Zunächst einmal: Die meisten Kriminalfälle, selbst die schweren, tauchen in den überregionalen Zeitungen und Sendern überhaupt nicht auf. Wäre dem so, müssten wir uns hierzulande täglich mit rund sieben Tötungsdelikten und 25 Sexualverbrechen beschäftigen. Die schiere Masse zwingt Redakteure also, nur die gesellschaftlich relevanten Fälle herauszupicken. Und selbst dann stehen sie vor kniffligen Entscheidungen: Sollen wir eine Agenturmeldung bringen – oder ein Reporterteam losschicken? Sollen wir die Herkunft des Täters nennen oder nicht? Zu welcher gesellschaftlichen Debatte passt der Vorfall: psychische Gesundheit, Machokultur, Flucht, Fundamentalismus?
Die journalistische Selektionslogik ist nicht in Stein gemeißelt. Sie ändert sich stetig und folgt dabei Schlüsselereignissen. „Das sind spektakuläre Vorfälle, über die besonders viel berichtet wird. Die führen dazu, dass in der Folge etliche andere Ereignisse für Journalisten interessanter werden“, erklärt Marcus Maurer, Kommunikationswissenschaftler an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Einige Forscher vermuten, dass diese Ereignisse die klassischen journalistischen Auswahlkriterien vorübergehend außer Kraft setzen. Die sexuellen Übergriffe zur Silvesternacht 2015/16 in Köln waren so ein Moment. Maurer und seine Kollegen analysierten sechs große deutsche Zeitungen und Fernsehsender systematisch auf Meldungen zum Thema Flucht. Für das Jahr 2015 zählten sie 92 Beiträge über Flüchtlingskriminalität. Nach der Silvesternacht explodierte das Thema regelrecht. Allein im Januar 2016 berichteten diese Medien 196 Mal darüber. Zieht man die Artikel über die Kölner Silvesternacht ab, verbleiben immer noch 86 Beiträge – fast so viele wie im gesamten Vorjahr also.