Frau Koederitz, das Jahr 1934 war für IBM ein ganz besonderes Jahr …
… Sie meinen die Regelung, dass Männer und Frauen das gleiche Gehalt beziehen? Die hat unser Gründer Thomas J. Watson aufgestellt, und heute würde man sagen: Es war unser Grundbekenntnis zu Gleichberechtigung und Diversity.
Wie bedeutsam ist dieses Bekenntnis heute für das Unternehmen?
Ich war ja 1934 nicht dabei, aber aus heutiger Sicht hat diese Regelung eine andere Leichtigkeit, eine andere Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander gebracht. Die offene Kultur bei IBM ist sicherlich einer der Gründe, warum wir schon so lange erfolgreich sind.
„Das Thema Wissen hat heute einen ganz neuen Stellenwert“

Nun schreiben sich heute fast alle Firmen das Thema Diversity auf ihre Fahnen. Ist das einstige Problem der mangelnden Gleichbehandlung damit nicht gelöst?
Nun, schauen wir mal auf die Perspektive der Unternehmen. Für die meisten stellt sich nach wie vor die gleiche Frage: Wie gewinne ich als Arbeitgeber die richtigen Talente? Und die ist natürlich völlig unabhängig davon, ob es um Männer oder Frauen geht. Wir bei IBM wollen im Unternehmen den Markt abbilden, in dem wir agieren – und ich bin mir sicher, dass sich unsere Erkenntnis auf andere Unternehmen übertragen lässt: Interdisziplinäre Teams – auch was Nationalitäten, Generationen, Professionen und Religionen betrifft – entwickeln aller Erfahrung nach kreativere und innovativere Ergebnisse.
Ist das eine einfache Gleichung: Leute mit unterschiedlichem Hintergrund gleich Innovation?
Wenn wir mit ausländischen Kollegen arbeiten, führt das zu anderen Ergebnissen, als wenn wir ein Team aus dem Raum München, Stuttgart und Münster aufstellen. Denn jedes Teammitglied bringt seine Erfahrungen und seinen Background mit ein. Das zeigt sich auch in der unterschiedlichen Art, wie Aufgabenstellungen angegangen und gelöst werden.
Fällt Ihnen ein Beispiel dafür ein?
Wir sehen das jeden Tag in unserer Arbeit. Der Einzelne bringt niemals die Breite an erforderlichen Kompetenzen mit, um die heute sehr komplexen Aufgaben in alle Richtungen zu durchdenken. So haben wir im Rahmen der Olympischen Spiele am Rio Operation Center mitgearbeitet. Es ermöglicht, Millionen von Besuchern intelligent durch die Stadt zu führen und alle Beteiligten von den Verkehrsbetrieben über die Polizei bis hin zu den Krankenhäusern miteinander zu vernetzen. Daran wird deutlich, wie viele verschiedene Perspektiven man heute verbinden muss, um ein Gesamtbild zu bekommen, und wie breit die entsprechende Expertise und Erfahrung im Team sein muss.
„Der Einzelne bringt niemals die Breite an Kompetenzen mit, um die sehr komplexen Aufgaben zu durchdenken.“

Das stellt große Anforderungen nicht nur an die Arbeitgeber, sondern auch an die Mitarbeiter, oder?
Ja, im Zuge des heutigen technologischen Umbruchs verändern sich Berufsbilder. Einige der klassischen Professionen der Vergangenheit wird es vielleicht künftig nicht mehr geben, dafür brauchen wir neue Berufsbilder: Solution Consultants, Cloud-Architekten, Data Scientists, Business Analysts – kurzum Menschen, die an der Schnittstelle von Business und IT arbeiten. Das hängt schlicht damit zusammen, dass sich die Fragestellungen ändern. Früher wollte man vielleicht wissen, wie man erfolgreich ein Rechenzentrum betreibt. Heute lautet die Frage: Wie können wir Technologien einsetzen, um unser Geschäftsmodell erfolgreich zu machen?
Was heißt das konkret für die Mitarbeiter?
Im Rahmen unserer flexiblen Arbeitszeitmodelle haben Mitarbeiter den Freiraum, ihre Zeit flexibel zu gestalten. Diese Freiheit geht auch mit der Verantwortung für das eigene Lernen und die Skillsentwicklung einher: Unsere Arbeit besteht zum überwiegenden Teil aus Wissens- und Denkarbeit und definiert sich danach, welches Ergebnis am Ende herauskommen soll, nicht nach Prozess- und Arbeitsschritten. Und das erfordert stetig neue Kenntnisse und Fähigkeiten, die der Mitarbeiter sich eigenständig aneignen muss.
Sind die Bewerber von heute besser auf diese Kultur vorbereitet als früher?
Ich mache eine interessante Beobachtung: Heute sind Bewerber es gewohnt, anders zu kommunizieren und zu arbeiten, und sie gehen auch mit Informationen anders um. Das Thema Wissen hat einen neuen Stellenwert: Vor zwanzig Jahren haben viele ihr Wissen gut verschlossen, es war ihr Kapital, das sie nicht freiwillig herausgerückt haben. Heute ist die Bereitschaft viel größer, Wissen mit Kollegen zu teilen – und das macht Teams viel schneller produktiv. Dies ändert die Art und Weise, wie Menschen an eine Aufgabe herangehen. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sie in ihrem Studium erfahren haben: Was ich im ersten Semester lerne, ist am Ende meines Studiumsvielleicht längst überholt. So rasant sind die Entwicklungen heute geworden.
Sie beschreiben den Wandel der Arbeitswelt. Warum gilt diese neue Offenheit nicht auch beim Zugang zum Beruf? Vielfach ist ja ein abgeschlossenes Studium die formale Zugangsvoraussetzung für eine Stelle.
Sie dürfen nicht übersehen, dass sich die Inhalte der Studiengänge gravierend geändert haben! Ich bin zum Beispiel stolz darauf, dass wir zusammen mit der Dualen Hochschule in Stuttgart einen Studiengang Industrie 4.0 haben. Oder mit der Hochschule Reutlingen ein Masterprogramm Strategic Sales Management. Das zeigt: Es geht auch an Hochschulen darum, neue Inhalte aufzunehmen und sie neu zu priorisieren.
Dann schauen wir doch auf das Bildungssystem unterhalb der Hochschulen: Wie können unsere Schulen Anschluss finden an den technischen Wandel?
Bei dem Thema ziehen zu viele Akteure nicht am selben Strang. Wir sollten uns die Frage stellen: Was ist unser Anspruch für Deutschland? Wir stehen im internationalen Wettbewerb – wir können uns keine innerdeutschen Differenzen mehr leisten. Und mit Blick auf die Inhalte wünsche ich mir, dass digitale, mediale sowie IT-Kompetenz in jedem Lehrplan so früh wie möglich verankert wird.
Wie geht es Ihrer Meinung nach weiter mit dem Thema Diversity?
Ich denke nicht darüber nach, was in fünf oder zehn Jahren erreicht sein wird. Ich liebe Veränderungen, und ich liebe es, sie mitzugestalten. Als ich bei IBM anfing, lagen Rechenzentren irgendwo versteckt, und nur der IT-Direktor hatte Zugang. Heute trägt jeder von uns in seiner Handtasche mehr Rechenleistung mit sich, als damals der IT-Direktor verwaltet hat. Hätte irgendjemand diesen Fortschritt für möglich gehalten? Ich finde, der Weg ist das Ziel, und das gilt auch für das Thema der Vielfalt. Deshalb unterstütze ich bei uns im Unternehmen auch ein Mentoringprogramm für Männer.
Worum geht es darin?
Ich bin es leid, dass Frauenförderung nur über Frauen läuft. Der Knackpunkt ist nicht, dass Frauen weniger talentiert sind als Männer, sondern dass sie immer noch diejenigen sind, die wegen der Familienfrage kürzertreten. Deshalb will ich Männer dazu motivieren, neue Arbeitszeitmodelle zu nutzen, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.
Müssen das nicht eher die Partner unter sich ausmachen?
Natürlich steht mir nicht zu, mich in eine Partnerschaft einzumischen. Ich signalisiere aber meinen Mitarbeitern, dass ich es voll unterstütze, wenn auch Männer Erziehungszeit nehmen. Hier gilt es nach wie vor Vorurteile abzubauen.
 [Berlin - Humboldt Universität](https://www.flickr.com/photos/20792787@N00/5017400532/) [CC BY-NC-ND 2.0](https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/) image](/sites/default/files/styles/780x440/public/humboldt_5017400532_a369b27bca_o_16_9.jpg?itok=9DU4wLTu)