Der sechste Sinn von Tieren kann die technische Sensorik weitaus smarter machen als bislang. Es ist schon lange bekannt, dass Tiere vor Naturkatastrophen unruhig werden und Schutz suchen. Wie aber funktioniert das genau? In Italien gab es 2016 eine Reihe starker Erdbeben. Wikelski und sein Team handelten sehr schnell und statteten in der Erdbebenregion nach ersten Beben Nutztiere mit Sensoren aus. Dann kam tatsächlich erneut ein stärkeres Erdbeben und die Wissenschaftler waren mit ihren Messgeräten live dabei: „Wir konnten genau sehen, wie die Tiere sich schon Stunden vorher gegenseitig beeinflusst haben: Ziegen rennen los, Kühe werden erst ruhiger, dann scheuchen die Hunde sie auf, Schafe sind wegen des ganzen Durcheinanders noch unruhiger als Hunde“, erzählt Martin Wikelski. Zusammen hätten sich die tierischen Farmbewohner hochgeschaukelt wie bei einem Börsencrash. Der Biologe ist fasziniert davon, dass dieses Hochschaukeln schon Stunden vor dem Erdbeben begann und dann nach etwa einer Stunde wieder auf das normale Maß zurückging: „So etwas haben wir noch nie irgendwo anders gesehen, in keinem anderen Messsystem.“
Wissenschaftler schalten jetzt weltweit die natürliche Intelligenz (NI) zusammen, die sich über Milliarden Jahre entwickelt hat – und die funktioniert laut Martin Wikelski wirklich sicher. Fehlerquellen, die zu möglichen Abstürzen oder Crashs führten, gebe es so in der Tierwelt nicht, denn diese Fehler seien schon längst beseitigt – durch die Evolution. Deshalb gelten algorithmische Systeme, die mithilfe von tierischer Intelligenz designt werden, als äußerst stabil. Sie seien oft auch besser als reine künstliche Intelligenz (KI), sagt Wikelski.
Der Ornithologe glaubt, dass sich die Biowissenschaften aktuell in einer massiven Transformation befinden: „Wir erleben derzeit ein Umdenken in Richtung kollektives Verhalten.“ Wikelski vergleicht diesen Forschungsansatz mit einer leisen Revolution, die bislang im Hintergrund ablaufe – die aber noch ziemlich groß werde, weil man schon jetzt sehe, wie viel Kraft darin steckt.
Mit Blick auf den Artenschutz werden durch den Klimawandel einzelne Schutzgebiete für Wildtiere nicht mehr ausreichen. Viele Biologen glauben, dass die Schnittmengen, wo sich Mensch und Wildtiere treffen, größer werden. Bestenfalls müsste ein Touristenstrand auch in der Hochsaison für zwei Wochen gesperrt werden, wenn sich die Schildkröten darauf zubewegen, um ihre Eier abzulegen. Denn die Wissenschaftler können zukünftig exakt sagen, wann die Tiere dort eintreffen, und belegen, dass nur dieser eine Strand gerade die richtige Temperatur für die Brut hat und sonst keiner. Wenn er nicht gesperrt werden würde, wäre es eine Katastrophe für die Art.
Wird der Mensch solche Schutzmaßnahmen akzeptieren? Das Wissen über Wildtiere ist aktuell in der Gesellschaft eher gering. Wenn Eltern ihren Kindern die große Tierwelt auf unserem Globus näherbringen wollen, erzählen sie schnell von Elefanten, Giraffen oder Löwen. De facto müssten sie aber von Kühen und Hühnern erzählen – denn diese Nutztiere bevölkern unseren Planeten. Wildtiere gibt es dagegen nur noch sehr wenige. Ernüchternde Ergebnisse hierzu brachte die Studie „The biomass distribution on Earth“ 2018 zutage: Wenn man die Biomasse aller Säugetiere der Welt addiert – den Menschen eingeschlossen –, entfallen davon lediglich 4 Prozent auf Wildtiere – von der Maus bis zum Elefanten. 60 Prozent sind dagegen Nutztiere, vor allem Kühe. Auf den Menschen entfallen 36 Prozent. Bei Vögeln war der Biomasseunterschied mit 70 Prozent für Nutzgeflügel und 30 Prozent für Wildvögel nicht ganz so gravierend.