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Alle Rechte für alle

26.04.2016

Die deutsche Politik der Religionsfreundlichkeit hat sich als integrationsfördernd bewährt, aber offene Fragen bleiben.

Das SVR-Jahresgutachten 2016 untersucht die religiöse Vielfalt im Einwanderungsland Deutschland und die institutionell, politisch und rechtlich damit verbundenen Herausforderungen. Die institutionelle Gleichstellung des Islam ist auf gutem Weg, aber offene Fragen bleiben. Der Zusammenhang von Religion und Integration wird generell überschätzt. Und das Integrationsbarometer zeigt: Das Integrationsklima in Deutschland ist "anhaltend stabil". Bei der Akzeptanz des Islam zeigt sich aber ein ambivalentes Bild: Hohe Zustimmung zu islamischem Religionsunterricht; die Aussage, dass der Islam ein Teil Deutschlands ist, wird dagegen mehrheitlich abgelehnt.

Das Einwanderungsland Deutschland ist von einer zunehmenden religiösen Vielfalt gekennzeichnet: Mit dem Islam hat sich eine dritte große Religion neben Christentum und Judentum etabliert. Diese Entwicklung wird durch die derzeit starke Zuwanderung von Flüchtlingen vor allem aus muslimischen Ländern weiter verstärkt. Deutschland ist damit von zwei gegenläufigen Entwicklungen gekennzeichnet: Einerseits einem Trend zur gesellschaftlichen Säkularisierung und abnehmenden religiösen Bindungen, andererseits einer Zunahme und Ausdifferenzierung von religiösen Angeboten. Im Zentrum des SVR-Jahresgutachtens 2016 steht die politisch relevante Frage: Wie geht Deutschland als säkulares, aber eben nicht laizistisches Land mit einer vor allem durch Zuwanderung verursachten Zunahme religiöser Vielfalt um?

Bei der Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens mit dem Titel "Viele Götter, ein Staat: Religiöse Vielfalt und Teilhabe im Einwanderungsland" sagte Prof. Dr. Christine Langenfeld, Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR): "Deutschland ist demografisch zu einem multireligiösen Land geworden. Zudem wird eine – mit der Verabschiedung des Grundgesetzes etablierte – Politik der Religionsfreundlichkeit konsequent auf andere Religionen angewendet. Es entspricht der deutschen Rechtstradition, sich gegenüber Religionen und religiösen Bedürfnissen offen zu zeigen. Das deutsche Recht erweist sich hier als flexibel und ermöglicht Lösungen, die Zumutungen für religiös gebundene Menschen nach Möglichkeit vermeiden und mit denen alle gut leben können. Voraussetzung dafür ist aber, dass die eigenen religiösen Überzeugungen nicht absolut gesetzt werden. Hier gilt der Grundsatz, dass die Anerkennung von religiöser Verschiedenheit den Vorrang der demokratischen Grundwerte nicht schwächen darf. Das Grundgesetz ist und bleibt der Rahmen für gemeinsame Werte."

Das SVR-Jahresgutachten analysiert den staatlichen Umgang mit religiöser Pluralität in Deutschland, insbesondere die institutionelle Gleichstellung der islamischen Religionsgemeinschaften in den letzten Jahrzehnten. Dabei zeigt sich: "Die rechtlich-institutionelle Integration des Islam ist viel weitreichender und erfolgreicher verlaufen als oft angenommen wird", sagte Langenfeld. Der Zusammenhang von Integration und Religion wird im Gutachten ebenso untersucht wie der Umgang mit Normenkollisionen zwischen verfassungsrechtlichen und religiösen Werten (aller Religionsgemeinschaften).

Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2016 (Foto: SVR/Michael Setzpfandt)
Foto: SVR/Michael Setzpfandt
Die Sachverständigen bei der Vorstellung des SVR-Jahresgutachtens 2016

Bei der institutionellen Integration des Islam zeigt sich der Staat offen und flexibel, nun sind die Muslime am Zug
Die institutionelle Gleichstellung des Islam ist in den letzten Jahren weit vorangeschritten. Dies gilt sowohl für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen als auch für die Etablierung der islamischen Theologie an Hochschulen. Zu nennen sind hier auch die Vereinbarungen ("Staatsverträge") der Länder Hamburg und Bremen mit den islamischen Verbänden, in denen Aspekte der praktischen Religionsausübung muslimischer Bürger geregelt sind wie zum Beispiel religiöse Feiertage, Religionsunterricht, Bau von Gebetsstätten, Bestattungswesen, aber auch Fragen gemeinsamer Wertegrundlagen.

"Staat und Politik haben deutlich gemacht, dass sie den Muslimen bei weiteren Schritten zur institutionellen Gleichstellung etwa mit den Kirchen und der jüdischen Gemeinde entgegenkommen. Dies ist zu begrüßen, denn es wäre nicht hinzunehmen, wenn einer so großen Zahl von Gläubigen, die in Deutschland dauerhaft leben, der Weg zur Kooperation mit dem Staat im Rahmen des für alle geltenden rechtlichen Rahmens versperrt bliebe. Nun sind die Muslime am Zug, um den begonnenen Prozess der institutionellen Gleichstellung weiter voranzubringen", sagte Langenfeld. Damit angesprochen ist bspw. das Problem der weiterhin fehlenden institutionellen Voraussetzungen, die für die Bildung einer Religionsgemeinschaft erforderlich sind. Hier geht es vor allem um Fragen der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, die klare Ausrichtung auf die Pflege des religiösen Bekenntnisses, die Verringerung der Abhängigkeit von ausländischen Einflüssen und die Legitimität der Repräsentanz der Gläubigen. Auf die Differenziertheit des Islam ist bei diesen Punkten Rücksicht zu nehmen. Im Übrigen sind die institutionellen Hürden für die Bildung einer islamischen Religionsgemeinschaft (und daran anknüpfend für die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts) auch durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gesenkt worden, um der besonderen institutionellen Struktur der muslimischen Gemeinschaften entgegenzukommen. Nachdem von staatlicher Seite danach eine institutionelle Öffnung erfolgt ist, sind aus Sicht des SVR nun vor allem die muslimischen Akteure gefordert, zur (weiteren) Institutionalisierung des Islam in Deutschland organisatorisch ihren Beitrag zu leisten.

Die im Jahresgutachten dargestellten Organisations- und Repräsentationsdefizite offenbaren sich auch bei einem zentralen Erfolgsprojekt der deutschen Islampolitik der letzten Jahre: dem Auf- und Ausbau islamischer Theologie an deutschen Hochschulen. Der SVR teilt an dieser Stelle ausdrücklich die u.a. von verschiedenen islamischen Hochschullehrern artikulierte Kritik an der Haltung der Verbände zu den inhaltlich-theologischen und personellen Fragen bei der Besetzung entsprechender Lehrstühle und eines zu großen Verbandseinflusses. Eine kritische Reflexion und Analyse auch von Glaubensinhalten muss als fester Bestandteil von Theologie als bekenntnisgebundener Wissenschaft auf Seiten aller Glaubensgemeinschaften akzeptiert werden.
 

SVR erteilt religiös motivierten Unterrichtsbefreiungen klare Absage
Im Bildungsbereich sind dem religionsrechtlichen Pluralismus zu Recht Grenzen gesetzt. Wünsche von Eltern verschiedener Religionsgemeinschaften nach Befreiung von Sport-, Schwimm- oder Biologieunterricht sind nach Auffassung des SVR grundsätzlich abzulehnen. "Die Teilnahme an der 'Veranstaltung Schule' ist ein wichtiger Beitrag dazu, die individuelle Entwicklung des Kindes zu fördern, eine demokratische Gemeinschaft zu bilden und gemeinsame Werte zu stärken", sagte Langenfeld. Der SVR unterstützt den Weg, religiös motivierte Ausnahmeregelungen im schulischen Bereich abzulehnen. Hier gilt ein klarer Vorrang der Schulbesuchspflicht.
 

Diskriminierung im Namen des Herrn? Kirchliches Arbeitsrecht in einer (immer) säkular(er)en Arbeitswelt
Die religiöse Pluralisierung des öffentlichen Lebens ist allerdings nur eine Hälfte des erwähnten gesellschaftlichen Doppeltrends. Neben einer zunehmenden Ausdifferenzierung religiöser Überzeugungen und Weltanschauungen hat sich auch die Zahl derjenigen, die nicht an Gott glauben oder ihren Glauben ohne Anbindung an eine Religionsgemeinschaft leben, in den letzten Jahren stark erhöht. Deutschland ist damit säkularer geworden, mit entsprechenden Herausforderungen besonders für die etablierten christlichen Kirchen. Exemplarisch sichtbar wird dies im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts, das dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gegenüber individuellen Freiheitsrechten von Arbeitnehmern grundsätzlich den Vorrang einräumt. Der sonst im Arbeitsleben geltende Grundsatz "Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps" gilt nicht für Arbeitnehmer, die bei kirchlichen Trägern beschäftigt sind, insbesondere wenn sie selbst kirchlich gebunden sind. Diese verfassungsrechtlich abgesicherte starke Stellung kirchlicher Träger als Arbeitgeber wird unter den Bedingungen gesellschaftlicher Säkularisierung immer erklärungs- und legitimationsbedürftiger. Die Entlassung einer katholischen leitenden Ärztin seitens eines katholischen Klinikums aufgrund Scheidung und Wiederverheiratung stößt ebenso immer weniger auf Verständnis wie ein angesichts einer voranschreitenden Institutionalisierung des Islam in Zukunft durchaus nicht unwahrscheinliches Szenario: danach müsste eine muslimische und in einem Pflegeheim in muslimischer Trägerschaft beschäftigte Pflegedienstleiterin, die außerhalb des Dienstes ihr Kopftuch ablegt, mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen, sofern der muslimische Träger ein derartiges Verständnis des islamischen Kopftuches teilt. Der SVR fordert vor diesem Hintergrund ein maßvolles institutionelles Agieren der Religionsgemeinschaften und hier vor allem der christlichen Kirchen.
 

Die Rolle der Religion bei der Integration von Zugewanderten wird überschätzt
Was auch bemerkenswert ist: Der Zusammenhang von Religion und individueller Integration wird in der öffentlichen Debatte ‚doppelt überschätzt‘. Es liegen keine belastbaren wissenschaftlichen Belege dafür vor, dass individuelle Religiosität bzw. Religion grundsätzlich die Teilhabe an Bildung und am Arbeitsmarkt erschwert. Zum anderen zeigt die empirische Forschung, dass Unterschiede im Integrationserfolg zwischen verschiedenen religiösen Gruppen nicht in erster Linie auf die Religionszugehörigkeit zurückzuführen sind. Der zentrale Erklärungsfaktor für Erfolg oder Misserfolg im Bildungssystem – und darüber vermittelt auch am Arbeitsmarkt – ist und bleibt der soziale Hintergrund.
 

SVR-Integrationsbarometer 2016 zeigt ambivalente Einstellung zum Islam
Während Staat und Religionsverfassungsrecht sich offen zeigen für die institutionelle Integration des Islam, belegen die Befragungsergebnisse des SVR-Integrationsbarometers 2016 zur Akzeptanz des Islam ein insgesamt ambivalentes Bild: Auf Zustimmung stößt eine institutionelle Gleichstellung, beispielsweise beim islamischen Religionsunterricht. 65,0 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund befürworten islamischen Religionsunterricht als wählbares Unterrichtsfach an Schulen. Mehrheitlich akzeptiert wird auch ein Moscheebau in der Nachbarschaft. Ein ambivalentes Bild zeigt sich jedoch bei der abstrakten Frage, ob der Islam ein Teil Deutschlands ist. Eine (knappe) Mehrheit der Befragten ohne Migrationshintergrund (53,1 Prozent) verneint dies und stimmt der Aussage „gar nicht“ oder „eher nicht“ zu. Eine starke Minderheit von 46,9 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund stimmt der Aussage hingegen "voll und ganz" oder "eher" zu. Bei den Befragten mit türkischem Migrationshintergrund liegen die zustimmenden Werte mit 71,4 Prozent am höchsten. Dagegen sind nur 44,6 Prozent der (Spät-)Aussiedler der Ansicht, der Islam gehöre zu Deutschland. Zwischen den einzelnen Herkunftsgruppen zeigen sich also deutliche Differenzen in der Bewertung.
 

Integrationsbarometer zeigt anhaltend stabiles Integrationsklima
Für das SVR-Integrationsbarometer 2016 wurden zwischen März und August 2015 insgesamt 5.396 Personen mit und ohne Migrationshintergrund befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für Deutschland und für die verschiedenen Herkunftsgruppen. Aufgrund der umfassenden Stichprobe von Zuwanderern können auch die Einschätzungen verschiedener Herkunftsgruppen ermittelt werden. Zentraler Inhalt des Integrationsbarometers ist die Messung des Integrationsklimas. Dabei wird nach dem 'Funktionieren' der Einwanderungsgesellschaft in den Bereichen Nachbarschaft, Arbeitsmarkt, soziale Beziehungen und Bildung gefragt. Das Ergebnis: Das Integrationsklima in Deutschland wird von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund deutschlandweit weiterhin als weitgehend freundlich bewertet. Das Ergebnis entspricht der Schulnote "gut". "Das zeigt, dass der Integrationsprozess auf einer stabilen Grundlage steht", sagte die SVR-Vorsitzende. Es zeige sich aber auch, dass die Wahrnehmung des Integrationsklimas umso optimistischer ausfällt, je besser die eigene ökonomische Situation beurteilt wird. Deutlich werde zudem: "Häufige soziale Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte wirken sich positiv auf die Einschätzung des Integrationsklimas aus – wer hingegen kaum mit Zuwanderern zu tun hat, ist skeptischer."

Für das Integrationsbarometer wurde auch gefragt, welche Aspekte für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft in Deutschland als entscheidend eingeschätzt werden. Das Ergebnis ist überraschend: Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft wird weit weniger als man annehmen könnte an exklusive Kriterien wie die Geburt in Deutschland, deutsche Vorfahren oder auch die Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft geknüpft, sondern eher an die deutsche Staatsangehörigkeit. Das allerwichtigste Kriterium für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft ist jedoch gruppenübergreifend ein fester Arbeitsplatz. Wahrgenommene Integration durch Leistung gilt offensichtlich auch für die zugewanderte Bevölkerung.
 

Migration und Entwicklung: Gefragt ist ein klug konzipiertes Migrationsmanagement
Der diesjährige Sonderteil des SVR-Jahresgutachtens geht der Frage nach, wie sich die von der EU angestrebte stärkere Verknüpfung von Migrations- und Entwicklungsfragen entwickelt hat. Dabei zeigt sich, dass auf EU-Ebene nach wie vor die Voraussetzungen einer kohärenten Migrations- und Entwicklungspolitik fehlen – obwohl diese für die viel beschworene Bekämpfung von Fluchtursachen essentiell ist. Zwar sollten die entwicklungspolitischen Potenziale von Arbeitsmigration aus Sicht des SVR nicht überschätzt werden, dennoch ist ein klug konzipiertes Migrationsmanagement, bei dem außen-, arbeitsmarkt- und entwicklungspolitische Überlegungen ineinandergreifen, notwendiger denn je. Daher sollten Mobilitätspartnerschaften von EU-Mitgliedstaaten, die projektbezogen legale Migrationswege eröffnen, ausgebaut werden, damit dieses vielversprechende Instrument langfristig zur Entwicklung der Herkunftsländer beitragen kann.

 

Über den Sachverständigenrat

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration geht auf eine Initiative der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung zurück. Ihr gehören sieben Stiftungen an. Neben der Stiftung Mercator und der VolkswagenStiftung sind dies: Bertelsmann Stiftung, Freudenberg Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und Vodafone Stiftung Deutschland. Der Sachverständigenrat ist ein unabhängiges und gemeinnütziges Beobachtungs-, Bewertungs- und Beratungsgremium, das zu integrations- und migrationspolitischen Themen Stellung bezieht und handlungsorientierte Politikberatung anbietet. Die Ergebnisse seiner Arbeit werden in einem Jahresgutachten veröffentlicht.

Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Christine Langenfeld (Vorsitzende), Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan (Stellvertretender Vorsitzender) sowie Prof. Dr. Gianni D’Amato, Prof. Dr. Thomas K. Bauer, Prof. Dr. Petra Bendel (seit 2016), Prof. Dr. Wilfried Bos, Prof. Dr. Claudia Diehl, Prof. Dr. Heinz Faßmann, Prof. Dr. Christian Joppke sowie Prof. Dr. Ludger Pries (bis 2016).

Pressekontakt

Peggy Groß (Foto: Marcel Schwickerath)
Peggy Groß (Foto: Marcel Schwickerath)
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Peggy Groß

ist Pressesprecherin des Stifterverbandes.

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Ansprechpartnerin beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration:

Dorothee Winden
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