Die große europäische Spaltung

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Europe whole and free, das war einmal. So möchte man meinen, wenn man auf die derzeitige Diskussion um die Durchsetzung des EuGH-Urteils zur Flüchtlingsverteilung, auf den Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen und Ungarn oder auf die Wahlen in Tschechien schaut. Nichts Geringeres als die legacy von 1989, die Überwindung des Eisernen Vorhangs, steht auf dem Spiel. Die Osteuropäer lassen es an Solidarität mangeln, so lautet die westeuropäische Anklage. Und „der Westen“, die EU, schlägt zurück: Kurz vor Weihnachten 2017 leitete sie ein bisher beispielloses Verfahren gegen Polen wegen möglicher Rechtsstaatsverstöße ein. Recht muss eingehalten werden, klar, sonst ist die EU keine Rechtsgemeinschaft mehr. Das aber ist überhaupt das Wertvollste, was die EU hat. Und doch möchte man in der aktuellen Hitze der Debatte einen Moment innehalten, einen Blick auf den europäischen Osten werfen und sich fragen, wie die Polen, Ungarn, Tschechen dahin gekommen sind, wo sie jetzt sind, und warum.

Ihre neue Rolle als Buhmänner Europas ist nämlich nicht vom Himmel gefallen. Lange Jahre empfanden sie sich als Zweite-Klasse-Europäer. Und auch das rächt sich heute. Abgesehen davon, dass es die Polen, die Ungarn, die Tschechen nicht gibt. Stattdessen gibt es gespaltene Gesellschaften, in denen mindestens ein Drittel der eigenen Bevölkerung sich jeweils im Widerstand mit der jeweiligen Regierung befindet, und obendrein Länder, die grundsätzlich europafreundlich sind: Sogar 80 Prozent der Ungarn wollen den Verbleib in der EU, jetzt erst recht sozusagen. Will man die jetzt bestrafen? Die politische Lage in Osteuropa ist zumindest komplex, um nicht zu sagen undurchsichtig, und keine einseitige Solidaritätsverweigerung, das wäre das Mindeste, was man kenntlich machen müsste. Wo aber fängt man an mit der Vorgeschichte, die das heutige Verhalten vielleicht erklärt?

Erklären heißt nicht billigen. Klar scheint, dass zum Beispiel die Situation in Warschau durch die jüngste Nominierung von Mateusz Morawiecki nicht besser wird, sondern eher schlechter. Der Kaczyński-Vertraute dürfte härter und sichtbarer durchgreifen beim Umbau des polnischen Staates als die letzte Premierministerin Beata Szydlo. Die Neuziehung der Wahlkreise, die Änderung der Wahlordnungen zu den Kommunalwahlen – das alles sind zwar unterschwellige, aber dennoch strategische Maßnahmen, um die Macht der rechtskonservativen Partei PiS vor allem auf dem Land auszubauen und zu festigen. Und vor allem: irreversibel zu machen. 

„Noch gibt es keine Einschüchterungen. Eher werden die lokalen oder regionalen Parteischergen der PiS als tumb belächelt oder gar verlacht. Die polnische Satire floriert. Das ist eher ein gutes Zeichen. “

Ulrike Guérot
Ulrike Guérot (Foto: Butzmann)
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Ulrike Guérot

Polen hat, im Gegensatz zum Beispiel zu Ungarn, eine große, engagierte Zivilgesellschaft, die nunmehr seit geraumer Zeit gegen die Maßnahmen der PiS-Regierung, gegen die Abtreibungsgesetze, die Restriktionen der Medien, die Entlassungen aus öffentlichen Ämtern oder gegen die jüngste Justizreform demonstriert. Wo die Partei von Jarosław Aleksander Kaczyński das Land umkrempeln möchte und dabei bereits beträchtliche Etappensiege (Umbau des Budgets und der Verwaltung, Eingrenzung der richterlichen Freiheiten) erzielen konnte, ist die Gegenbewegung längst entstanden, unter anderem in Form einer 2015 neu gegründeten progressiven Partei meist jüngerer Leute: Razem. Noch gibt es keine Einschüchterungen. Eher werden die lokalen oder regionalen Parteischergen der PiS als tumb belächelt oder gar verlacht. Die polnische Satire floriert. Das ist eher ein gutes Zeichen.

Erst die Geschichte entscheidet indes, meistens spät, ob und wann Aufständische zu Helden, Verrückten oder Verrätern werden. So geschehen mit all jenen, die sich im einstigen Ostblock im Nachgang zu den Protesten von 1968 als Zeichen des Aufbegehrens gegen das Regime selbst verbrannt haben und die damals gebrandmarkt wurden. Der Tscheche Jan Palach nannte sich „Fackel Nummer eins“. Erst rund 20 Jahre später, im Januar 1989, wurde Palach zum Helden, liefen Jan-Palach-Gedenkwochen auf erneute Protestwellen hinaus, die dann zum Fall des Eisernen Vorhangs auch in der Tschechoslowakei führten. Jan Palach bekam in vielen Straßennamen, auch in Deutschland, ein Denkmal gesetzt.

Polen ist ein Land mit großer Protesttradition

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Das rostige Stahlgebäude des European Solidarity Centre in Danzig. (Foto: iStock/ Madzia71)
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Am 19. Oktober 2017 hat sich wieder jemand, diesmal ein Pole, Piotr Szczęsny, aus Protest gegen die PiS-Regierung auf dem historischen Defilee-Platz in Warschau verbrannt, um das schlafende Gewissen der Bürger aufzurütteln und gegen die „Einheitspartei“ und den Abbau von Rechtsstaatlichkeit zu protestieren. Wie schlimm ist also die politische Lage in Polen? Muss man schon wieder gegen ein „Regime“ aufbegehren? Polen ist ein Land mit großer Protesttradition. Letztlich hat der Fall des Ostblocks 1979 mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarność unter dem legendären Gewerkschaftsführer Lech Waleşa auf der berühmten Lenin-Werft begonnen.

Und so möchte man antworten: Polen ist zutiefst gespalten, der Riss über die PiS geht bis in einzelne Familien hinein, aber um die polnische Demokratie ist es eigentlich nicht schlecht bestellt. Mundtot sind die Polen jedenfalls nicht und mutig dazu: Als am 11. November 2017, am polnischen Unabhängigkeitstag, ein ultrarechter, nationalistischer Mob durch die Straßen von Warschau fegte, waren Gegendemonstranten aus Polen sowie aus ganz Europa (sic!), zum Beispiel von der Initiative European Alternatives, auch auf der Straße, haben mutig versucht, die Nationalisten einzukesseln, und damit ein europäisches Zeichen gesetzt.

Mit anderen Worten: In Polen ist – jenseits von guten Zeitungen und beachtenswerten intellektuellen Zirkeln um Krytyka Polityczna, die gerade buchstäblich intellektuell aufrüsten und eine tragende Rolle als europäische Diskussionsplattform und Debattentreiber einnehmen – eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung um die europäische Zukunft des Landes längst entfacht. Es geht um viel, nämlich um Europa, und die polnische Bevölkerung ist auf den Beinen.

Die europäische Unterstützung ist das Wichtigste, was das Land jetzt braucht, insbesondere die jungen Leute. Denn mulmig ist ihnen schon. Vor allem äußern sie Sorge darüber, wohin sie gehen, wo sie bleiben sollen. Noch reden sie, mehrsprachig, gebildet, vernetzt und über Europa gut informiert, nicht offen von Widerstand, aber sofern sie jung, engagiert, ausgebildet und klug sind, gehen sie in die Selbstorganisation – und nicht in die Politik. Damit verliert das Land de facto seinen besten Nachwuchs, der keine Lust darauf hat, in die Verwaltung, den Außendienst oder in welche systemischen Funktionen des Staatsdienstes auch immer zu gehen, der zunehmend von der PiS verfilzt wird. Ein Land ohne Funktionseliten aber ist ein Land, dem bald die tragenden – und auch die vernünftigen – Köpfe fehlen. Hier liegt auf Dauer das Risiko, nämlich dass die Schaltstellen des Landes den Nationalisten überlassen werden, weil die klugen Köpfe keine Lust mehr darauf haben.

Und doch ist der deutsche Blick auf den polnischen Nationalismus und die Zukunft des Landes oft getrübt, zumal wenn er nicht fragt, was dazu beigetragen hat. Denn Kaczyński und seine PiS sind nicht vom Himmel gefallen und das Gefühl der Polen, Europäer zweiter Klasse zu sein, die niemand fragt und die darum Europa jetzt den Rücken zuwenden, ist es auch nicht. „Warum habt ihr die Nord-Stream-Pipeline gebaut?“, ist eine der häufigsten Fragen, die man als Deutscher in Polen gestellt bekommt. Eine Pipeline von Russland direkt an die deutsche Nordsee, gebaut, ohne Polen zu fragen und ohne eine Abzweigung des Gases nach Polen. Man muss nicht weit in die Geschichte zurückblicken, um sich an all die Momente zu erinnern, in denen ein zu enges deutsch-russisches Verhältnis den Polen geschadet hat, um es höflich auszudrücken. Nur die Angst vor Russland, so möchte man anmerken, ist noch größer als die stille Wut auf Deutschland, die zudem in den offiziellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern kaum thematisiert werden darf beziehungsweise kann. Sie muss dort sublimiert und unter den Teppich gekehrt werden. Diese Wut aber bereitet erst den Boden für jene Ressentiments schürenden Kampagnen über die Forderung nach deutschen Reparationszahlungen für die Schäden aus dem Zweiten Weltkrieg, die zum ersten Mal 2004 aufflackerten, gerade im Herbst 2017 aber wieder Dauerbrenner auf Radio Marija waren und allabendlich ins polnische Primetime-TV schwappen. „Haben wir je etwas von den Deutschen bekommen?“, ist dort die Frage. Der Kniefall von Willy Brandt reicht nicht mehr; die deutsch-polnische Nachkriegsordnung ist ins Wanken geraten.

Inzwischen schwant auch vielen Deutschen, dass irgendetwas in den Beziehungen zu Polen nicht mehr stimmt. Symbole und Ehrerbietung sind hierfür wichtige Symptome: 2011, am 20. Jahrestag der Begründung des sogenannten Weimarer Dreiecks der EU zwischen Frankreich, Deutschland und Polen, sind sowohl Roland Dumas als auch Hans-Dietrich Genscher dem Festakt in Warschau in letzter Minute ferngeblieben. Was soll man sich als Pole dabei denken, außer dass man jetzt buchstäblich alleine dasteht?

Ulrike Guérot
Ulrike Guérot (Illustration: Irene Sackmann)
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Im Zweifel Europa

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance (eusg). Sie arbeitet als Publizistin, Essayistin und Analystin zu Themen der europäischen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt. Sie ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems.

Ulrike Guérot hat europäische Forschungsstellen und Think Tanks in Frankreich und Deutschland aufgebaut, sowie an europäischen und amerikanischen Universitäten zur europäischen Integration geforscht und gelehrt. Sie berät seit vielen Jahren politische Entscheidungsträger im Bereich der Europapolitik, wobei ihr Schwerpunkt auf der Weiterentwicklung europäischer Institutionen und einem gemeinsamen Auftritt Europas in der Welt liegt. Ihre MERTON-Kolumne heißt Im Zweifel Europa, in der sie regelmäßig über aktuelle europäische Entwicklungen und Streitfragen schreibt. 

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Ressentiments entstehen auch aus Kränkung

Und ob das europäische Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine) von 2014 als Plattform für den Minsker Prozess zur Befriedung des ukrainisch-russischen Konfliktes angesichts der Größe der polnisch-ukrainischen Grenze so gelungen ist, ist schwer einzuschätzen. Verwundert es, wenn sich die Polen da fragen, wo sie bleiben? Ressentiments entstehen auch aus Kränkung. Schon davor wurde der Eintritt Polens in die Eurozone, eigentlich geplant für 2011, wegen einer im Westen verursachten Bankenkrise aufgeschoben. Das Wechselkursverhältnis des Euro zum Zloty aber war stabil: Die Polen hatten ihre „Hausaufgaben“ gemacht. Ich erinnere mich an ein Dinner mit Marek Belka, dem damaligen polnischen Notenbankpräsidenten, im Winter 2010. Eigentlich hatte man sich auf den Eintritt in die Eurozone gefreut. Das Gefühl, abgehängt zu sein, und die mangelnde Wertschätzung haben den polnischen Europa-Elan gebrochen. Kann man das heute nur den Polen vorwerfen? Auch in der derzeitigen deutschen Empörung über den wachsenden polnischen Nationalismus und Populismus gilt also der Spruch von Navid Kermani: „Die Liebe zum Eigenen fängt mit der Selbstkritik an.“ Die derzeitige deutsche Forderung, die Polen müssten sich in der Flüchtlingskrise „solidarischer“ verhalten, erinnert hier ein bisschen an den Bibelspruch vom Splitter und dem Balken.

Neue junge konservative Elite

Jenseits der hier bereits erwähnten jungen europäischen Polen, die derzeit zwar gegen die PiS engagiert, aber letztlich doch hilflos sind, gibt es als Reaktion auf die Kränkungen inzwischen auch eine neue junge konservative polnische Elite, die den polnischen Nationalismus wieder intellektuell konzeptualisiert und hoffähig macht. In ihm kommt Europa kaum noch vor, der Euro wird nicht mehr gewollt. Polen muss sich selbst behaupten und Regionalmacht werden, whatever that means. Die Generation derjenigen, die in den 90er-Jahren den polnischen EU-Beitritt gemanagt haben, ist quasi abgetreten. Indes ist nicht von der Hand zu weisen, dass, bevor der populistische Fieberschub in Polen ausgebrochen ist, ein struktureller Deregulierungs- und Liberalisierungsschub in Form eines „Transformationsprozesses“ in Siebenmeilenstiefeln durch das Land gerauscht ist. Der in Form von Personalentscheidungen zugunsten liberaler Meinungseliten zu strukturellen Verfestigungen von Entscheidungen geführt hat, von denen ebenfalls bezweifelt werden kann, dass sie ausschließlich gut für Polen waren – beziehungsweise wäre zu fragen, für wen sie gut waren. Auch das erklärt vielleicht den polnischen Populismus heute. Der Rechtswissenschaftler Martin Mendelski spricht darum von der „Pathologie der Europäisierung“ und bescheinigt der EU bei der Beurteilung von Rechtsstaatlichkeit Defizite in der Evaluierung [1] – um nicht zu sagen: Einseitigkeit. Seine Arbeiten wurden immerhin von der EU ausgezeichnet. Das lässt eine gewisse Einsicht der EU vermuten, dass auch sie sich zu ändern hat, wenn der Populismus in Polen dauerhaft zurückgedrängt werden soll.

[1] Mendelski, Martin: Das europäische Evaluierungsdefizit der Rechtsstaatlichkeit. In: Leviathan 44, 3, S. 366–398 (2016).

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