Hüther: Das ist ein wunderbares Beispiel, um sich zu vergegenwärtigen, dass der Fokus in unserer Gesellschaft nicht günstig ist. Es kann ja ein großartiges Talent sein, sich um andere Leute zu kümmern, so wie das die Schülerin macht, von der Sie gerade sprachen. Es bleiben unglaubliche Talente und Begabungen unentdeckt, weil sie nicht in unser Bewertungsraster passen. Da ist es die elterliche und die pädagogische Kompetenz, solche Begabungen zur Geltung zu bringen. Viele junge Leute stehen unter sozioökonomischem Druck – und unter Druck ist eine Potenzialentfaltung nicht möglich.
Frau Jojevic, Sie bringen als Talentscout junge Leute an die Universität, die nicht unbedingt dem Bild der klassischen Studierenden entsprechen. Gibt es da an der Uni Berührungsängste?
Jojevic: Gerade am Anfang stand öfter die Frage im Raum, ob denn die Leute überhaupt „studierfähig“ seien, wie es immer genannt wurde. Aber unser Programm ist ja gerade dafür da, dass die Studieninteressenten ein paar wenige Dinge nachholen können, die für ein Studium nötig sind – da geht es allein schon um die Frage, wie man sich in bestimmten Strukturen bewegt, wo man sich einschreibt und so weiter. Ich selbst finde übrigens, dass es kein Beinbruch ist, wenn jemand in seiner ersten Hausarbeit kein astreines Hochdeutsch liefert – das ist eine Kompetenz, die man rasch nachholen kann. Stattdessen bringen diese neuen Studierenden eine ungewöhnliche soziale Kompetenz mit, eine unglaubliche Zähigkeit und eine hohe Frustrationstoleranz. Warum wird nicht auch auf solche Talente geschaut?
Hüther: Das kann ich nur unterstreichen. Als Hirnforscher weiß ich: Jede Form von Wettbewerbs- und Selektionsdruck führt dazu, dass nicht Talente entfaltet werden, sondern höchstens einzelne Teilleistungen hoch spezialisiert eingeübt werden. Wenn jemand sich durch Druck an der Schule so tief in die Mathematik einarbeitet, dass er da zum Spezialisten wird, heißt das nicht, dass Mathe sein angeborenes Talent ist – nein, er hat einfach eine Fähigkeit ausgebildet, die jemand anderes für wichtig hält. Dieser Wettbewerb bringt Einzelkämpfer hervor, die durchaus hervorragende Leistungen auf ihrem Feld erbringen. Aber unsere Welt ist so komplex geworden, dass solche Einzelkämpfer die drängenden Probleme nicht mehr lösen können. Wir brauchen jetzt Menschen, die in der Lage sind, mit ihren jeweiligen Besonderheiten zusammenzuarbeiten und gewissermaßen cokreativ nach Lösungen zu suchen.