Ethnografie der Netzkulturen

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(Foto: istock/Catherine Lane)
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Der österreichische Expeditionsschreiber Dr. Karl von Scherzer brachte im Jahr 1858 vier Wochen in Sydney mit der Erforschung „der Australier” zu: „Zu gewissen Zeiten versammeln sich mehrere Familien oder Stämme, um beim Lichte des Vollmondes Tänze, sogenannte Korropori’s, aufzuführen. Diese Tänze sind eben so sinn- als zwecklos; man springt oft ganze Nächte lang bis zur vollkommensten Ermüdung herum, und dies ist zugleich die einzige lebhafte Äusserung ihres Gemüthes, welches sonst in thierischer Dumpfheit befangen dahinbrütet.”[1] So konnte man im 19. Jahrhundert noch schreiben – jedenfalls, wenn man nicht damit rechnen musste, nach Sinn und Zweck der Wiener Gesellschaftstänze befragt zu werden. Später sahen die Ethnografen dann das Licht und wurden anständige, vorurteilslose Bürger, nannten die Bewohner anderer Gegenden nicht mehr wild und auch nicht primitiv und brachten nur noch gründlich Beobachtetes und von einheimischen Fachleuten Bestätigtes zu Papier.

So hatte ich mir das jedenfalls vorgestellt, bevor ich mit dem Schreiben dieses Beitrags begann. In der Ethnografie arbeitet man schon lange nicht mehr so, wollte ich sagen, und nur beim Schreiben über fremde Kulturen im Netz ist es immer noch erlaubt und üblich. Aber geschichtliche Entwicklungen benehmen sich vor dem Betrachter wie ein Wurf Kätzchen beim Fotografen, sie sitzen nicht gern in einer Reihe und halten still, und falls man sie doch einmal so aufs Bild bekommt, dann hat man einen irreführenden Ausschnitt aus dem Geschehen festgehalten.

 

Zum einen konnte man 100 Jahre nach Karl von Scherzers Expedition immer noch über andere Menschen schreiben wie über Außerirdische. Der US-Anthropologe Napoleon Chagnon über seine erste Begegnung mit den Yanomami, 1968: „Ich schaute auf und schnappte nach Luft, als ich ein Dutzend kräftiger, nackter Männer sah, die entlang der Schäfte ihrer eingespannten Pfeile auf uns blickten! Riesige Bäusche grünen Tabaks klebten ihnen zwischen Unterkiefer und Lippen und ließen sie noch scheußlicher erscheinen; Stränge dunkelgrünen Schleims tropften aus ihren Nasen. (…) Ich war entsetzt!"[2] Zum anderen gab es auch vor Scherzers Reise bereits Anleitungen für präziseres ethnografisches Schreiben, hier von dem französischen Orientalisten Constantin François Volney aus dem Jahr 1795: „Für eine solche Studie muß man mit den Menschen, die man gründlich untersuchen will, verbunden sein, man muß sich in ihre Situation hineinversetzen, so daß man spüren kann, welche Kräfte auf sie wirken und welche Gemütsbewegungen daraus entstehen; man muß in ihrem Lande leben, ihre Sprache lernen, ihre Bräuche ausüben (…)  man muß nicht nur die Vorurteile bekämpfen, auf die man stößt, man muß auch die besiegen, die man mit sich bringt; denn das Herz ist parteiisch, die Gewohnheit mächtig, die Tatsachen sind verfänglich und die Täuschung ist bequem.”[3]

Wenn 2017 über Geschehnisse im Netz geschrieben wird, sind die Herzen nicht weniger parteiisch und die Tatsachen nicht weniger verfänglich, als sie es 1795 waren. Die sinn- und zwecklosen Tänze bei Facebook und Twitter! Die Wilden bei Reddit! Die Primitiven bei 4chan! Die abstoßenden Gebräuche der Buchbloggerinnen und Fanfiction-Autorinnen! Die rohen Rituale der Gamer!

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Illustration: Irene Sackmann)
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Ein Ticket wurde eröffnet

Wer Kathrin Passigs Texte im Techniktagebuch liest, erfährt von ihren offenbar recht häufigen Reisen, vorzugsweise nach Irland. Dort schlägt sie sich nicht selten mit den Besonderheiten des Mobilfunks herum oder ergründet das kryptische Postleitzahlen- oder nicht vorhandene Hausnummernsystem. Ohnehin sind die Kapriolen der Technik offenbar ihr Herzensthema und charmante Betrachtungen wie z.B. über die hin und wieder zu erlebende Änderung der Wagenreihung bei der Deutschen Bahn lassen unvermittelt an den großen Jaques Tati denken. Doch wo Tati den Tücken des Technischen konsequent und humorvoll-linkisch erlag, findet Kathrin Passig immer einen souveränen Zugang zu den Unergründlichkeiten der postmodernen Technikwelt. Technik - so lernt man bei ihr - ist weder gut oder schlecht: Es kommt nur darauf an, wie man sich ihr nähert. Technik - lehren uns ihre Texte - muss uns nicht immer so schrecklich ängstigen, sie muss uns aber auch nicht besoffen machen. Manchmal ist Technik ärgerlich und oft einfach nur komisch - in jedem Falle aber lohnt es sich, über sie nachzudenken. 

Kathrin Passig bei Twitter

Stippvisiten im Netz

Aber das liegt nicht daran, dass man im Journalismus noch nicht auf dem Erkenntnisstand der Ethnografie angekommen wäre. Ein Grund für voreingenommene Berichterstattung ist, dass es zu oft zu schnell gehen muss. Im von Howard Rheingold unterrichteten Kurs „Virtual Communities and Social Media” an der Stanford University und an der UC Berkeley bekommen Studierende die Aufgabe „Read ethical guidelines, then join a virtual community and spend an hour in it”. In so einen Kurs muss viel Material hineinpassen und die Studierenden haben nicht ewig Zeit. Aber die Vorstellung, dass man in einer Stunde etwas über eine Netzgemeinschaft und nicht nur über die eigenen Annahmen und Vorurteile herausfinden kann, führt in etwa so weit wie die, nach vier Wochen wisse man über „die Australier” Bescheid.

Das ist eigentlich auch Forschungsreisenden und Journalistinnen bekannt, und wenn sie es einmal vergessen, machen Proteste der Leserschaft sie schnell darauf aufmerksam. Vorausgesetzt, es gibt darunter auch Menschen, die mehr über die beschriebenen Sitten und Gebräuche wissen. Muss man hingegen nicht damit rechnen, dass diejenigen, deren thierisch dumpfe Gemüter man schildert, den Text jemals lesen werden, dann verleitet das zu Abkürzungen bei der Arbeit. Wenn so ein Text am anderen Ende der Welt in einer anderen Sprache erscheint oder wenn sich die beschriebene Kultur und die der zu erwartenden Leserschaft nicht überschneiden, ist die Gefahr öffentlicher Korrekturen gering.

„Der niedrige soziale Status von Genreliteratur, Fanfiction, Computerspielen und noch namenlosen neuen Beschäftigungen im Netz entwertet gleichzeitig ihre Anhänger und deren Proteste.“

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Foto: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de)
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Kathrin Passig

Aber viele Netzkulturen sind international, und darauf, dass Zeitungsartikel nur von Abonnenten der Papierausgabe wahrgenommen werden, kann man sich nicht mehr verlassen. Diese These deckt also nur einen kleinen Teil der Berichterstattung über entsetzlichen grünen Nasenschleim ab. Ein größerer Teil lässt sich nur so erklären, dass den Berichtenden der zu erwartende Widerspruch der Beschriebenen egal sein muss: Berichterstattung über Buchbloggerinnen in Printmedien ist so ein Fall. Kritik von Buchbloggerinnen an oberflächlichen, herablassenden oder falschen Darstellungen bringt keine beruflichen Nachteile für FAZ-Autoren[4] mit sich.

Mit nachlässiger Ethnografie müssen vor allem Kulturen im Netz rechnen, die sich mit als unseriös geltenden Themen beschäftigen. Der niedrige soziale Status von Genreliteratur, Fanfiction, Computerspielen und noch namenlosen neuen Beschäftigungen im Netz entwertet gleichzeitig ihre Anhänger und deren Proteste.

Die Versuchung, sich grob fahrlässig über andere Kulturen zu äußern, existiert unabhängig von Jahrhundert und Thema. Sie lässt sich nur dort lindern, wo es ein berufliches Umfeld gibt, dessen Urteil für die Schreibenden zählt und in dem Einigkeit darüber herrscht, dass man sich bei der Beschreibung eines bestimmten Aspekts der Welt nicht bloß auf das beschränken sollte, was einem beim ersten Anblick durch den Kopf geht. Leider gilt diese Einsicht immer nur für das jeweilige Fach, und wer empört auf ahnungslose Fußballberichterstattung reagiert, schreibt deshalb noch nicht gewissenhafter über 4chan oder die Yanomami.

Bei Netzphänomenen kommt erschwerend hinzu, dass sie schneller entstehen und vergehen, als selbst die gutwilligsten Forscher im Lande leben, die Sprache lernen und die Bräuche ausüben können. Die Berichterstattung über scheußliche Erscheinungen und zwecklose Tänze wird uns also weiter begleiten, bis das Internet ausstirbt und durch etwas noch Absonderlicheres ersetzt wird. Danach verlagert sie sich auf ein anderes Feld, echte Außerirdische oder die Zivilisationen im Inneren der Hohlerde vielleicht.

 

 

Anmerkungen:
[1] Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den Jahren 1857, 1858, 1859 unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllerstorf-Urbair. Anthropologischer Theil. Dritte Abtheilung: Ethnographie auf Grund des von Dr. Karl v. Scherzer gesammelten Materials, bearbeitet von Dr. Friedrich Müller, Professor der Orientalischen Linguistik an der Wiener Universität. Herausgegeben im Allerhöchsten Auftrage unter der Leitung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien 1868, gefunden bei Google Books.

[2] Napoleon Chagnon, 1968, aus „Yanomamö: The Fierce People”, zitiert nach Dieter Haller: dtv-Atlas Ethnologie (2005). Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Dr. Franziska Nyffenegger.

[3] Constantin François Volney: C. F. Volney's Reise nach Syrien und Aegypten (1795). Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Dr. Franziska Nyffenegger.

[4] Das ist sicher kein auf die FAZ beschränktes Problem, aber die zwei Beispiele, an die ich mich erinnere, sind eben beide dort erschienen: Harun Mayes „Ein zarter Flirt mit dem Warenfetisch” (2011) und Oliver Jungens Beitrag „Wie entsteht ein Mega-Bestseller” über die LitBlog Convention 2016 (leider nicht online verfügbar).

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