Die Datenspur der Tiere

Amsel mit einem der ersten ICARUS-Sender
Amsel mit einem der ersten ICARUS-Sender (Foto: MPI/MaxCine)
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Eine kleine Polarfüchsin rennt mit einem Sensor um den Hals in 76 Tagen von Norwegen bis nach Kanada übers Eis – unfassbare 3.506 Kilometer. Dieses mit wissenschaftlichen Daten untermauerte Ereignis entzückte kürzlich Laien wie Wissenschaftler gleichermaßen. Es transportierte aber auch die Nachricht: Wenn das arktische Eis weiter schmilzt, ist es damit vorbei.

Schon 2017 prophezeite die Max-Planck-Gesellschaft: Tiere werden bald unsere besten Erdbeobachter sein. Augen, Ohren und Nasen der Wildtiere könnten den Menschen über die Lebensvorgänge auf der Erde in einem nie dagewesenen Ausmaß informieren. Die Wissenschaftler sehen in den Sinnen der Tiere sozusagen evolvierte intelligente Sensoren. Besonders faszinierend ist aus ihrer Sicht die Vorstellung, welche Erkenntnisse die kollektive Intelligenz globaler Tierschwärme liefern könnte, wenn man sie mit Computersystemen zusammendenkt.

Effektive Frühwarnsysteme vor Erdbeben und Vulkanausbrüchen wären mit Verhaltensauffälligkeiten von Farm- und Wildtieren in greifbarer Nähe. Mit Störchen ließen sich verlässliche Prognosen errechnen, wo die nächste Population der Wanderheuschrecke aus dem Wüstenboden krabbeln wird. Wetterdaten von mit Sensoren ausgestatteten Fregattvögeln, die gerade vor einem Hurrikan flüchten, wären weitaus verlässlicher als die technischer Bojen im Meer, um Unwetterverläufe vorherzusagen. Bewegungsmuster von Flughunden in Afrika könnten, kombiniert mit den Blutproben dieser Tiere, auf Herde von Ebola-Epidemien hinweisen, die noch nicht ausgebrochen sind.

„Wir sind dabei, die Intelligenz der Tiere auf einem ganz neuen Level zu dekodieren“, sagt Martin Wikelski, Professor am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell bei Konstanz. Als Biologe und Ornithologe erforscht Wikelski globale Wanderrouten von Zugvögeln, Reptilien, Säugetieren und Insekten. Aktuell etabliert und leitet er das nagelneue deutsch-russische Tierbeobachtungssystem ICARUS, das an der Außenseite der Raumstation ISS montiert ist und seit dem 10. Juli zunächst in der Testphase sendet. Ab Herbst oder Winter 2019 wollen die Wissenschaftler die ICARUS-Daten dann in die Movebank einspeisen – eine Open-Source-Datenbank, die Forscher weltweit bereits rege als Wissensquelle nutzen. Über 300 Papers basieren auf Movebank-Daten.

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Martin Wikelski (Foto: Christian Ziegler)
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Max-Planck-Forscher Wikelski: "Bewegungsmuster von Flughunden könnten auf Ebola-Epidemien hinweisen, die noch nicht ausgebrochen sind.“

Bewegungsdaten sogar von Insekten

Was ist so besonders an dem Projekt „International Cooperation for Animal Research Using Space“ – kurz ICARUS? Zum einen lassen sich damit kleine, autonom operierende Sensoreinheiten auf Tieren überall auf dem Globus auslesen und programmieren. ICARUS führt damit weltweit Tier- und Bewegungsdaten von allen möglichen Arten zusammen, selbst von Insekten. Bislang waren die technischen Möglichkeiten in manchen Gebieten der Erde begrenzt, durch Kriege etwa oder weil das Gelände für den Menschen zu unwegsam ist, um dort Empfängertechnik aufzubauen. Wissenschaftler und IT-Experten wollen mit ICARUS darüber hinaus die weltweite Datenanalyse nicht nur automatisieren, sondern ebenso mit Erdbeobachtungsdaten verknüpfen, beispielsweise aus dem europäischen Copernicus-Programm oder von der NASA.

Man könne jetzt wirklich vom Labor bis zum Freiland global auf der Welt überall forschen, sagt Wikelski, da sei das Projekt weltweit einzigartig. Es gehe um ein systemisches Verständnis von Biologie, erklärt der Ornithologe weiter: Frühere Forscher konnten beispielsweise gerade einmal 5 Prozent der Lebenszeit von Gänsen beobachten und hätten versucht, daraus Schlüsse zu ziehen. „Wir bekommen jetzt Einsichten in 100 Prozent der Lebenszeit und erfahren wirklich genau, was dieses Tier weiß, uns sagen kann und sagen will, auch wenn es nicht nahe ist.“ Und das sei so fundamental anders als das, was man bisher konnte, so Wikelski: „Ich glaube, das wird die gesamte Verhaltensbiologie völlig umkrempeln.“

„Ich glaube, das wird die gesamte Verhaltensbiologie völlig umkrempeln.“

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Martin Wikelski (Foto: Fiona Wikelski)
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Martin Wikelski
Biologe und Ornithologe

Parallel dazu kommt die Intelligenz der Tiere ins Spiel. Martin Wikelskis Forschungsprojekt zu Wanderheuschreckenschwärmen im Süden der Sahelzone ist ein Beispiel. Hierfür startete der Biologe eine Zusammenarbeit mit dem IBM-Watson-Lab in Böblingen. Mit den Programmierern zusammen versucht der Wissenschaftler die ihm seit Jahren bekannten Zugmuster von Störchen mit Heuschreckenvorkommen zu verknüpfen: „Wir wollen mithilfe von KI herausfinden, ob und wie die Störche Heuschrecken finden: Wo passiert es, wie funktioniert es?“ Anschließend plant das Team Vorhersagen: Wohin fliegen die Störche dieses Jahr und treten dort wieder Heuschreckenschwärme auf?

Natürlich seien Heuschrecken nicht nur ein Übel für Landwirte, sondern ein wichtiger Ökosystemfaktor, erklärt Wikelski weiter: „Wir wollen da jetzt nicht mit Spritzmitteln eingreifen und Insekten vernichten.“ Die Vision sei vielmehr eine Art Wettervorhersage, wie: „Bei euch entwickeln sich Heuschrecken, sie könnten bald eintreffen, bereitet euch darauf vor.“ Solche Vorhersagen sind bisher sehr schwierig, genauso wie Ankündigungen von Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder Tsunamis.

Der sechste Sinn der Tiere

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Foto: iStock/Astrid860
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Der sechste Sinn von Tieren kann die technische Sensorik weitaus smarter machen als bislang. Es ist schon lange bekannt, dass Tiere vor Naturkatastrophen unruhig werden und Schutz suchen. Wie aber funktioniert das genau? In Italien gab es 2016 eine Reihe starker Erdbeben. Wikelski und sein Team handelten sehr schnell und statteten in der Erdbebenregion nach ersten Beben Nutztiere mit Sensoren aus. Dann kam tatsächlich erneut ein stärkeres Erdbeben und die Wissenschaftler waren mit ihren Messgeräten live dabei: „Wir konnten genau sehen, wie die Tiere sich schon Stunden vorher gegenseitig beeinflusst haben: Ziegen rennen los, Kühe werden erst ruhiger, dann scheuchen die Hunde sie auf, Schafe sind wegen des ganzen Durcheinanders noch unruhiger als Hunde“, erzählt Martin Wikelski. Zusammen hätten sich die tierischen Farmbewohner hochgeschaukelt wie bei einem Börsencrash. Der Biologe ist fasziniert davon, dass dieses Hochschaukeln schon Stunden vor dem Erdbeben begann und dann nach etwa einer Stunde wieder auf das normale Maß zurückging: „So etwas haben wir noch nie irgendwo anders gesehen, in keinem anderen Messsystem.“ 

Wissenschaftler schalten jetzt weltweit die natürliche Intelligenz (NI) zusammen, die sich über Milliarden Jahre entwickelt hat – und die funktioniert laut Martin Wikelski wirklich sicher. Fehlerquellen, die zu möglichen Abstürzen oder Crashs führten, gebe es so in der Tierwelt nicht, denn diese Fehler seien schon längst beseitigt – durch die Evolution. Deshalb gelten algorithmische Systeme, die mithilfe von tierischer Intelligenz designt werden, als äußerst stabil. Sie seien oft auch besser als reine künstliche Intelligenz (KI), sagt Wikelski.

Der Ornithologe glaubt, dass sich die Biowissenschaften aktuell in einer massiven Transformation befinden: „Wir erleben derzeit ein Umdenken in Richtung kollektives Verhalten.“ Wikelski vergleicht diesen Forschungsansatz mit einer leisen Revolution, die bislang im Hintergrund ablaufe – die aber noch ziemlich groß werde, weil man schon jetzt sehe, wie viel Kraft darin steckt.

Mit Blick auf den Artenschutz werden durch den Klimawandel einzelne Schutzgebiete für Wildtiere nicht mehr ausreichen. Viele Biologen glauben, dass die Schnittmengen, wo sich Mensch und Wildtiere treffen, größer werden. Bestenfalls müsste ein Touristenstrand auch in der Hochsaison für zwei Wochen gesperrt werden, wenn sich die Schildkröten darauf zubewegen, um ihre Eier abzulegen. Denn die Wissenschaftler können zukünftig exakt sagen, wann die Tiere dort eintreffen, und belegen, dass nur dieser eine Strand gerade die richtige Temperatur für die Brut hat und sonst keiner. Wenn er nicht gesperrt werden würde, wäre es eine Katastrophe für die Art.

Wird der Mensch solche Schutzmaßnahmen akzeptieren? Das Wissen über Wildtiere ist aktuell in der Gesellschaft eher gering. Wenn Eltern ihren Kindern die große Tierwelt auf unserem Globus näherbringen wollen, erzählen sie schnell von Elefanten, Giraffen oder Löwen. De facto müssten sie aber von Kühen und Hühnern erzählen – denn diese Nutztiere bevölkern unseren Planeten. Wildtiere gibt es dagegen nur noch sehr wenige. Ernüchternde Ergebnisse hierzu brachte die Studie „The biomass distribution on Earth“ 2018 zutage: Wenn man die Biomasse aller Säugetiere der Welt addiert – den Menschen eingeschlossen –, entfallen davon lediglich 4 Prozent auf Wildtiere – von der Maus bis zum Elefanten. 60 Prozent sind dagegen Nutztiere, vor allem Kühe. Auf den Menschen entfallen 36 Prozent. Bei Vögeln war der Biomasseunterschied mit 70 Prozent für Nutzgeflügel und 30 Prozent für Wildvögel nicht ganz so gravierend.

Wie kommen die Bürger ins Handeln?

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Foto: Biotopia/megaherz
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Der Mensch hat es in der Hand, wie er konsumiert und ob er sich für Natur und Artenschutz einsetzt oder nicht. An dieser Stelle tut Bildung not. Wie aber kommen die Bürger dann auch ins Handeln? Viele sehen die Wissenschaft hier in der Verantwortung, weil deren Erkenntnisse bislang die Öffentlichkeit oft wenig berühren und stattdessen im Strudel der lauten Töne in sozialen Netzwerken untergehen. Vieles wird überhaupt nicht verstanden, weil es zu komplex wirkt: Die Bürger werden sozusagen mit den Fakten erschlagen, sie erkennen keinen roten Faden, ihnen fehlt die emotionale Ansprache. Wissenschaftler müssen ihre Erkenntnisse schlichtweg anders kommunizieren. In den Biowissenschaften gibt es diesbezüglich nun Bewegung.

Geobotaniker und Bioakustiker Michael Scherer-Lorenzen, der an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Bereich Soundscape ecology die Biodiversität deutscher Naturgebiete erforscht, weiß aus Erfahrung: „Das Akustische hat ein sehr großes Potenzial, die Menschen zu erreichen.“ Tierstimmen gingen bei ihnen vom Ohr sozusagen direkt ins Herz – was der Wissenschaft und damit auch den Wildtieren nutzen kann. Er sieht sich als Wissenschaftler diesbezüglich aber auch in der Zwickmühle: „Wenn man zu sehr auf diese emotionale Schiene kommt, besteht die Gefahr, dass die Dinge sehr schnell verklärt und romantisiert werden, nach dem Motto: Früher klang alles vielfältiger und heute wird es stumm.“ Da müsse die Wissenschaft sehr aufpassen, dass das nicht passiert, argumentiert der Bioakustiker: „Dieses Spannungsfeld müssen wir aushalten und auf rein wissenschaftlicher Basis argumentieren.“

Naturkunde und Museum neu gedacht

Ein Ort, wo dies nun im großen Stil mit internationalen Größen aus Wissenschaft, Kunst und Design erprobt wird, ist BIOTOPIA – das neue Naturkundemuseum in München am Schloss Nymphenburg, das sich im Aufbau befindet und eines der modernsten Museen für Biowissenschaften werden wird. Michael John Gorman, Gründungsdirektor von BIOTOPIA, versteht das Museum als Erlebnisort, Plattform und Forum. Vision ist, die Beziehungen zwischen Menschen und anderen Lebewesen zu erforschen, zu hinterfragen und neu zu gestalten. Besucher sollen wieder ein Staunen über die Welt empfinden, Empathie zu Lebewesen aufbauen und Ideen bekommen, wie sie selbst in Anbetracht der Herausforderungen handeln können. Offene Besucherlabore sollen zu aktiver Teilnahme einladen und den Dialog mit Forschern, Künstlern und Designern ermöglichen. Testläufe liefen gut.

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Michael John Gorman (Foto: Biotopia Naturkundemuseum Bayern)
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BIOTOPIA-Gründungsdirektor Gorman

Angedockt ist auch die Max-Planck-Gesellschaft, die mit BIOTOPIA im Mai eine Kooperation vereinbarte. Moritz Hertel wird die Forschungsbrücke leiten. Er ist Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Ornithologie. Auch er sieht - wie Bioakustiker Scherer-Lorenzen - Reibungspunkte, wenn emotionale Ansprache und wissenschaftlicher Anspruch aufeinandertreffen: „Wie sehr darf ich ein Tier vermenschlichen und die menschliche Sichtweise auf ein Tier projizieren, um dessen Leiden oder dessen aktuelle Lebensumstände zu erfassen?“ Dies für die Wissenschaftskommunikation auszuloten sei Teil der Idee von BIOTOPIA.

Michael John Gorman verwies in einem Interview darauf, dass man in Museen einen trivialen Spaß an der Wissenschaft, der schnell fade werde, vermeiden sollte. Man könne darauf setzen, dass Besucher sich auch ernsthaft und tiefer auf Themen einlassen wollten. Derzeit werde Wissenschaft in der Öffentlichkeit meist als kurzweiliger Spaß präsentiert, so Gorman: Erstaunt dreinblickende Kinder fassen eine glühende Plasmakugel oder einen Van-de-Graaff-Generator an, der ihnen die Haare vom Kopf abstehen lässt. Gorman hält solche Darstellungen für unglücklich, weil sie dem Wesen von Wissenschaft nicht gerecht würden: Wissenschaft sei eben nicht diese Eine-Minute-Clownerie. Viel besser passe hier das Bild eines Videospielers, der mit anderen Spielern kollaborativ, ernsthaft, fokussiert und fast schon obsessiv Computerwelten kreiert und gar nicht mehr vom Bildschirm wegwill.

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