Lernen für Pioniere

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Foto: Felix Brüggemann
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Der Präsident hat seine Handynummer zur Sicherheit an die Tür geschrieben. Die Klingel funktioniert noch nicht, überall im Haus sind Handwerker unterwegs, und so läuft er selbst herbei, um Besucher einzulassen. „Hallo“, ruft er zur Begrüßung und streift seinen Pferdeschwanz zurück, „komm einfach rein!“

Wer Manuel Dolderer hinterherläuft durch seine Hochschule, der verliert mit jedem Schritt eines der Vorurteile darüber, wie die akademische Welt funktionieren muss. Der Blick öffnet sich in einen riesigen Raum, an der Decke hängen die silbern glänzenden Rohre der Klimaanlage und Dutzende Stromkabel, die sich farbig vom Sichtbeton abheben. Dolderer steigt über die Kisten, die gerade ein Paketdienst angeliefert hat, und zeigt auf die gläsernen Räume, die sich rechts an der Fensterfront aneinanderreihen: Auf Knopfdruck schieben sich die Türen auf, dahinter jeweils ein Konferenztisch und ein riesiger Bildschirm für Präsentationen. Auf der anderen Seite stehen wild durcheinandergewürfelt Designersessel, an die ein Arbeitstisch angebaut ist, der gerade groß genug für einen Laptop ist. „Mit dem, was wir hier machen“, sagt Dolderer, „haben wir einen Nerv getroffen.“

Natürlich steht sie in Berlin, die jüngste deutsche Hochschule, ein paar Schritte nur entfernt vom hippen Görlitzer Ufer in Kreuzberg, wo jedes zweite Haus ein exotisches Restaurant, einen angesagten Club oder zumindest eine Vollkornbäckerei beherbergt.

Die Lust am Lernen

Der wohl jüngste deutsche Hochschulpräsident: Manuel Dolderer (40)
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Foto: Felix Brüggemann
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Manuel Dolderer holt sich eine Flasche Limonade und steuert eine Besprechungsecke mit türkisfarbenen Polstern an. „Das ist Tom“, sagt Dolderer und deutet auf den Mann, der dort sitzt. Tom ist Thomas Bachem, Initiator der Hochschule und ihr Kanzler. Er bildet mit Dolderer ein Gespann, das sich bestens ergänzt: Visionär und Macher der eine, Hochschulprofi der andere. Dolderer ist mit 40 Jahren der wohl jüngste deutsche Hochschulpräsident, Bachem fällt mit seinen 31 Jahren gar nicht weiter zwischen den Studierenden auf. Aber ums Alter geht es nicht, sondern um die guten Ideen – und vor allem um die Lust am Lernen: Um Softwareentwicklung und das Programmieren geht es; die klassischen Studienpläne voller Seminare, Vorlesungen und Übungen gibt es nicht. Täuschen lassen darf man sich aber nicht von dieser augenscheinlichen Coolness und auch nicht vom Bällebad mit seinen 36.000 Plastikbällen, das Start-up-Atmosphäre verbreiten soll: Leicht ist es nämlich nicht, das Studium an der Code University.

„Wir hatten vor der Gründung lange überlegt, ob wir tatsächlich eine anerkannte private Hochschule mit vollwertigen akademischen Titeln werden wollen“, sagt Gründer Thomas Bachem, „oder ob wir nicht lieber ganz rebellisch eine Einrichtung ohne Anerkennung vorziehen.“ Sie entschieden sich für den offiziellen Weg. Bachem lacht kämpferisch: „Nur so können wir zeigen, dass man Hochschullehre auch anders machen kann.“ 

Wie das neue Lehrkonzept aussieht, erlebt Matthias Bothe gerade: Er sitzt in einem der kleinen Räume, in dem setenweise Programmiersprache über den Bildschirm flimmert. Ein Kommilitone erklärt auf Englisch, was er da geschrieben hat. „Der kennt sich richtig gut aus mit JavaScript“, flüstert Bothe, um den Vortrag nicht zu stören. Er studiert Product Management, aber die Grundlagen des Programmierens gehören auch bei ihm dazu. Also geht er ins Projektteam und beißt sich rein in den Stoff – nicht theoretisch, sondern mit einer konkreten Aufgabe. „Wir haben das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden“, sagt er. „Hier gibt es nämlich erstens keine Kantine, und zweitens haben wir alle ganz unterschiedliche Zeitpläne. Deshalb wollen wir eine Software programmieren, mit der wir unser gemeinsames Essen planen können.“ Das Ziel ist ein Programm, in dem die Restaurants aus der Umgebung mit ihrer Speisekarte eingebunden sind – und dann können sich die Studierenden verabreden, wann sie in welches Restaurant gehen wollen, ob sie eine Sammelbestellung aufgeben oder jemanden losschicken, um das Essen abzuholen. Für Anfänger im Programmieren ist das eine ehrgeizige Aufgabe; drei Wochen haben sie Zeit. „Wenn ich etwas nicht verstehe“, sagt Matthias Bothe, „gehe ich in die Bibliothek oder schaue mir im Internet die Vorlesung eines Professors irgendwo auf der Welt an. Und dann versuche ich es noch mal.“ Auch einen der Professoren der Code University können die Studenten natürlich fragen, meistens versuchen sie es zunächst auf eigenen Wegen.

Für das Lehrprogramm der Hochschule ist das typisch: Eigeninitiative steht im Mittelpunkt, eine Anwesenheitspflicht gibt es nicht, feste Seminarpläne schon gar nicht. Die Studenten teilen sich in „Gilden“ auf, in denen sie vier Stunden pro Woche zu einem konkreten Thema arbeiten – ein Professor ist dabei, aber auch hier ist vor allem Eigeninitiative gefragt. Um Designmethoden geht es dabei oder um „User Journeys entlang der Nutzung eines Produktes“. Jeder muss bei einer Gilde dabei sein, bei anderen kann er reinschnuppern, wenn ihn das Thema interessiert. 

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Ilustration: Sven Sedivy/ iStock
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Durchfechter Podcast

Thomas Bachem ist unser erster "Durchfechter". Der Seriengründer und Kanzler der CODE ist der erste Protagonist in unserem neuen Podcast-Projekt. In dieser Episode spricht er darüber, wie es dazu kam, mit welchen Schwierigkeiten er als Gründer zu kämpfen hatte und warum er das Ganze trotzdem gewagt hat. (Autorin: Corina Niebuhr). Bei Durchfechter kommen ungewöhnliche Menschen zu Wort, die Bedeutendes gewagt haben: kühne Forscher, innovative Lehrer oder Entrepreneure. 

Die einzelnen Folgen des Podcasts können Sie hier auf der MERTON-Seite anhören. Alle Folgen in der Übersicht finden Sie auf der Podcast-Homepage. Oder aber Sie abonnieren den Podcast direkt in der Podcast-App Ihrer Wahl. Durchfechter ist in allen wichtigen Podcast-Verzeichnissen gelistet, unter anderen bei iTunes

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Dann gibt es die Projektteams, die komplett frei arbeiten: Die Studierenden verabreden sich zu Sitzungen, wenn es nötig ist, ansonsten erledigt jeder seine Aufgaben selbst und wiederholt individuell den Stoff, in dem er sich noch nicht sicher fühlt. Hinzu kommt ein Modul, in dem es – ähnlich einem Studium generale – um ganz andere Themen geht: Philosophie, Ethik und die gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien.

„Man kann Hochschullehre auch anders machen!“

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Foto: Felix Brüggemann
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Thomas Bachem

Die Gefahr, dass sich jemand im ganzen Studium um unangenehme oder schwierige Themen herummogelt, droht trotz dieser offenen Struktur nicht: Thematisch bauen die Gilden so aufeinander auf, dass jeder im Laufe des Studiums das gesamte Themenspektrum bearbeitet. Und die Professoren bewerten die Leistungen – nicht anhand von Noten, sondern anhand eines „Kompetenzrasters“ mit Blick auf den Lernfortschritt jedes einzelnen Studierenden. „Bevor ich hier anfing, habe ich ein Semester lang Wirtschaftsingenieurwesen studiert“, sagt Moritz Gnann, der für das Studium von München nach Berlin umgezogen ist. „Das war total frustrierend: Da saßen alle in der Vorlesung und haben die ganze Zeit nur auf ihr Handy gestarrt.“ Desillusioniert brach er das Studium ab.

Tatsächlich ähneln sich die Gründe für Studienabbrüche oft – und die Quoten liegen gerade in den Ingenieurwissenschaften traditionell hoch. In manchen Informatikstudiengängen schafft es nur die Hälfte der Studienanfänger bis zum Abschluss. „Natürlich gibt es die, die an der Mathematik scheitern“, sagt Manuel Dolderer: „Aber die meisten haben einfach von all dieser Theorie und altbackenen Didaktik die Nase voll.“ An seiner Hochschule soll niemand nur für eine Klausur lernen – immer schwingt ein Kontext mit, ein konkretes Projekt, eine gemeinsame Idee. Und schon, so der Grundgedanke, lernen die Studierenden von sich aus.

Einfach weil sie das Thema fesselt. Der Professor trägt nicht vor, sondern moderiert; er passt auf, dass alles in die richtige Richtung läuft. „Es gibt Hunderte Videos im Netz, in denen die besten Professoren der Welt vortragen“, sagt Dolderer. „Wir wollen, dass unsere Studenten diese Schätze finden und heben – das ist eine Lektion, die ihnen weit über das Studium hinaus helfen wird.“

Manuel Dolderer selbst studierte Wirtschaftswissenschaften, Kulturwissenschaften und Philosophie und baute danach für ein großes Unternehmen eine private Hochschule auf – das deutsche Bildungssystem kennt er in- und auswendig. Die Idee zur Code University habe ihn sofort begeistert. „Mich beschäftigt zunächst einmal gar nicht so sehr das konkrete Fach, sondern die schlichte Frage: Wie lernen Menschen?“

Eine lange Nacht mit viel Rotwein

Hochschulkanzler und Seriengründer Thomas Bachem
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Foto: Felix Brüggemann
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Anders lief der Weg bei Thomas Bachem, der den Impuls zur Hochschulgründung gab. Als Jugendlicher brachte er sich das Programmieren bei, studierte dann Betriebswirtschaftslehre und gründete nebenbei ein paar Internetfirmen, die er dann für viel Geld verkaufte – der Traum aller Start-up-Unternehmer. Er überlegte, ob sich wirklich alle das Programmieren autodidaktisch beibringen müssen wie er damals oder ob es nicht einen besseren Weg dorthin gebe. Eines Tages lernte er Manuel Dolderer kennen, der von Informatik keine Ahnung hatte, dafür aber das Bildungssystem kannte. „Nach einer sehr langen Nacht mit viel Rotwein wussten wir, dass wir unser Thema gefunden haben“, erinnert sich Bachem.

Vor wenigen Monaten startete die Universität ihren Lehrbetrieb; noch ist der Campus in dem alten Fabrikgebäude direkt am Landwehrkanal nicht ganz fertig, überall stapeln sich letzte Umzugskisten. 88 Studierende sind im ersten Jahrgang dabei, ausgewählt aus 2.000 Bewerbern. Sie sind zwischen 17 und 34 Jahren alt, darunter frische Abiturienten, Studienabbrecher und Quereinsteiger.

Fast das ganze Frühjahr haben die beiden Unigründer damit zugebracht, die passenden Studenten für den ersten Jahrgang zu finden. Neben einer praktischen Aufgabe und einem persönlichen Gespräch in Berlin gab es auch ein Videointerview mit den Bewerbern. Manuel Dolderer schmunzelt, wenn er sich daran erinnert: „Bei manchen Gesprächen sahen wir Typen, die ohne T-Shirt vor der Kamera saßen, bei anderen sprang eine Katze auf dem Schreibtisch rum.“

Geschadet hat das den Bewerbern nicht: Entscheidend soll das Talent sein, sonst nichts – und unkonventionell ist die Hochschule selbst schließlich auch.

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Foto: Felix Brüggemann
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Die CODE auf einen Blick

Die Code University bietet drei Bachelor-Studiengänge an, die thematisch eng miteinander verbunden sind: In Software Engineering geht es um das Programmieren selbst, in Interaction Design um das Zusammenspiel von Mensch und Maschine und in Product Management um die Projektsteuerung und die Vermarktung des Produkts. Nach einem gemeinsamen ersten Semester entscheiden sich die Studierenden für einen der Studiengänge.

An der privaten Hochschule kostet ein dreijähriger Studiengang etwa 25.000 Euro. Über ein Darlehen können die Studierenden das Geld zurückzahlen, wenn sie im Berufsleben stehen; abhängig vom Einkommen, das sie dank ihres Studiums erzielen. Die Lehre findet auf Englisch statt. Das unkonventionelle Lehrkonzept sorgte schon wenige Monate nach dem Start der Hochschule für Furore: Eine traditionelle Hochschule kündigte an, Studiengänge nach Muster der Code University ins Leben zu rufen – und die neue Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat sich im Koalitionsvertrag hochoffiziell zum Ziel gesetzt, einen zweiten Standort der Berliner an den Rhein zu holen.

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