Genau an dieser Stelle setzt die Johannes Gutenberg-Universität Mainz an. „Für uns geht es nicht nur um einen Nachteilsausgleich, indem wir bestimmte Studierende fördern“, sagt Georg Krausch, der Unipräsident. „Wir möchten den Reichtum, den wir durch die Vielfalt haben, zum Tragen bringen.“ Dass das nicht nur eine Floskel ist, erkennen Besucher schon auf dem Weg zu Krauschs Büro. Die langen Flure sind gesäumt von Fotos vieler Universitätsmitglieder: Da ist die Biologiestudentin, die in der Feldhockey-Bundesliga spielt, der Medizinprofessor mit einem Faible für hochalpines Bergsteigen, die Sekretärin, die seit Jahrzehnten im Urlaub per Motorrad durch Afrika tourt, der Mann aus der Verwaltung, der als Experte für geistliche Musik renommierte Chöre leitet, und die Linguistikstudentin, die dreißig Sprachen spricht. „Das ist der Reichtum, von dem wir ohne Frage profitieren“, sagt Krausch. Mit ihm im Büro sitzt Mechthild Dreyer, die Vizepräsidentin für Studium und Lehre – beide gemeinsam haben das Thema zur Chefsache gemacht. Auch das ist eine Mainzer Besonderheit: Die chancengerechte Bildung ist direkt am Präsidium angesiedelt und nicht irgendwo in der verästelten Verwaltungsstruktur. „Wir wissen aber natürlich, dass es lange dauert, bis solche neuen Gedanken überall an der Uni etabliert sind“, sagt Krausch. Eine Mainzer Besonderheit soll helfen, diesen Prozess zu beschleunigen: Werden neue Professoren berufen, verpflichten sie sich in ihrem Arbeitsvertrag, an hochschuldidaktischen Veranstaltungen teilzunehmen – und auf diesen Fortbildungen geht es häufig um das Thema der Chancengerechtigkeit in der Lehre. Die neuen Professoren werden damit, so die Hoffnung, quasi in der Wolle gefärbt.
Konstantin Wacker ist allein schon wegen seiner bisherigen Laufbahn von einem offenen Zugang zum Lernen überzeugt. Der Juniorprofessor lehrt vor allem im Masterprogramm International Economics and Public Policy. In Wien, Alicante, Göttingen und Peking hat Wacker studiert, arbeitete dann zwei Jahre bei der Weltbank in den USA und kam schließlich als Professor nach Mainz. „Und da stehe ich jetzt vor den Studierenden und stelle fest: Sie haben verschiedene Bachelor- Studiengänge absolviert, und sie kommen von fast allen Kontinenten – da muss man sich allein schon deshalb auf einen unterschiedlichen Wissensstand einstellen.“ Ein Seminar über multinationale Konzerne etwa: Wer einen volkswirtschaftlichen Hintergrund hat, fragt nach deren Bedeutung für die Wirtschaft; wer aus dem Bereich des Accounting kommt, sieht vor allem Aspekte wie das interne Verrechnungssystem, der Marketingabsolvent konzentriert sich auf die marktspezifische Werbung in verschiedenen Ländern. Und das alles wird diskutiert von Studierenden, die aus Lateinamerika kommen, aus Asien oder Europa und dort jeweils eigene Erfahrungen gesammelt haben. „Ich löse das, indem ich die Studierenden viel in Gruppen arbeiten lasse – da treffen die verschiedenen Perspektiven sehr konstruktiv aufeinander“, hat Wacker festgestellt. Besonders aufschlussreich, sagt er, sei die Übung, die er „one-minute-paper“ nennt: Am Ende jeder dritten Vorlesung bittet er die Studierenden, in Stichworten zu notieren, was ihrer Meinung nach die zentralen Punkte des gegenwärtigen Themas sind – und an welcher Stelle sie Probleme haben, der Vorlesung zu folgen. „Es ist unglaublich, wie stark da die Antworten auseinanderliegen“, bilanziert er: „Davon kann ich ausgesprochen viel lernen.“ Und dann schiebt er einen Satz hinterher, der zentral ist für das Thema: Er selbst sei ja erst Mitte dreißig, seine eigene Studienzeit liege also noch nicht allzu lange zurück – „aber wenn ich heute in den Hörsaal schaue, sehe ich eine ganz andere, viel heterogenere Studierendenschaft als damals. In den wenigen Jahren hat sich das komplett verändert.“