Sobald Erasmus Mayr in die Praxis eintaucht, wird es abenteuerlich. „Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel“, ruft er und schweigt einige Sekunden lang, um sich etwas auszudenken. Gerade sind seine kleinen Kinder erkältet, also baut er die Krankheit mit ein in seine Geschichte: „Nehmen wir an, Sie transportieren jemanden auf der offenen Ladefläche Ihres Lastwagens, was ja a priori verboten ist. Weil’s Herbst ist, erkältet er sich. Sind Sie jetzt für diese Erkältung verantwortlich?“
Erasmus Mayr schaut sein Gegenüber nach solchen Fragen herausfordernd an. Schnell wird ein Gespräch mit ihm zu einer Einführung in die Philosophie, in die Gedankenwelten, in denen er sich üblicherweise bewegt. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg lehrt Mayr, und wenn er seine Beispiele ausbreitet, dann merkt man schnell, dass der 42-Jährige nicht nur Philosoph ist, sondern auch Jurist. „Bemerkenswert ist“, sagt er, „dass die Rechtswissenschaft auf diese Fragen oft eine andere Antwort gibt als die Philosophie.“ Dass es ihm gelingt, beide Denkschulen zu verbinden und die Ansätze kunstvoll miteinander zu verzwirbeln, macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung unter den zeitgenössischen Philosophen.
Impact of Science
„Nehmen wir an, ich will meinen reichen Erbonkel umbringen …“

Der Philosoph Erasmus Mayr ist Spezialist für Handlungsethik. Und weil er auch Jurist ist, nähert er sich dem Gebiet von zwei Seiten – mit bemerkenswerten Ergebnissen. Für seine Arbeit wird er jetzt mit dem Deutschen Preis für Philosophie und Sozialethik ausgezeichnet.
„Es ist bemerkenswert, dass die Rechtswissenschaft oft eine andere Antwort gibt als die Philosophie.“

Grundsätze der Handlungsethik
„Da tun sich ungemein spannende Fragen auf“, sagt er und setzt wieder seinen nachdenklichen Blick auf. „Nehmen wir an, ich will meinen reichen Erbonkel umbringen. Also überrede ich ihn zu einem Flug nach Australien in der Hoffnung, dass er unterwegs abstürzt. Er geht auf mein Zureden ein – und das Flugzeug stürzt tatsächlich ab. Rein juristisch bin ich nicht verantwortlich, weil ein solcher Absturz zum allgemeinen Lebensrisiko gehört.“ Die Philosophen aber sehen die Kausalität anders, schließlich wäre der Onkel ohne die Überredungskünste nie in das Flugzeug gestiegen.
Erasmus Mayr ist es nicht an oberflächlichen Beispielen gelegen, sondern an den höheren Prinzipien dahinter – an Prinzipien, die die Philosophie schon seit ihren Anfängen zu formulieren versucht. „Es geht darum, verschiedene Versatzstücke von unserem Selbst- und Weltverständnis miteinander in Einklang zu bringen – und diese Versatzstücke ändern sich im Laufe der Zeit. Unser Weltverständnis heute ist etwa durch die Fortschritte in den Naturwissenschaften völlig anders als vor der Neuzeit“, sagt Mayr. Die Kernfrage aber ist immer die gleiche in der Handlungstheorie: Ist der Mensch ein selbstbestimmter Akteur – oder ist er lediglich getrieben; eingezwängt in die Naturgesetze, die unerbittlich wirken? Hier kommt wieder die Rechtswissenschaft ins Spiel: Während das Verständnis von der Welt im Wesentlichen durch die Naturwissenschaften geprägt wird, spiegelt die Rechtswissenschaft sehr gut das Selbstverständnis des Menschen – mithin die zweite Komponente in den Abwägungen.
Bereits mit 30 Jahren veröffentlichte Erasmus Mayr ein Buch, in dem er genau dieses Spannungsfeld zum Thema macht und das bis heute Standards setzt: „Understanding Human Agency“ ist es überschrieben, und Mayr versucht darin, drei Thesen zum menschlichen Selbstbild in Einklang zu bringen, die bislang oft als widersprüchlich galten. Erstens: Dem Menschen stößt nicht nur etwas zu, er handelt aktiv. Zweitens: Der Mensch ist Teil der Natur, seine Handlungen müssen deshalb in der Natur verortet sein. Und drittens: Die menschlichen Handlungen sind intentional erklärbar.
Komplexeste Themen verständlich machen
Zur Kunst von Mayr gehört es, über die denkbar komplexesten Themen auf jeder Bühne reden zu können: auf großen wissenschaftlichen Podien ebenso wie vor philosophischen Laien, denen er mit seiner markanten Gestik en passant einen gesamten universitären Grundkurs angedeihen lässt, gespickt mit seinen spontan improvisierten Beispielen und getragen von seinem leichten Münchner Akzent. „Der klingt manchmal noch durch“, sagt er und schiebt schmunzelnd hinterher: „Obwohl ich ihn ein bisschen zu verstecken versuche, damit ich hier in Franken nicht allzu sehr auffalle!“ Seinen doppelten akademischen Hintergrund in Philosophie und Jura hingegen versteckt er nicht, im Gegenteil – schließlich kann er davon besonders profitieren. So war das schon während des Studiums, auch wenn er manchen Kommilitonen und Kommilitoninnen sowie Professorinnen und Professoren mit seinen vermeintlich gegensätzlichen Interessensgebieten ein Rätsel aufgegeben hat. „Eigentlich hat das aber nie jemand groß thematisiert, weder in Philosophie noch in Jura“, sagt er. „Beide Seiten waren fest davon überzeugt, dass ich mich nach dem Studium schon zu ihrer Seite bekehren werde!“
