Aufholen ist schneller laufen als der Erste

Illustration Lauf im Stadion
Illustration: Jens Bonnke
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Wir degradieren uns zu bloßen Zuschauern allgemeiner Zukunftswege und üben uns lustvoll als Kritiker oder Kommentator, wenn sich jemand tatkräftig um Zukunft bemüht. Jeden Tag ereifern wir uns über das brandneue Problem des Tages. Das eint uns für jeweils heute, gibt aber keinen Schub für morgen. 

Wir ducken uns vor Corona; hoffentlich geht uns das persönlich nichts an. Mitten in die kommende Welle, die nach den letztjährigen Erfahrungen im Oktober droht, werden wir gerade jetzt mental zwei, drei Wochen durch die Berichterstattung über eine Flutkatastrophe entlastet. Wir vergessen Corona, vergessen die jetzt notwendige Digitalisierung der Schulen und der Bildung insgesamt und starren auf Trümmerberge. Wir bedauern die Leidenden und vergessen dabei ganz und gar, dass wir während des sonst untätigen Zuschauens alle zusammen aktiv dem Klimawandel zuarbeiten. 
Wir sitzen da und schauen.

Seit Jahren twittere ich über Klima, Wasserstoff und Tesla. 

  • „Tesla ist nichts!“ (2015) 
  • „Tesla macht schlechte Autos!“ (2017) 
  • „Tesla macht keine Gewinne!“ (bis 2019) 
  • „Tesla macht zwar mitten in der Corona-Krise Gewinne, aber nur durch Verkauf von CO2-Zertifikaten! Schaumschläger Musk!“ (2020) 
  • „Tesla macht mehr als eine Milliarde Dollar Quartalsgewinn, diesmal hauptsächlich mit Autos.“ (2021) 

Das ging schnell, merkt man das? Von „kann nichts“ bis „Milliardenprofit“ in sechs Jahren? 

Und weiter? Dasselbe mit SpaceX gegen Ariane, mit US-Clouds versus Gaia-X. Heute erzürnen wir uns (absolut zu Recht, das finde ich auch) über den Beginn des Weltraumtourismus für Leute, denen das Geld aus den Ohren quillt. Da fällt mir aber gleichzeitig auch das nie bewohnte Neuschwanstein ein, das wir gerne als Weltkulturerbe zertifiziert sähen; das war damals teurer als die Raketen. Ich will sagen: Die jeweilige Zukunft gebiert auch Mieses. Aber wir machen beim Zuschauen alles mies, nicht nur das, was wirklich mies ist.

Alles technologisch Neue, das wir heranrollen sehen, verteufeln wir und reden es klein. Aber es kommt ein Zeitpunkt, an dem es an uns vorüberrollt und uns vielleicht sogar überrollt. Wir glauben dabei stets, noch im Driver-Seat zu sitzen und die Besten zu sein. Neulich bekam ich dazu einen bemerkenswerten Kommentar; es ging in ihm um zwei vermeintlich unumstößliche Wahrheiten, die sich widersprechen. 

Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
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Direct Dueck

Gunter Dueck besitzt die Gabe, einen in innere Jubelstürme ausbrechen zu lassen. Das gelingt ihm, wenn man ihn als Vortragenden auf der Bühne erlebt, aber auch mit seinen Texten und Büchern, mit seinen Interviews. Er schafft es auf ganz außergewöhnliche Weise die Dinge auf den Punkt zu bringen: Oft schleicht er sich erst an ein Thema heran, um dann umso hartnäckiger ein Problem herauszuarbeiten. Seine Thesen trägt er zumeist ruhig und gelassen vor, und doch sind sie oft – das merkt man manchmal erst später – messerscharfe Fallbeile. Dann erheben sich – siehe oben – die inneren Jubelstürme. Und oft jubeln ihm die Menschen nicht nur innerlich zu: Auf großen Tagungen wie der re:publica ist er ein unumstrittener Star. Umso schöner, dass er das MERTON-Magazin mit einer regelmäßigen Kolumne bereichert. Er nennt sie „Direct Dueck“, was auf ein paar schöne scharfe Fallbeile in Textform hoffen lässt. 

Alle MERTON-Kolumnen von Gunter Dueck

„Alles technologisch Neue, das wir heranrollen sehen, verteufeln wir und reden es klein. Aber es kommt ein Zeitpunkt, an dem es an uns vorüberrollt und uns vielleicht sogar überrollt. Wir glauben dabei stets, noch im Driver-Seat zu sitzen und die Besten zu sein.“

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Gunter Dueck (Foto: Michael Herdlein)
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Gunter Dueck
Mathematiker und Autor

Mit Holzschwertern gegen Cyberangriffe

Erstens: Deutschland hat seit Menschengedenken die beste Verwaltung eines vorbildlichen Beamtentums und ragt dadurch in der ganzen Welt hervor. Zweitens: Bei Corona klappt rund um Masken, Impfen und QR-Codes eigentlich gar nichts. Letzteres kann unmöglich sein, weil unsere Exekutive die Weltbeste ist. Der Kommentator konnte diesen Widerspruch nur so auflösen, dass es geheime Eliten erfolgreich darauf anlegen, in unserem Lande Chaos und Zwietracht zu erzeugen. 

Das Interessante an dieser Meinung ist die bemerkenswerte Tatsache, dass ein Versagen Deutschlands nicht einmal im Traum als mögliche These geprüft wird. Das verwundert, aber ich möchte daran erinnern, dass wir als Kollektiv überzeugt sind, das beste Bildungswesen, die beste Administration, das beste Gesundheitswesen, das beste Rechtswesen, die beste Grundlagenforschung, die beste Autoindustrie et cetera in Deutschland zu haben. Diese Sichtweisen scheinen in Stein gemeißelt, es gibt sogar noch Bundesbürger oder wenigstens „Elitesoldaten“, die die Bundeswehr für überragend halten, wenn sie mit immer weniger noch funktionierenden Panzern und wahrscheinlich mit Holzschwertern gegen Cyberangriffe vorgehen wird. 

Lange Zeit als Schaumschläger diffamiert: Der US-Multiunternehmer Elon Musk.
Elon Musk als Schaumschläger
Illustration: Jens Bonnke
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Wann, bitte, setzt eine neue Leistungsbereitschaft ein? Wenn ein Einserschüler auf eine Zwei abrutscht, könnte er sich besinnen – oder auch nicht. Wenn er anschließend auf Befriedigend sinkt, mag er denken, dass nicht mehr alle Studiengänge für ihn erreichbar sind. Er könnte sich aufraffen, oder auch nicht, und dabei die Einserschüler zu verachten beginnen. Wenn er auf Ausreichend abrutscht, kann er trotzig auf „immerhin ist es ausreichend, wie das Wort schon sagt“ pochen – oder umkehren. Wenn nun ein Mangelhaft droht und sich Nachhilfen die Klinke in die Hand geben – ändert er nun die Richtung? Die Erfahrung mit solchen Schülern sagt: Nein. Und aus meiner eigenen Zeit als Prof kann ich nur Trübes berichten: Die Abgehängten kehren nicht um. 

Dabei – und jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinarbeite – geht es nicht einfach um Umkehr. Absolut nüchterne (mathematische) Logik besagt: „Wer zur Spitze aufschließen will, muss eine Zeit lang schneller laufen als die Führenden.“

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Der Wille dazu ist hier nirgends zu sehen. Politiker-Blabla: „Es ist ja nun nicht so, dass es gar nicht vorangeht. Vergleichen Sie den jetzigen Zustand mit dem vor Jahren. Vieles ist geglückt. Während ich auf meinem Amtssessel verharrte, sind etliche Fortschritte erzielt worden, die ich mir zurechne. Lassen Sie uns nicht alles kleinreden und uns demotivieren. Es geht überall voran, weil wir tüchtig sind und langsam auch vorankommen.“ Dieses ärgerliche Blabla sagt: „Wir laufen zwar hinterher, auch langsamer als die da vorne, aber wir laufen doch immerhin.“ Diese naive Vorstellung kommt offenbar beim Volk als „Befriedigend“ an. Es bedeutet aber, oh Volk: Sechs, setzen. 

 

Warum sind wir so irre? Vielleicht denkt unser Kollektiv so: Beim Marathon braucht der Erste zwei Stunden, der Letzte eben vier Stunden, aber auch das ist achtbar. So ist es dann bei jedem Marathon: Der Erste siegt in zwei Stunden, der Achtbare schafft die Strecke in vier. Hut ab vor beiden. Im wirklichen Leben laufen wir aber keinen 42-Kilometer-Marathon, sondern einen unendlichen Lauf in die Zukunft. Und da verliert Deutschland alle vier Stunden zwei auf die Führenden, unzählig oft zwei. 

Wenn das nicht verständlich ist: Die Entwicklungsländer schließen deshalb nicht gegenüber Deutschland auf (was wir doch hoffend anstreben), weil sie langsamer vorankommen als wir in Deutschland. Sie laufen noch langsamer als wir. Daher „öffnet sich die Schere“ zwischen den armen Ländern und uns. Das versteht jeder.

Aber wir sehen schon länger nicht mehr beunruhigt, was uns enteilt. Die Führenden sind schon zu weit voraus.

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