Gerald Hüther: Die Einwanderung als Glücksfall

Jede Bewegung, wo andere Menschen mit anderen Erfahrungen zu uns kommen, ist etwas, was unser gesamtes Organisationssystem bereichert, indem es den Strukturen hilft, wieder etwas flexibler zu werden, sich wieder etwas mehr auf den Menschen einzulassen.

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Gerald Hüther: Einwanderung als Glücksfall (Video)
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Bietet die Integration von Flüchtlingen nicht die große Chance, verkrustete Strukturen aufzubrechen? Gerald Hüther, Autor des Buchs "Etwas mehr Hirn, bitte", nennt Beispiele, wie Zuwanderung mehr Flexibilität verlangt und die Gesellschaft insgesamt bereichern kann.

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Autor: Timur Diehn
Produktion: Gerd Sälhoff, Timur Diehn, Christian Slezak
für den YouTube-Kanal des Stifterverbandes

Transkript des Videos

Ohne dass die gekommen wären, wären wir wahrscheinlich noch 20 Jahre weiter so festgesessen in den alten Strukturen.

Wenn wir uns das jetzt hier in Deutschland anschauen, dann hat man doch etwas ganz Eigenartiges beobachtet, nämlich: Als die alle kamen, oder als erstmal noch nicht so viele kamen, haben wir gesagt: Es sind lauter Asylanten. Als dann plötzlich so viele kamen und wir festgestellt haben, das sind nicht alles Asylanten, das sind wirklich Menschen, die vor schrecklichen Zuständen geflohen sind, haben wir gesagt: Das sind Flüchtlinge. Und auf einmal hat sich das Bewusstsein umgekehrt. Wenn man mit einem Flüchtling zu tun hat, dann hat man nicht mehr so viel Angst vor dem, sondern man hat das Gefühl, man müsse dem helfen. Das heißt, wir erleben, dass es sehr, sehr viele Menschen in dieser Bevölkerung gibt, die immer noch dieses Bild im Kopf haben, wie ein Mensch behandelt werden müsste, der vor schrecklichen Verhältnissen geflohen ist. Und die haben sich dann auf den Weg gemacht und haben diese vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten übernommen. Das ist alles wunderbar, und da könnte man Tränen der Begeisterung vergießen über diese Art von Hilfsbereitschaft, die man dann erlebt hat. Dass es dann welche gibt und vor allem in Regionen Deutschlands welche gibt, wo die Menschen bisher wenig Gelegenheit hatten, Menschen aus anderen Kulturen zu begegnen, dass dort natürlich die Ressentiments am größten sind, weil die konnten ja nie die Erfahrung machen, wie das dem anderen geht. Und dass sich dort Bewegungen gebildet haben, die jetzt rufen: "Wir müssen die alle wieder wegjagen!", das ist zunächst erstmal verständlich. Und das wird auch noch eine Zeitlang so gehen. Und jetzt hängt es aber davon ab, wie sehr es uns gelingt, in solchen Begegnungen deutlich zu machen, was da eigentlich Großartiges auf uns zukommt. Dass das eigentlich auch eine Chance ist. Dass das nicht nur auch eine Chance ist, sondern dass das eine ganz großartige Chance ist, die diese Menschen aus diesen furchtbaren Gebieten zu uns bringen. Ich will das versuchen, an einem Beispiel deutlich zu machen. Da gibt es eine Aufzeichnung im Fernsehen von einer Schulleiterin, die hat gerade die ganzen Eltern gesprochen, um die Kinder aufzunehmen, die sogenannten Flüchtlingskinder, in ihre Grundschule. Und dann wird sie interviewt, und dann sagt sie: Ja, es ist alles furchtbar, und es sind viel zu viele, und die können ja auch gar kein Deutsch, und die passen jetzt auch gar nicht in unsere Klassen, und wir haben auch nicht genug Lehrer. Alles erstmal furchtbar, und dann sagt sie mit leuchtenden Augen: Aber diese Kinder wollen so unglaublich gerne lernen. Da müssen wir darauf achten. Was heißt denn das? Das heißt, dass da plötzlich Kinder zu uns kommen, die einem gestandenen Schulleiter auffallen, dadurch, dass die so unheimlich gerne was lernen wollen. Das heißt doch mit anderen Worten: Der hat schon lange nicht mehr so ein Leuchten in den Augen der Kinder gesehen, dass ihm das so auffällt. Und jetzt stellen wir uns vor: Es kommen fünf Kinder, die unglaublich gerne lernen wollen, in so eine Schulklasse. Das verändert das ganze Klima in dieser Klasse. Das verändert auch die Art und Weise, wie diese Lehrerin unterrichtet, weil plötzlich hat sie wenigstens fünf Kinder, wo sie sieht: Die wollen was lernen. Und auf diese Weise entsteht sozusagen ein Veränderungsprozess sogar in einer einzelnen Schulklasse, dadurch, dass das plötzlich ein paar Kinder drin sind, die anders sind als die anderen. Die etwas mitbringen, was die anderen möglicherweise schon verloren haben. Das ist die Freude am eigenen Lernen, am gemeinsamen Gestalten, am in die Schule Gehen. Und so könnte man das jetzt in andere Bereiche übersetzen. Unsere Verwaltungen sind wunderbar, die wir uns gegeben haben, und die sind auch sehr schön organisiert, und die haben auch alles im Griff. Aber wie schön ist das, dass die jetzt diese Erfahrung machen, dass sie jetzt auch flexibel sein können. Dass sie nicht mehr diese Vorschriften alle so abarbeiten müssen, sondern dass sie auch aus der Situation heraus entscheiden können, das ist eine Lernerfahrung, die hätten die nie gemacht. Und die kommt uns dann natürlich wieder zugute, weil man plötzlich mit Beamten zu tun hat, die in einem Verwaltungsapparat sind, die gelernt haben, dass man nicht alles so exakt nach den Vorgaben handhaben muss. Das heißt, hier sind an ganz vielen Stellen innerhalb unserer gegenwärtigen Gesellschaft durch diese Menschen, die dazugekommen sind, Impulse entstanden, die dazu führen, dass das, was wir bisher hatten, sich in eine positive Richtung weiterzuentwickeln beginnt. Und jetzt kann man das noch zu Ende denken und sagen: Ohne dass die gekommen wären, wären wir wahrscheinlich noch 20 Jahre weiter so festgesessen in den alten Strukturen. Also, insofern ist auch jede Bewegung, die da von außen kommt und wo andere Menschen mit anderen Erfahrungen zu uns kommen, etwas, was uns nicht nur individuell bereichert, wenn wir denen begegnen, sondern das ist auch etwas, was unser gesamtes Organisationssystem dieser Gesellschaft bereichert, indem es den Strukturen hilft, wieder etwas flexibler zu werden, sich wieder etwas mehr auf den Menschen einzulassen anstatt auf die Vorschriften zu achten.