Der richtige Weg für jeden

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Foto: Selina Pfruener
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Als der Schultag von Fabrice Luck pünktlich um 7:25 Uhr begann, strahlten die klassizistischen Säulen in ihrem schönsten Weiß, der Parkettboden spiegelte sich und vorn trug ein Junge auf dem Flügel ein Stück des Komponisten Charles Valentin Alkan vor. „Frühkonzil“ heißt die Runde, zu der alle Schüler des Sächsischen Landesgymnasiums Sankt Afra in der altehrwürdigen Aula zusammenkommen, bevor sie in den Unterricht gehen. Jetzt beugt sich Fabrice Luck über einen Haufen Legosteine, aus denen er mit einigen Mitschülern einen Roboter bauen will, mit dem das Team bei internationalen Meisterschaften antreten wird. 

„Eigentlich hätte ich nie gedacht, dass sie mich hier aufnehmen“, sagt Fabrice, während er zwei Legosteine zusammensteckt. „Bei den Aufnahmetests waren Leute, die konnten die ersten 15 Stellen der Zahl Pi aufsagen, einer hat selbst komponierte Musikstücke gespielt.“ Der Achtklässler hält es da lieber mit dem Programmieren von Robotern, mit Informatik und selbst geschriebenen Science-Fiction-Stücken. 

Das ist eines der Bilder, die bekommt, wer auf der Suche nach einer chancengerechten Bildung durch Deutschland reist. Der Befund ist klar: Die Schüler- und Studierendenschaft wird immer heterogener. Für die Bildungspolitik ist es deshalb eine der drängenden Aufgaben, jedem Einzelnen möglichst gerecht zu werden. Die Herausforderung der chancengerechten Bildung stellt sich in sämtlichen Altersklassen – und in allen Bereichen des Leistungsspektrums: Alle Schüler und Studierenden sollen die besten Bedingungen vorfinden, ob sie Nachholbedarf beim Lernen haben oder zu den besten Abiturienten des Landes zählen wie jene auf dem Sankt-Afra-Gymnasium. 

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Fabrice Luck (Foto: Kai Müllerller)
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Achtklässler Fabrice Luck hat die Aufnahmeprüfung am Sächsischen Landesgymnasium Sankt Afra geschafft.

Lernen als Brücke vom Potenzial zur Leistung

Ulrike Ostermaier kennt die Vorurteile, die über Hochbegabte kursieren. Sie sitzt in ihrem Schulleiterbüro in Meißen, die Decken sind hoch und die Fenster gehen hinaus auf einen kleinen Park. „Wer sich vorstellt, dass wir hier lauter Musterschüler haben, die ihren Lehrern an den Lippen hängen, der irrt sich“, sagt sie gleich zu Beginn. Auch bei den Hochbegabten gebe es gewaltige Unterschiede. Jugendliche mit autistischen Zügen gehen auf ihr Internat, solche mit Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Aufmerksamkeitsstörungen. „Wir wissen, dass unsere Schüler ein gewaltiges Potenzial haben. Aber da ist noch keine Leistung daraus geworden. Die Brücke vom Potenzial zur Leistung ist das Lernen – und wie man jemanden zum Lernen motiviert, das ist das pädagogische Geschick.“ Ostermaier steht auf und holt aus dem Regal eine Postkarte aus Oxford. Die lag neulich in ihrem Briefkasten, ein Absolvent hat sie geschickt, der jetzt an der Spitzenuniversität studiert. „Als er zu uns kam, war er ein Minderleister. An seiner alten Schule hatte er wochenlang gefehlt, saß nur zu Hause vor dem Computer und verweigerte sich total.“ Er fühlte sich unterfordert und machte dicht – erst auf dem Sankt-Afra-Gymnasium blühte er wieder auf.

Das sächsische Internat hat sich zu einem Labor für die individuelle Förderung entwickelt. Während es zu Zeiten seiner Gründung im 16. Jahrhundert vor allem dazu diente, den Mitgliedern der künftigen Elite den nötigen Schliff zu verpassen, geht es heute darum, jedem die Möglichkeit zur Entfaltung zu bieten. „Wir sind ein Ausweg für Schüler, die es an der Regelschule nicht mehr aushalten“ – so nennt es die Schulleiterin. Die pädagogischen Erfahrungen gibt sie mit ihrem Team an andere Schulen weiter. Vieles, davon ist sie überzeugt, lässt sich gut übertragen: Das Mentoring-Prinzip etwa, bei dem sich jeder Schüler einen Lehrer aussucht, der ihn begleitet und berät. Oder das Prinzip der fachlichen Breite: Die Schüler können sich nicht in einem Bereich einigeln, sondern bleiben in Kontakt mit allen Disziplinen. „In diesem Jahr untersuche ich in den Naturwissenschaften zum Beispiel Schneckensekrete, im nächsten Jahr kann ich dann ein Musikstück komponieren“, sagt Ulrike Ostermaier. Nur so lasse sich der Anspruch verwirklichen, dass sich jeder gemäß seinen Fähigkeiten entwickelt: Man müsse schlicht die Möglichkeit haben, sie erst einmal zu entdecken. 

„Wir brauchen Schulen und Hochschulen, die den Mut haben, sich zu unterscheiden. “

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Volker Meyer-Guckel (Foto: BusseniusReinicke)
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Volker Meyer-Guckel
stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes

„Bei der chancengerechten Bildung“, sagt Volker Meyer-Guckel, „geht es in erster Linie um die Heterogenität von Bildungseinrichtungen. Nicht jede Institution kann allen gleichermaßen gerecht werden. Deshalb brauchen wir Schulen und Hochschulen, die den Mut haben, sich zu unterscheiden.“ Meyer-Guckel ist stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbandes, mit dem Thema beschäftigt er sich schon lange. Seit einigen Jahren, so hat er beobachtet, kümmerten sich Politik, Schulen und Hochschulen verstärkt um dieses Anliegen. Das habe sicherlich etwas mit den Pisa-Tests zu tun, bei denen deutlich geworden sei, wie schlecht die Chancen derjenigen auf gute Bildung stünden, die keine guten Voraussetzungen mitbringen. Unter dem englischen Schlagwort der Diversity habe das Thema in vielen Institutionen inzwischen Einzug gehalten. – „Wir beim Stifterverband bezeichnen es aber bewusst als chancengerechte Bildung, weil die Diversity-Diskussion nur einen Teil des Komplexes ausmacht.“ Beim Thema Diversity geht es darum, der Vielfalt in Klassenzimmer und Hörsaal Rechnung zu tragen – von jenen Schülern und Studierenden mit Migrationshintergrund bis zu denen, die schon Berufserfahrung mitbringen. Inzwischen stehe Deutschland gut da: Im Hochschul-Bildungs-Report, den der Stifterverband erhebt, lasse sich in den vergangenen Jahren ein gewaltiger Fortschritt ausmachen. Jetzt gelte es, strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, fordert Meyer-Guckel. „Das Thema der chancengerechten Bildung ist häufig noch nicht im Kern der Schulen und Hochschulen verankert. Es gibt viele Satellitenmaßnahmen, die neben die bestehenden Angebote treten; das greift zu kurz. Chancengerechtigkeit erreichen wir nur, wenn wir die Kernprozesse in Schulen und Hochschulen so verändern, dass Zusatzmaßnahmen überflüssig werden.“ 

Vielfalt als Reichtum und Chance

Genau an dieser Stelle setzt die Johannes Gutenberg-Universität Mainz an. „Für uns geht es nicht nur um einen Nachteilsausgleich, indem wir bestimmte Studierende fördern“, sagt Georg Krausch, der Unipräsident. „Wir möchten den Reichtum, den wir durch die Vielfalt haben, zum Tragen bringen.“ Dass das nicht nur eine Floskel ist, erkennen Besucher schon auf dem Weg zu Krauschs Büro. Die langen Flure sind gesäumt von Fotos vieler Universitätsmitglieder: Da ist die Biologiestudentin, die in der Feldhockey-Bundesliga spielt, der Medizinprofessor mit einem Faible für hochalpines Bergsteigen, die Sekretärin, die seit Jahrzehnten im Urlaub per Motorrad durch Afrika tourt, der Mann aus der Verwaltung, der als Experte für geistliche Musik renommierte Chöre leitet, und die Linguistikstudentin, die dreißig Sprachen spricht. „Das ist der Reichtum, von dem wir ohne Frage profitieren“, sagt Krausch. Mit ihm im Büro sitzt Mechthild Dreyer, die Vizepräsidentin für Studium und Lehre – beide gemeinsam haben das Thema zur Chefsache gemacht. Auch das ist eine Mainzer Besonderheit: Die chancengerechte Bildung ist direkt am Präsidium angesiedelt und nicht irgendwo in der verästelten Verwaltungsstruktur. „Wir wissen aber natürlich, dass es lange dauert, bis solche neuen Gedanken überall an der Uni etabliert sind“, sagt Krausch. Eine Mainzer Besonderheit soll helfen, diesen Prozess zu beschleunigen: Werden neue Professoren berufen, verpflichten sie sich in ihrem Arbeitsvertrag, an hochschuldidaktischen Veranstaltungen teilzunehmen – und auf diesen Fortbildungen geht es häufig um das Thema der Chancengerechtigkeit in der Lehre. Die neuen Professoren werden damit, so die Hoffnung, quasi in der Wolle gefärbt.

Konstantin Wacker ist allein schon wegen seiner bisherigen Laufbahn von einem offenen Zugang zum Lernen überzeugt. Der Juniorprofessor lehrt vor allem im Masterprogramm International Economics and Public Policy. In Wien, Alicante, Göttingen und Peking hat Wacker studiert, arbeitete dann zwei Jahre bei der Weltbank in den USA und kam schließlich als Professor nach Mainz. „Und da stehe ich jetzt vor den Studierenden und stelle fest: Sie haben verschiedene Bachelor- Studiengänge absolviert, und sie kommen von fast allen Kontinenten – da muss man sich allein schon deshalb auf einen unterschiedlichen Wissensstand einstellen.“ Ein Seminar über multinationale Konzerne etwa: Wer einen volkswirtschaftlichen Hintergrund hat, fragt nach deren Bedeutung für die Wirtschaft; wer aus dem Bereich des Accounting kommt, sieht vor allem Aspekte wie das interne Verrechnungssystem, der Marketingabsolvent konzentriert sich auf die marktspezifische Werbung in verschiedenen Ländern. Und das alles wird diskutiert von Studierenden, die aus Lateinamerika kommen, aus Asien oder Europa und dort jeweils eigene Erfahrungen gesammelt haben. „Ich löse das, indem ich die Studierenden viel in Gruppen arbeiten lasse – da treffen die verschiedenen Perspektiven sehr konstruktiv aufeinander“, hat Wacker festgestellt. Besonders aufschlussreich, sagt er, sei die Übung, die er „one-minute-paper“ nennt: Am Ende jeder dritten Vorlesung bittet er die Studierenden, in Stichworten zu notieren, was ihrer Meinung nach die zentralen Punkte des gegenwärtigen Themas sind – und an welcher Stelle sie Probleme haben, der Vorlesung zu folgen. „Es ist unglaublich, wie stark da die Antworten auseinanderliegen“, bilanziert er: „Davon kann ich ausgesprochen viel lernen.“ Und dann schiebt er einen Satz hinterher, der zentral ist für das Thema: Er selbst sei ja erst Mitte dreißig, seine eigene Studienzeit liege also noch nicht allzu lange zurück – „aber wenn ich heute in den Hörsaal schaue, sehe ich eine ganz andere, viel heterogenere Studierendenschaft als damals. In den wenigen Jahren hat sich das komplett verändert.“ 

„Das alte Bild von den Vollzeitstudierenden ist überholt. “

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Maria Lau (Foto: Lêmrich)
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Maria Lau
Diversitätsexpertin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Diese Änderung in Zahlen zu fassen ist bislang noch niemandem gelungen. Maria Lau bemüht sich dennoch darum, sie zu quantifizieren – zuletzt mit einer großen Befragung der Studierenden. Lau ist promovierte Kunsthistorikerin, an der Uni Mainz ist sie für das Thema Diversität zuständig. „Als ich die Umfrage-Ergebnisse vor mir hatte, war es ein überraschender Moment: Auf den ersten Blick wurde deutlich, dass das alte Bild von den Vollzeitstudierenden tatsächlich überholt ist.“ Viele arbeiten nebenbei, um ihr Studium zu finanzieren, andere kümmern sich um ihre Kinder, wieder andere engagieren sich in Bürgerinitiativen oder haben eine eigene Firma gegründet. Dieser Vielfalt gerecht zu werden und sie als Bereicherung zu sehen, das sei für sie die Essenz der chancengerechten Bildung. „Gelegentlich höre ich die Frage: ‚Wollt ihr damit das Niveau der Universität senken?‘ Dabei geht es gerade darum nicht – sondern darum, das hohe Niveau auf unterschiedlichen, eben vielfältigen Wegen zu erreichen.“

Interkulturelle Kommunikation

„In Germersheim ist im Prinzip jeder erst einmal fremd.“ Doktorandin Feyza Evrin hilft mit ihrer Initiative ausländischen Studierenden.
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Feyza Evrin (Foto: Lêmrich)
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Der Moment, in dem Feyza Evrin beschloss, selbst aktiv zu werden, liegt einige Jahre zurück. Sie war auf dem Weg durch die Mensa und hörte zehn verschiedene Sprachen, bis sie an der Essensausgabe angekommen war. Das interessierte Evrin allein schon akademisch, denn sie studiert Interkulturelle Kommunikation. „Ich dachte mir: Daraus müsste man doch etwas machen können“, erinnert sie sich. Heute ist sie Doktorandin, und ihr „Buddy“-Programm hat sich längst zum Selbstläufer entwickelt. Evrin vermittelt den 150 bis 200 Gaststudierenden, die pro Jahr in ihrem Fachbereich ankommen, Mentoren, die sie durch die Uni begleiten und ihnen das Leben in Deutschland nahebringen. „Unser Fachbereich liegt in Germersheim, rund hundert Kilometer von Mainz entfernt“, erklärt sie, die selbst im Ruhrgebiet aufgewachsen ist. – „Das ist eine kleine Stadt, wo im Prinzip jeder erst einmal fremd ist.“

Inzwischen reißen sich die deutschen Studierenden so sehr darum, einen der ausländischen Gäste zu betreuen, dass es bisweilen eine Warteliste gibt. Bernd Meyer schmunzelt, wenn er daran denkt. Er ist Professor für Interkulturelle Kommunikation und hat inzwischen das Projekt unter seine Fittiche genommen. „Wir reden in den Seminaren über Stereotype, über Fremdheit, über Integration. Das klingt theoretisch, aber in dem Programm kann jeder selbst erleben, was es bedeutet.“ Und wie leicht es zu Missverständnissen kommt: Wenn etwa jemand die schöne Jacke des Gaststudenten lobt – wie reagiert der? „Man würde erwarten, dass er sich höflich für das Kompliment bedankt und dann die Konversation weitergeht. Aber manche übergehen das Kompliment lieber oder spielen es herunter, indem sie sagen, dass die Jacke eigentlich aus dem Ausverkauf stamme und nichts Besonderes sei“, erzählt Meyer. Die einfache Szene wird so zum Paradebeispiel dafür, wie man wegen unterschiedlicher kultureller Prägungen aneinander vorbeireden kann. Und nebenbei sammeln deutsche Studierende durch den Kontakt mit ihren Buddys Auslandserfahrung, ohne Germersheim auch nur für einen Tag verlassen zu müssen. 

Für den stellvertretenden Generalsekretär des Stifterverbandes Volker Meyer-Guckel ist die Bandbreite der Ansätze zum Thema Chancengerechte Bildung immer wieder faszinierend. „Es ist gesellschaftlicher Konsens, mehr junge Menschen zu akademischer Bildung zu führen“, sagt er, „nur: Dass sich dafür die Hochschulen zwingend ändern müssen, ist noch nicht allgemein akzeptiert.“ Neulich, erzählt er, sollte er auf einer Veranstaltung einen Vortrag halten, für den sich die Organisatoren den Titel ausgedacht hatten: „Was ist gegen die sinkende Studierfähigkeit zu tun?“ Studierfähigkeit – das ist im Hochschuljargon die Eignung der Studierenden, in den Vorlesungen Schritt zu halten. „Dahinter steckt aber doch die Aussage, dass wir die alten Erwartungen um jeden Preis verteidigen sollten. Ich finde, das ist der falsche Weg – und habe deshalb den Titel meines Vortrags geändert. Er lautete dann: ‚Warum die Frage, was gegen sinkende Studierfähigkeit zu tun ist, die falsche Frage ist.‘ “ Richtig sei der Ansatz, die eingeschlagenen Wege und bisherigen Vorstellungen zu hinterfragen, die Institutionen zu verändern und beispielsweise neue Lehrformen zu etablieren. Nur so, sagt Meyer-Guckel, könne eine chancengerechte Bildung erreicht werden. 

Barrierefreie Hochschulen

Lucie Vogelgesang kämpft mit anderen Sorgen. Ihre Noten im Bachelor-Studiengang Soziale Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes sind ausgezeichnet. Unterstützung braucht sie trotzdem: Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen und trägt ein Beatmungsgerät. Eine Studienassistentin begleitet sie durch die Hochschule, hilft beim Tippen der Arbeiten und liest aus den Büchern vor, die nicht digital verfügbar sind. „Man hat mich oft gefragt, ob ich auch wirklich wisse, worauf ich mich da mit einem Studium einlasse“, erzählt Vogelgesang. Für sie selbst sei aber immer klar gewesen, dass sie Sozialarbeiterin werden wollte: „Ich will später gern mit Menschen arbeiten, und mein Weg dorthin führt über die Hochschule“, sagt sie selbstbewusst. Auf den Fluren fällt die Studentin auf mit ihrem schweren Rollstuhl, aber bremsen lässt sie sich von ihm nicht: In der hochschuleigenen Theatergruppe war Vogelgesang dabei, dazu stemmt sie auch noch einen Nebenjob bei einem Verein für Entwicklungspolitik. „Ich würde jedem in meiner Lage raten, sich nicht entmutigen zu lassen“, sagt sie. „Die erste Frage ist, ob die Hochschule barrierefrei ist. Und die zweite Frage lautet, ob sie die passenden Beratungsangebote bereithält.“

An der saarländischen Hochschule ist das die Aufgabe von Isabelle Giro. „Wer bei mir in die Sprechstunde kommt“, erzählt sie, „tastet sich oft langsam vor: Viele haben Angst, dass sie stigmatisiert werden, wenn sie von ihrer Beeinträchtigung erzählen.“ Nicht alle haben sichtbare Krankheiten wie Lucie Vogelgesang; viele kommen mit psychischen Beeinträchtigungen zu ihr. Giro erklärt dann, wo sie helfen kann: Wer etwa soziale Phobien habe, der könne seine Prüfungen bisweilen in einem separaten Raum schreiben. Jemand anderes brauche wegen gesundheitlicher Probleme vielleicht eine längere Bearbeitungszeit für die Prüfungsaufgaben. „Wichtig ist dabei, die Benachteiligungen individuell zu kompensieren, um chancengleiche Teilhabe herzustellen“, sagt Isabelle Giro, die zwischen den Studierenden, der Hochschulverwaltung und den Lehrenden vermittelt. Zu dieser Aufgabe kam sie zufällig: Als sie 2008 ihren Job antrat, war sie eigentlich für das Beschwerde- und Ideenmanagement zuständig. „Irgendwann kam ein Student zu mir, der wegen einer psychischen Beeinträchtigung zu viele Fehlzeiten im Semester angesammelt hatte. Und ich merkte: Da kann ich nicht weiterhelfen, damit kenne ich mich nicht aus“, erinnert sich die Beraterin. Das war für sie der Anstoß, sich mit dem Thema zu beschäftigen – und nach und nach kamen immer mehr Studierende zu ihr, weil sich an der Hochschule herumsprach, dass Giro sie unterstützen kann.

Inzwischen wirkt ihr Engagement auch in die Hochschule hinein. „Der erste Schritt ist die Sensibilisierung“, erläutert Rektor Wolrad Rommel, „und das auf vielen Ebenen: Es geht zum Beispiel um die Förderung von Frauen, von Studierenden mit gesundheitlicher Beeinträchtigung, von jungen Leuten aus bildungsfernen Schichten.“ Auf diesem Weg sei die besondere Prägung der Hochschule hilfreich: Wegen der Nähe zu Frankreich habe man lange Erfahrungen mit binationalen Studiengängen, und wegen der saarländischen Bergbautradition mit ihrem Miteinander und der Solidarität sowie der vielen Studierenden aus bildungsfernen Schichten, die ihren Bildungsaufstieg beginnen, sei die Vielfalt quasi Teil der Identität. Und die Herausforderungen von heute? „Ich sehe Handlungsbedarf vor allem in der Eingangsphase“, sagt Rommel. „Da entscheidet sich der weitere Verlauf des Studiums.“

Peter Schaar ist taub und arbeitet als Dozent an der HTW des Saarlandes.
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Peter Schaar (Foto: Kai Müller)
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Für Peter Schaar ist die Sensibilisierung der Studierenden ein wichtiger Antrieb. Er selbst ist technischer Angestellter im Büro einer Gießerei, im Nebenberuf ist er Lehrer für Gebärdensprache. „Ich bin von Geburt an taub“, erklärt er mithilfe einer Dolmetscherin, und die Studierenden im Seminarraum schauen fasziniert auf seine gestikulierenden Hände – „und mein Ziel ist, dass alle Studierenden erfahren, warum wir die Gebärdensprache benutzen.“ Seit einigen Jahren schon bietet er Kurse an der saarländischen Hochschule an, die Plätze sind meistens in kürzester Zeit belegt. Oft sind es Studierende aus sozialen Fächern, die im Beruf mit Gehörlosen zu tun haben werden, manchmal aber auch Ingenieure, die sich mit speziellen Implantaten auseinandersetzen. „Vielleicht gelingt es mir, jemanden so sehr zu begeistern, dass er Dolmetscher für Gebärdensprache wird“, hofft Peter Schaar – „von denen gibt es nämlich viel zu wenige.“ Für die meisten Studierenden ist sein Seminar wohl nur ein zufälliger Kontakt mit der Welt der Gehörlosen, aber für manche wirkt er prägend. Auch das kann eine Nebenwirkung der Vielfalt sein.

Ungebremst lernen

In Meißen auf dem Hochbegabtengymnasium Sankt Afra sitzt Marie-Luise Rohm in einem der langen Flure. Die Elftklässlerin arbeitet gerade an einer wissenschaftlichen Arbeit, 40 bis 50 Seiten sollen es werden zum Thema der Barrierefreiheit in Norwegen. Solche Aufgaben gehören an dem Gymnasium zum Lehrprogramm. Marie-Luise Rohm denkt gern zurück an eine Arbeit, die sie vor ein paar Jahren schrieb: „Mich haben Frauenrechte interessiert, aber im Unterricht sollten sie laut Lehrplan nicht mehr vorkommen“, erzählt sie. Also kürte sie das Thema kurzerhand zu ihrem eigenen Forschungsfeld: Eine Frauenbefreierin?! Gabrielle ‚Coco’Chanels Vorstellung von der gleichberechtigten Frau lautete der Titel ihrer Arbeit. Das Material dazu fand sie in der Bibliothek ihrer Schule, ergänzt durch Bücher aus der Dresdner Unibibliothek.

Am Gymnasium blitzt immer wieder der Geist vergangener Zeiten durch. Ein paar Schritte neben dem majestätischen Eingangstor zum Beispiel: Da liegt ein alter Friedhof mit Gedenksteinen für die früheren Pädagogen. „Ihrem theuern Lehrer die dankbaren Schüler von St. Afra“, so steht es auf einem von ihnen. Solch erstarrte Ehrfurcht gibt es heute nicht mehr. Geblieben ist aber eins: der Wissensdurst, der Lehrer wie Schüler antreibt. Marie-Luise Rohm zuckt mit den Achseln, wenn sie an ihre wissenschaftliche Abhandlung über die Geschichte der Frauenrechte denkt: „An meiner früheren Schule wurde man komisch angeschaut, wenn man sich in ein Thema reinkniete, da war man immer gleich der Streber.“ Hier dagegen könne sie ungebremst lernen – ganz so, wie es ihrer Geschwindigkeit und ihrem Interesse  entspricht.

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