen Problemen: In kaum einem anderen Bereich waren die Engagiertenzahlen in den vergangenen Jahren so häufig rückläufig wie im organisierten Sport. In den Bereichen Umwelt, Bevölkerungsschutz sowie den gemeinschaftlichen Versorgungsaufgaben berichten hingegen überdurchschnittlich viele Organisationen von Mitglieder- und Engagiertenzuwächsen.
     
  • Viele Organisationen plagen Probleme in der Besetzung von Leitungsfunktionen – nicht zuletzt aufgrund bürokratischer Belastungen im Ehrenamt
    Viele Organisationen sind mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, wenn es um die Besetzung von Leitungspositionen geht. Neben der grundsätzlich abnehmenden Bindungsbereitschaft von Engagierten hat dies auch mit dem hohen bürokratischen Aufwand zu tun, mit dem die Arbeit in ehrenamtlichen Führungspositionen verbunden ist. Knapp drei Viertel der Organisationen bewertet die Verwaltungstätigkeiten für ihr zentrales Leitungsgremium als besonders zeitintensiv.
     
  • Zunehmende Entkoppelung des Engagements von der Institution einer formalen Mitgliedschaft
    30 Prozent der Organisationen haben inzwischen auch freiwillig Engagierte, die keine Mitgliedschaft in der Organisation aufweisen. 2012 waren es noch 21 Prozent. In diesen Organisationen entwickelten sich die Engagiertenzahlen in den vergangenen Jahren deutlich besser als in Organisationen, die eine Mitgliedschaft als notwendige Voraussetzung für ein Engagement begreifen. Diese zunehmende Entkoppelung von Mitgliedschaft und Engagement ist Ausdruck der abnehmenden Bereitschaft zu einer Organisationsbindung im Engagement und verdeutlicht die Notwendigkeit, niederschwellige Konzepte zu entwickeln und alternative Finanzierungsquellen zu erschließen, um mögliche Einnahmeverluste durch fehlende Mitgliedsbeiträge auszugleichen.
     
  • Zivilgesellschaftliche Organisationen bilden zunehmende gesellschaftliche Vielfalt intern noch zu selten ab
    Die Zivilgesellschaft ist ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Vielfalt und bietet einen Raum der Entfaltung für Menschen mit verschiedensten Interessen, Weltanschauungen sowie sozialen und kulturellen Hintergründen. Dennoch wird diese Vielfalt innerhalb der Strukturen der Organisationen noch zu selten repräsentiert. Bezeichnenderweise verfügt knapp die Hälfte der Organisationen über keine jungen Engagierten unter 30 Jahren in Leitungspositionen. Weiterhin geben lediglich elf Prozent der Or ganisationen an, Engagierte mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen zu haben, und nur 21 Prozent berichten von sozialer Diversität unter den Engagierten. Nicht jede Organisation muss intern einen hohen Grad an sozialer oder kultureller
    Diver sität aufweisen. Dennoch ist die Förderung von Diversität unerlässlich, um als zivil gesellschaftliche Organisation effektive Beiträge zur Integration und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt leisten können – ebenso wie zur Lösung interner Nachfolgeprobleme durch die breitere Öffnung der Organisation für neue Bevölkerungsgruppen.
     
  • Verhaltenes Stimmungsbild zu den Folgen und Mehrwerten der Digitalisierung
    Viele Organisationen haben in den vergangenen Jahren Fortschritte im Bereich der Digi talisierung gemacht. Dennoch zeigen sich nur für einen Teil von ihnen substanzielle Mehrwerte des digitalen Arbeitens für die Organisationsentwicklung. Weniger als jeder zehnten Organisation gelingt es, durch zunehmendes digitales Arbeiten junge Engagierte zu gewinnen. Ebenfalls erreichen nur wenige Organisationen mehr Menschen, die nicht vor Ort sind oder sich an Entscheidungsprozessen in der Organisation beteiligen. Immerhin jede fünfte Organisation hat aber inzwischen durch die Digitalisierung mehr Teilnehmende an den Angeboten und Aktivitäten. Bedenklich ist jedoch, dass ebenfalls knapp jede fünfte Organisation von einem abnehmenden Gemeinschaftsgefühl infolge digitalen Arbeitens berichtet.
     
  • Jede vierte Organisation arbeitet inzwischen mit mindestens einer engagementfördernden Infrastruktureinrichtung zusammen
    Kommunale Kontaktstellen für bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenagenturen oder Bürgerstiftungen haben sich vielerorts zu wichtigen Eckpfeilern der Engagementförderung entwickelt. Diese und andere engagementfördernde Infrastruktureinrichtungen gilt es, auf eine solide Finanzierungsgrundlage zu stellen, um das lokale Engagement nachhaltig zu stärken.
Vereinseintragungen und Vereinslöschungen 1995-2021 (Grafik)

Bibliografische Angaben

Dr. Peter Schubert, David Kuhn, Dr. Birthe Tahmaz:
ZiviZ-Survey 2023
Berlin: ZiviZ im Stifterverband 2023
74 Seiten

Kontakt

Birthe Tahmaz (Foto: Damian Gorczany)

Dr. Birthe Tahmaz

ist Programmleiterin und Mitglied der Geschäftsführung bei ZiviZ im Stifterverband.

T 030 322982-519

Peter Schubert (Foto: Damian Gorczany)
Peter Schubert (Foto: Damian Gorczany)
©

Dr. Peter Schubert

leitet die Geschäftsstelle 
ZiviZ im Stifterverband.

T 030 322982-576