Im Strudel der Daten

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Kreisverkehr in Bangkok (Foto: Getty Images/ Anucha Sirivisansuwan)
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Fangen wir ganz klassisch in der Buchhandlung an: Früher noch wusste der Buchhändler vor Ort, welcher seiner Stammkunden sich für welche Bücher interessiert. Wenn ein Stammkunde wieder einmal in den Laden kam, erhielt er persönliche Empfehlungen – und die Auswahl war meistens passend. Was derzeit passiert, ist eigentlich nichts anderes als eine Fortschreibung dieses Prinzips, nur dass der lokale Buchhändler ersetzt wird durch riesige Rechenzentren. Der Online-Händler weiß jetzt von extrem viel mehr Kunden, welche Bücher sie kaufen. Wenn er dann in den Daten erkennt, dass viele, die Karl May lesen, als nächstes Bücher von Jules Verne kaufen, wird er einem neuen Karl-May-Leser auch gleich noch Jules Verne vorschlagen. Und da immer mehr Bücher auf E-Readern gelesen werden, weiß der Online-Händler oft sogar, ob ein gekauftes Buch überhaupt gelesen wird, bis zu welcher Stelle der Leser kommt und wo vielleicht sein Lesefluss stockt.

Genau das verstehen viele unter dem Begriff Big Data: die Möglichkeit, immer mehr über das Verhalten von immer mehr Menschen zu wissen. Und oft wird Big Data dann mit düsteren Szenarien wie etwa einer lückenlosen Überwachung oder einem gläsernen Privatleben assoziiert. Um einem falschen Eindruck vorzubeugen: Auch ich sehe es skeptisch, wenn Daten gehortet werden und ich nicht einmal mehr ansatzweise erfassen kann, was eigentlich an welcher Stelle über mich gespeichert ist. In der Informatik sprechen wir auch von „digitalen Zwillingen“, die aufgebaut werden: digitale Profile realer Menschen und ihrer Vorlieben und Eigenschaften. Diese Profile werden dann genutzt, um Werbung einzublenden und generell Entscheidungen zu beeinflussen. Vermutlich gibt es von vielen Menschen bereits sehr präzise digitale Doppelgänger, ohne dass die Betreffenden davon etwas wissen.

Wenn man die Debatte aber an dieser Stelle abbricht, verkürzt man sie zu stark. Denn Big Data hat auch eine andere Seite: Ich bin überzeugt davon, dass Datennutzung auch sehr viele Vorteile mit sich bringen kann – und dass sie gerade in der Arbeitswelt gewaltige Verbesserungen und Erleichterungen anstoßen wird.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu viele Daten-Analphabeten gibt.“

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Matthias Hagen (Foto: privat)
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Matthias Hagen

Was ist Big Data?

Was aber ist eigentlich genau dieses ominöse Big Data? Das Paradoxe an der Sache ist: Der Begriff wird zwar in vielen Debatten als Schlüssel zu grundstürzenden, zu disruptiven Veränderungen genannt. Unklar ist dabei aber nicht nur die Art der bevorstehenden Umbrüche, sondern allein schon die Definition des Begriffs. Manche definieren Big Data einfach als das, was zu groß ist, um auf traditionelle Art oder auf einem einzelnen Rechner verarbeitet zu werden. Andere nutzen als Definition einfach das skizzierte Szenario, nach dem sehr viel über das Verhalten von Menschen gespeichert wird, sodass „jemand anderes mehr über mich weiß als ich selbst“. Fest steht: Das Schlagwort Big Data kam um die Jahrtausendwende herum auf und verbreitete sich in den folgenden Jahren immer weiter. Da Speicherplatz immer billiger wurde, ist das Datensammeln zum Trend und aus Big Data ein Modebegriff geworden.

In der Informatik gliedern wir Big Data, grob gesagt, in zwei Bereiche. Zum einen sind da die Daten über Individuen – jener Aspekt, der in der öffentlichen Wahrnehmung vorherrscht. Zum anderen gehören aber natürlich auch technischere Daten von Sensoren und Simulationen mit dazu, wie sie etwa in der Industrie 4.0 massenhaft anfallen. Beide Bereiche werden auf die Arbeitswelt grundlegenden Einfluss haben.

Fangen wir mit den Sensor- und Simulationsdaten an. Stellen Sie sich eine Windkraftanlage mit riesigen Rotoren vor. Hier gibt es etliche Verschleißteile und hochgradig belastete Verbindungen. Wenn bei starkem Wind etwas kaputt geht, kann das bei den herrschenden Kräften schwerwiegende Folgen haben. Moderne Anlagen sind deshalb mit Sensoren ausgestattet, die zum Beispiel Schwingungen messen. Sensordatenanalyse führt dann dazu, dass eine Wartungsfirma die betreffenden Komponenten deutlich effizienter als in fest vorgeschriebenen Intervallen prüfen und austauschen kann: nämlich immer genau vor dem Moment, in dem wirkliche Probleme auftauchen würden. Nach ähnlichen Prinzipien wird auch die Wartung von Fertigungsstraßen oder anderen Großgeräten funktionieren – überall dort, wo besser keine Bauteile kaputt gehen sollten, wo aber gleichzeitig das zu frühe Austauschen ein großer Kostenfaktor sein kann. Wenn man also bei Windrädern und großen Maschinen gewaltige Mengen an Daten sammelt, auswertet und mit den Daten aus ähnlichen Anlagen vergleicht, kann das viel Geld einsparen – und große Entlastungen für das menschliche Personal bringen.

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Foto: Getty Images/ Yiu Yu Hoi)
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Dann gibt es aber natürlich auch noch die Daten, die über Individuen gesammelt werden. Natürlich liegen da dystopische Szenarien nahe, und manchmal werden sie sogar schon Wirklichkeit: In China etwa wird gerade das social credit system eingeführt – eine Art Ratingsystem für Individuen oder Firmen, das analytisch Verhaltensweisen, Kontaktpersonen, Konsumgewohnheiten und vieles mehr zu einem Score verrechnet. Schlechte Scores führen dann zu Nachteilen im echten Leben. Natürlich ist das etwas, das auch mir Sorgen bereitet. In unserer Gesellschaft ist es sicher noch nicht so weit, trotzdem haben manche aber – nicht ganz zu Unrecht – Bedenken, dass etwa bei Bewerbungen der Personalchef aus sozialen Medien jede Menge über den Kandidaten erfahren kann. Dass er in der Freizeit gern Risikosport treibt zum Beispiel, oder welche Weltanschauung er vertritt – Dinge, die in einem klassischen Bewerbungsgespräch vermutlich nicht zur Sprache kommen würden. Auch hier kann das Datensammeln ungewünschte Nebeneffekte haben.

Wo Daten das Leben wirklich verbessern

Aber schauen wir uns doch auch Bereiche an, wo automatische Analysen von Individualdaten das Leben verbessern können. Etwa in der Medizin: Kein Arzt kann alle Fachpublikationen lesen, geschweige denn die Behandlungsdaten sämtlicher Patienten auswendig kennen. Nehmen wir an, dass einer seiner Patienten an einer seltenen Krankheit leidet und verschiedene Medikamente einnimmt. Der Arzt will ihm gern eine neue Tablette verschreiben – und bekommt vom Computer rechtzeitig den Hinweis, dass bei ähnlichen Patienten (vielleicht sogar an einem weit entfernten Ort) bei der geplanten Kombination von Wirkstoffen ungewollte Nebenwirkungen dokumentiert wurden. Die Technik als Helfer des Menschen: Das ist die Rolle, die Big Data einnehmen kann. Eines der verbreitetsten Beispiele, in dem Big Data diese Aufgabe schon erfüllt, kennt wohl jeder: die dynamischen Navigationssysteme, die basierend auf Bewegungsdaten anderer Verkehrsteilnehmer entstehende Staus schnell erkennen und direkt geeignete Umfahrungen vorschlagen, bevor überhaupt eine Staumeldung der Polizei eintrifft. Ähnlich dezent, aber doch weitreichend, könnte Datenanalyse auch in der Arbeitswelt Unterstützung leisten.

Während die Technisierung und Mechanisierung es schaffen, den Menschen langweilige, gefährliche und körperlich anstrengende Berufe zu erleichtern, werden jetzt durch Big Data andere betroffen sein – und zwar gerade auch die Hochqualifizierten. Schon heute überprüfen Computerprogramme die Finanzbuchhaltung von Unternehmen auf Unregelmäßigkeiten, in der Medizin können Ärzte vielfältige Unterstützung durch automatische Datenanalysen bekommen, bei Banken wachen Algorithmen über die Kreditvergabe, um das Risiko von menschlichen Fehleinschätzungen zu verringern. Und in Schulen und an der Universität? Da beobachtet in Online-Kursen eine Software das Lernverhalten von Schülern und Studierenden und kann gezielt Wiederholungen oder passende nächste Lehrbausteine vorschlagen.

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Matthias Hagen (Foto: privat)
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Der Autor

Matthias Hagen ist Professor für Big Data Analytics an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zuvor lehrte und forschte der Informatiker an der Bauhaus-Universität in Weimar.

Mensch bleibt im Mittelpunkt

Das sind allerdings eben auch Felder, wo es vielen wichtig ist, dass sie anderen Menschen gegenübersitzen: Wir wollen uns nicht nur von einer Maschine untersuchen lassen, wir wollen beim Lernen oft nicht auf den Kontakt mit einem Menschen aus Fleisch und Blut verzichten, und selbst im scheinbar von Disruption bedrohten Verkehrswesen fühlen sich derzeit viele besser, wenn im Fortbewegungsmittel ein Mensch die Kontrolle zu haben scheint und nicht ein selbststeuernder Algorithmus.

Meine Prognose ist deshalb, dass in zehn Jahren weitreichende Entscheidungen wie die Medikamentengabe, die Ausbildung in Schule und Universität, aber auch das Verkehrswesen betreffend natürlich noch immer nicht ohne die Beteiligung von Menschen auskommen werden. Gleichzeitig werden die Mitarbeiter in all diesen Bereichen aber noch viel mehr Schützenhilfe von Analyseprozessen bekommen, die im Hintergrund ablaufen. Denkbar ist durchaus, dass weniger Menschen zur Überwachung oder Begleitung solcher automatischen Prozesse notwendig sein werden. In welcher Form dieser Wegfall von Arbeitsplätzen durch das Entstehen neuer Tätigkeitsfelder kompensiert werden wird, lässt sich heute noch nicht abschätzen.

Wichtig wird es daher vor allem sein, nicht einfach alles technisch Mögliche auch direkt ein- und umzusetzen. Die entscheidende Frage muss eher in einem fortlaufenden Prozess unter Beteiligung möglichst vieler Organe ausgehandelt und immer wieder neu tariert werden: Welche Formen von Datenanalysen und welche automatischen Erleichterungen heißen wir als Gesellschaft gut? Um eine Beteiligung möglichst vieler an einer solchen Diskussion zu ermöglichen, dürfen wir nicht weiter hinnehmen, dass es zu viele Daten-Analphabeten in unserem hochtechnisierten Land gibt. Schon in der Schule muss für jeden deutlich werden, dass die Grundgesetze der Statistik zusammen mit riesigen Datensammlungen und maschinellem Lernen viele Lebensbereiche unheimlich stark beeinflussen. Klar ist: Wir bekommen durch die technische Entwicklung mit Big Data Analytics ein mächtiges Werkzeug in die Hand, das auch den Arbeits­markt dauerhaft verändern wird – und wir alle sollten informiert mitentscheiden können, wie dieses Werkzeug genutzt wird.

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