Klaus findet „natürlich“ etwas „schlimm“, Gerda schreibt dazu „LOL“ und Sibylle empört sich darüber. Wer kennt es nicht, das Gefühl schlechter Laune, die einen bei Diskussionen im Internet überkommt, weil alles so aufgeregt, so negativ und zumeist auch sehr vergänglich ist? In meiner Timeline jedenfalls ist fast jeden Tag etwas anderes los und niemand kann sich mehr erinnern, worum es im letzten Monat ging. Hinzu kommen Phänomene wie sogenannte Shitstorms (der international üblichere „Firestorm“ ist vorzugswürdig, weil er nicht von vornherein so stark verurteilt) und sogenannte Hasskommentare (auch dieser Begriff zieht die Grenze beim Hassen/Nicht-Hassen, obwohl die Sprache doch viel treffendere Wörter wie Schmähkritik, Menschenfeindlichkeit, Wut, Ärger, Vernichtungswille und andere hat), zwei Extrembegriffe, die paradoxerweise gerade von klassischen Medienakteuren gern verallgemeinernd auf die Internetkommunikation als Ganze gerichtet werden. Und wer nun meint, der Hass sei ein Unterschichtenphänomen, der lerne nur die vernichtende Kritik Intellektueller kennen, die sie mit sprachlichen Mitteln ausdrücken: Zwischen „ein Phantasma“ und „Du Spinner“ ist kein so großer Unterschied. Das Florett erzeugt die gleichen Ergebnisse wie die Axt – und trifft noch präziser dabei.
Es fehlt eine systematische Phänomenologie
Wie rau das Klima im Internet wirklich ist, hat noch niemand vermessen. Das Besserwisser-Klima in Online-Ablegern der Printmedien ist wohl vor allem ein Altersphänomen politisierender Männer mit Führungsambitionen: Man(n) zieht in die Schlacht, um öffentlich den Kampf aufzunehmen und den Sieg nach Hause zu tragen. Im Internet als Ganzem reicht die Vielfalt negativer menschlicher Verhaltensweisen von banalem Genörgel über scharfe Diskussionen bis hin zu verbalen Angriffen mit Vernichtungswillen – gut einzugrenzen und zu ordnen ist es aber nicht. Und den alten Besserwissern steht der Flausch der Kochcommunitys gegenüber. Handelt es sich womöglich um dieselben Menschen in verschiedenen Modi? Postet der gemeine SpOn-Forist womöglich auf Facebook Katzenfotos? So eine Persona hat ja doch Facetten. Eine Phänomenologie der Kritik im Internet müsste dringend geschrieben werden, liefe aber wohl auf eine Situations- und Typenlehre hinaus, die vollständig nie gelingen kann.
Kritik als Kategorie der Schlechte-Laune-Phänomene
Auffällig ist aber, dass jeder jeden kritisiert und das gern und ohne Unterlass. Viele führen dieses Phänomen auf gewohnte Unterhaltungsmuster, auf soziale Erregungsmechanismen, bestimmte dominierende Personengruppen, vorherrschende oder nicht-vorherrschende Meinungen, Anonymität und Nicht-Haftung oder schlicht auf einen Mangel an Bildung zurück.
Das Medium bewirkt Kritik
Könnte es nicht aber auch sein, dass die neue Form eine Rolle für ihren Inhalt spielt, ganz nach dem Leitsatz von Marshall McLuhan „the medium is the message“ (McLuhan “The Medium is the Message” org.1967, hier 2001)? Erst das Internet ermöglicht, was vorher nicht ging. Menschen, die vorher mündlich kritisierten, kritisieren nun schriftlich – eine Trivialität?
Was die „Publikation“ seit Erfindung des Buchdruckes ausmachte, hat zur Ent-Persönlichung der Debatten durch Schriften geführt, zu einer gewissen Distanz zum Gegenstand und zu einer gewissen Objektivierung und Präzision. Gleichzeitig sind mit dem Buch gut sichtbare, nachlesbare Solitäre und nachvollziehbare Großdiskurse entstanden, „der Luhmann“ bezieht sich auf „den Habermas“, der sich auf „Das Kapital“ bezieht – im Vergleich zu den früheren, oralen Kulturen ist da eine Historisierung, die Vergangenheit wurde zugänglich, Linien wurden sichtbar. Die Publikation mit all ihren kulturellen Handlungen (Schreibvorbereitung, Schreibprozess, Lektorat, Erscheinungstermin, Erstveröffentlichung, Rezensionen, Lesungen, Auflagen etc.) dominiert bis heute, innovative Onliner wissen davon ein Lied zu singen. Eine Verschiebung von den Gewohnheiten des Publizierens hin zu prozesshaften, „liquiden“ Formen, geschieht nur sehr langsam: Ein Text muss bis heute „sitzen“, für sich stehen, geschlossen sein, Antworten geben statt Fragen stellen – ein Verständnis von Führung, das in der Wirtschaft wenigstens theoretisch längst durch kooperative und partizipative Elemente ersetzt ist.
Social Media beschleunigt Schriftkultur
Seit Social Media unterliegt zum einen die Alltagskommunikation der Schriftlichkeit, zum anderen wird aber auch die Kultur des Publizierens verändert:
- Ein öffentlicher Kommentarraum am Text ist tatsächlich eine Novität und mit Marginalien am Buchrand nicht zu verwechseln, die Leser nur für sich nutzten. Im Verhältnis zur Kultur der Lesegesellschaften wechselt der Modus – pointiert gesagt – von halböffentlich zu öffentlich, von persönlich zu unpersönlich, von geplant zu ungeplant, von moderiert zu mehr oder weniger unmoderiert.
- Äußerungen sind nicht mehr flüchtig, sondern haben im Internet eine grundsätzlich (zu den Grenzen siehe hier) permanente Adresse (URL) und sie sind grundsätzlich noch besser auffindbar als es ein Buch im Regal einer Bibliothek jemals sein konnte. Neuerdings verweisen sogar Massenmedien auf Facebook-Postings von Celebrities und Personen des öffentlichen Lebens (aktuell zum Beispiel auf Böhmermanns und auf Volker Becks Profil).
- Jeder Posting-Autor ist jederzeit von jedermann adressierbar. Zusätzlich klingeln bei ihm „Mentions“ mit „Notifications“.
- Likes, Retweets, Emoticons und gewisse kulturell entwickelte Zeichen („+1“, „So true“) verstärken nicht nur positive, sondern auch negative Resonanz.
In Konsequenz fördern Social-Media-Plattformen die Nutzeraktivität aus eigennützigen wirtschaftlichen Gründen ganz bewusst, indem sie neue, vordefinierte Formate für effiziente, schnelle und pointierte Kritik bereitstellen, die im Netz kulturell gern angenommen und ausgebaut werden. Wir haben es also im Vergleich zur Printwelt mit einer Verschärfung der Situation zu tun. Wenn der Buchdruck ermöglicht hat, dass Kirche und Könige durch Kritik ihre Stellung verloren, kann Social Media weitere Institutionen der Gesellschaft schleifen.