Die Jagd nach der Begabung

Gerald Hüther, Jelena Jojevic
Hirnforscher Gerald Hüther und Talentscout Jelena Jojevic beim Gespräch im Botanischen Garten Göttingen. (Foto: Tobias Brabanski)
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Herr Hüther, was hat die Hirnforschung mit einer Wassermühle gemeinsam?
Gerald Hüther: (lacht) Ich ahne, warum Sie das fragen: Ich bin auf einer Wassermühle aufgewachsen, mein Großvater war Müller in Thüringen. Seine Einstellung hat mich stark geprägt: Er hat mir das Gefühl gegeben, dass ich okay bin, so wie ich bin. Deshalb spielt die Wassermühle eine sehr große Rolle in meiner Biografie – als Erfahrungsraum, in dem ich mich entfalten konnte. Und so bin ich später nicht Wassermüller geworden, sondern Hirnforscher.

Jelena Jojevic: Bei mir war es ähnlich, wenngleich ohne Mühle: Am Anfang lebte meine Familie noch in Ex-Jugoslawien, ich hatte eine unbeschwerte Kindheit. Als ich acht Jahre alt war, sind wir wegen des Jugoslawienkriegs nach Deutschland geflüchtet, wo es wegen der neuen Umgebung und des Leistungsdruckes mit dieser Unbeschwertheit vorbei war. Aus meiner Familie hatte niemand studiert, und ich hatte das Glück, dass ich immer wieder auf Leute gestoßen bin, die mich unterstützt und mir Hinweise gegeben haben, was für mich der nächste sinnvolle Schritt sein könnte. 

Was ist eigentlich Talent?

Was hat Ihnen den entscheidenden Schub gegeben, dass Sie schließlich an der Uni gelandet sind?
Jojevic:
In der Oberstufe hatte ich erstmals Sozialwissenschaft als Unterrichtsfach – das, was ich später auch studiert habe. Die Themen und Fragen haben mich gleich gepackt, und zum Glück merkte das mein damaliger Lehrer. Wir haben uns außerhalb der Stunden getroffen und diskutiert, er hat mir Empfehlungen für Bücher gegeben. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht etwas mitbringe, etwas kann.

Damit beschreiben Sie ja fast die Rolle, in der Sie heute sind: die eines Talentscouts.
Jojevic
: Stimmt, meine Arbeit ist ganz ähnlich. Ich berate Jugendliche an Schulen, spreche mit ihnen über ihre Zukunft, über Berufe, über ein Studium. Gemeinsam schauen wir uns Angebote wie Schnuppertage an der Universität oder Ausbildungsmessen an, und ich gebe ihnen zwischen den einzelnen Beratungsstunden auch Aufgaben, damit sie sich selbst entwickeln. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein ganzes Netzwerk von solchen Talentscouts.

Herr Hüther, was ist denn eigentlich Talent?
Hüther
: Der Begriff wird bisweilen sehr oberflächlich verwendet, und dann verschwimmt er. Häufig denkt man, Talent sei etwas, das schon da ist – dabei ist es ja eigentlich nur als Möglichkeit angelegt. Man hat ein Talent zum Klavierspielen, ist aber noch kein perfekter Pianist.

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Jelena Jojevic (Foto: Tobias Brabanski)
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Die Talentsucherin

Jelena Jojevic ist Talentscout an der Ruhr-Universität Bochum. Sie berät Jugendliche bei der Berufs- und Studienwahl und hilft ihnen bei ihrem Weg an eine Hochschule. Dieses Angebot richtet sich vor allem an Jugendliche aus Nichtakademikerfamilien. Jojevic ist Teil eines Netzwerks von Talentscouts, das sich in Nordrhein-Westfalen an zahlreichen Hochschulen entwickelt hat. Sie ist zudem Vorstandsmitglied des gemeinnützigen Vereins „needforfeed“ für Kinder und Jugendliche in Bochum.

Sie schauen in Ihrer Forschung quasi in das Gehirn hinein. Woran erkennen Sie dort ein Talent?
Hüther
: Im menschlichen Gehirn geht es nicht so sehr um die Anzahl der Nervenzellen. Entscheidend ist, wie gut man sich mithilfe seines Gehirns in der Welt zurechtfindet, und das liegt an der sogenannten Konnektivität: an den Verknüpfungen, die im Hirn geschaltet werden. Intelligente und kreative Menschen haben ein hohes Verknüpfungspotenzial; das sind Leute, die in unterschiedlichen Problemlagen immer wieder neue und adäquate Lösungen finden. Die frohe Botschaft aus der Hirnforschung lautet, dass jeder Mensch zu Beginn seines Lebens ein Drittel mehr Nervenzellen hat, als er benötigt, und von Anfang an stellt jeder diese wichtigen Verknüpfungen zwischen ihnen her.

Jojevic: Würde das nicht bedeuten, dass alle Menschen von Beginn an rein neurologisch die gleichen Chancen haben?

Hüther: Die genetischen Programme sind so beschaffen, dass bei allen Kindern dieser Welt ein Gehirn bereitgestellt wird, mit dem sie alles lernen können, was es in ihrer Lebenswelt gibt. Je nachdem, wie man sein Gehirn nutzt, werden bestimmte Bereiche ausgebildet. Zugleich kommt es aber zum Prozess der Apoptose, zum programmierten Untergang der Neuronen: Der Körper baut Gehirnzellen ab, die nicht genutzt werden. Der anfängliche riesige Überschuss an Möglichkeiten ist also das Potenzial. Das, was daraus ausgewählt wird, ist die Fähigkeit oder die Ressource, mit der die betreffende Person ins Leben geht.

Jojevic: Ihre neurologische Erklärung passt sehr gut zu dem, was ich täglich erlebe. Immer wieder habe ich den Eindruck, dass es sozialisationsbedingt ist, wie ein Schüler seine Potenziale und Talente entwickelt. Neulich hatte ich es zum Beispiel mit einem jungen Mann zu tun, der täglich nach der Schule im Kiosk seiner Eltern aushilft. Er wächst in einem Umfeld auf, wo man auf praktische Dinge fokussiert ist und schauen muss, wie man jeden Tag über die Runden kommt. Entsprechend geht er auch seine Zukunftsplanung an: Er macht eine sehr starke Kosten-Nutzen-Abwägung. Das bürgerliche Ideal von der Bildung als Selbstzweck hat nichts mit seinem eigenen Erfahrungshorizont zu tun. Genau da setzt die Aufgabe von uns Talentscouts an: Wir wollen den Blick auch auf solche Aspekte lenken und Leistung im Lebenskontext beleuchten.

Lassen sich denn solche Verknüpfungen, die nicht in der Kindheit ausgebildet wurden, in höherem Alter noch nachholen?
Hüther:
Wissen Sie, wie viel Zeit Eltern im Durchschnitt mit ihren Kindern reden? Jeden Tag sind das zehn Minuten – das ist frappierend, oder? Zehn Minuten! Wie das bei statistischen Werten so ist, gibt es natürlich Eltern, die viel länger mit ihren Kindern reden, und es liegt auf der Hand, dass die sich intellektuell ganz anders entwickeln können.

Gerald Hüther
Gerald Hüther (Foto: Tobias Brabanski)
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Der Hirnforscher

Gerald Hüther ist Hirnforscher und Autor. Er lehrte und forschte viele Jahre an der Universität Göttingen und leitet nun die von ihm initiierte Akademie für Potentialentfaltung. Viele seiner populär­wissenschaftlichen Bücher sind zu Bestsellern geworden; zuletzt erschien Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist (mit Christoph Quarch).

Und wie ist das mit dem Nachholen?
Hüther:
Ich will auf Ihre Frage lieber mit einem fiktiven Beispiel antworten, das weniger schmerzhaft ist. Nehmen wir also an, ein Kind übt sich früh darin, auf Bäume zu klettern. Mit jedem Klettergerüst, das es meistert, sammelt es Erfolgserlebnisse, und im Hirn bilden sich die Verschaltungen, die zum Klettern benötigt werden. Es werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die dazu führen, dass das Kind immer besser wird. Wenn es diese Erfahrungen bis zur Pubertät nicht gesammelt hat und sich dann in jemanden verliebt, der gern auf Bäume klettert, dann werden sich die nötigen Netzwerke noch entwickeln. Aber natürlich ist die Qualität eine andere: Lernt jemand im frühen Alter das Klettern, bilden sich alle anderen Vernetzungen in diesem Kontext; das Klettern wird zum Teil der eigenen Identität. Und diese Entwicklung lässt sich nicht nachholen. 

„Ich erlebe immer wieder, wie wenig aussagekräftig Schulnoten sind.“

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Jelena Jojevic (Foto: Tobias Brabanski)
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Jelena Jojevic

Frau Jojevic, der Begriff Talentscout impliziert ja eine Suche. Wonach suchen Sie bei den Schülern, wenn Sie mit ihnen in Kontakt sind?
Jojevic
: Für die Jugendlichen ist meine Beratung freiwillig. Wer zu mir kommt, zeigt also schon einmal eine Grundmotivation. Im ersten Gespräch erzählen mir die Jugendlichen häufig von sich selbst; sie kommen meistens nicht mit konkreten Vorstellungen, sondern mit einer Idee. Neulich zum Beispiel sprach ich mit einer jungen Frau, die mir sagte, sie wünsche sich einen Job, in dem sie eine Dame sei und in dem man sie respektiere. So etwas muss ich dekodieren. Bei ihr war es das Bild einer Businessfrau, das ihr vorschwebte, und das hatte etwas mit ihrer familiären Situation zu tun, in der sie als Frau kämpfen muss, um sich durchzusetzen. Das sind diffuse Ideen, und natürlich ist nicht gesagt, dass diese Schülerin auch tatsächlich zur Businessfrau wird. Aber ich spüre immer wieder eine unglaubliche Kraft und Motivation bei den Jugendlichen, und darauf kann man mit konkreten Schritten aufbauen.

Nun reicht aber selbst die größte Motivation für ein Studium nicht aus, dafür braucht man erst mal ein gutes Abitur.
Jojevic
: Sie haben recht: Wenn jemand Arzt werden will, aber keine ausreichende Note für das Studium hat, können wir nach Alternativen schauen. Und es geht ja auch nicht darum, jeden an die Uni zu bringen, sondern die Jugendlichen dazu zu befähigen, sich nach ihren Möglichkeiten zu entwickeln. Umgekehrt erlebe ich aber auch immer wieder, wie wenig aussagekräftig die Schulnoten sind. Eine Schülerin etwa hatte einen Notenschnitt um die Drei, und als ich mit ihr sprach, stellte ich fest: Die kümmert sich jeden Tag nach der Schule um ihre jüngeren Geschwister und erledigt zusätzlich noch mit ihren Eltern sämtliche Behördengänge, um ihnen da bei der Übersetzung zu helfen. Da kann man doch nur den Hut ziehen und sagen: Wow, dass sie bei dieser Belastung auch noch die Hausaufgaben schafft, das ist bemerkenswert!

„Unglaubliche Begabungen bleiben unentdeckt, weil sie nicht in unser Bewertungsraster passen.“

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Gerald Hüther (Foto: Tobias Brabanski)
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Gerald Hüther

Hüther: Das ist ein wunderbares Beispiel, um sich zu vergegenwärtigen, dass der Fokus in unserer Gesellschaft nicht günstig ist. Es kann ja ein großartiges Talent sein, sich um andere Leute zu kümmern, so wie das die Schülerin macht, von der Sie gerade sprachen. Es bleiben unglaubliche Talente und Begabungen unentdeckt, weil sie nicht in unser Bewertungsraster passen. Da ist es die elterliche und die pädagogische Kompetenz, solche Begabungen zur Geltung zu bringen. Viele junge Leute stehen unter sozioökonomischem Druck – und unter Druck ist eine Potenzialentfaltung nicht möglich.

Frau Jojevic, Sie bringen als Talentscout junge Leute an die Universität, die nicht unbedingt dem Bild der klassischen Studierenden entsprechen. Gibt es da an der Uni Berührungsängste?
Jojevic:
Gerade am Anfang stand öfter die Frage im Raum, ob denn die Leute überhaupt „studierfähig“ seien, wie es immer genannt wurde. Aber unser Programm ist ja gerade dafür da, dass die Studieninteressenten ein paar wenige Dinge nachholen können, die für ein Studium nötig sind – da geht es allein schon um die Frage, wie man sich in bestimmten Strukturen bewegt, wo man sich einschreibt und so weiter. Ich selbst finde übrigens, dass es kein Beinbruch ist, wenn jemand in seiner ersten Hausarbeit kein astreines Hochdeutsch liefert – das ist eine Kompetenz, die man rasch nachholen kann. Stattdessen bringen diese neuen Studierenden eine ungewöhnliche soziale Kompetenz mit, eine unglaubliche Zähigkeit und eine hohe Frustrationstoleranz. Warum wird nicht auch auf solche Talente geschaut?

Hüther: Das kann ich nur unterstreichen. Als Hirnforscher weiß ich: Jede Form von Wettbewerbs- und Selektionsdruck führt dazu, dass nicht Talente entfaltet werden, sondern höchstens einzelne Teilleistungen hoch spezialisiert eingeübt werden. Wenn jemand sich durch Druck an der Schule so tief in die Mathematik einarbeitet, dass er da zum Spezialisten wird, heißt das nicht, dass Mathe sein angeborenes Talent ist – nein, er hat einfach eine Fähigkeit ausgebildet, die jemand anderes für wichtig hält. Dieser Wettbewerb bringt Einzelkämpfer hervor, die durchaus hervorragende Leistungen auf ihrem Feld erbringen. Aber unsere Welt ist so komplex geworden, dass solche Einzelkämpfer die drängenden Probleme nicht mehr lösen können. Wir brauchen jetzt Menschen, die in der Lage sind, mit ihren jeweiligen Besonderheiten zusammenzuarbeiten und gewissermaßen cokreativ nach Lösungen zu suchen.

Jojevic: Ein junger Mann erzählte mir neulich seinen unglaublichen Fall: Er sollte zu Grundschulzeiten auf die Sonderschule. Da hat sich eine engagierte Lehrerin seiner angenommen und ihm den Weg in die Oberstufe einer Gesamtschule bereitet. Dort hatte er Kontakt mit meiner Kollegin, einem Talentscout. Dieser Schüler hatte Defizite im sprachlichen Ausdruck, er belegte Förderkurse und folgte zugleich immer weiter seinem Interesse an der Technik. Und stellen Sie sich vor: Er hat das Abitur mit einem sehr guten Schnitt geschafft und sich jetzt für Maschinenbau eingeschrieben. Solche Erfolgsgeschichten gibt es nicht in jedem Fall, aber ich staune immer wieder darüber, welche Entwicklungen möglich sind, wenn nur jemand den Schülern Raum gibt – vermutlich so ähnlich wie damals bei Ihnen auf der Wassermühle.

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Foto: Tobias Brabanski
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