Mit Vollbeschäftigung ins Nirwana

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Foto: iStock/ number1411
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Wir müssen bessere Arbeit finden und nicht nur irgendeine. Im Augenblick betreiben wir Augenwischerei und freuen uns, dass so viele Menschen einen Arbeitsplatz haben. Gleich unter den Jubelstatistiken steht immer warnender, dass die Qualität der Arbeitsplätze zu wünschen übrig ließe.

Zum Beispiel war „Briefträger“ vor 25 Jahren ein ehrenwerter Beruf im Beamtenstand, der damit knapp eine ganze Familie ernähren konnte. Dieser Briefträger kannte alle Einwohner im Bezirk und brachte auch einmal einen Schnack und die neuesten Gerüchte mit. Ja, er (Männerberuf!) war sogar dessen verdächtig, von einsamen Frauen von der Arbeit abgehalten zu werden. Heute hetzen Angelernte und Aushilfsstudenten mit Handnavis durchs Viertel und versuchen, im Laufschritt wenigstens auf den Mindestlohn zu kommen.

Ein anderes Beispiel: Früher hatten wir eine über Jahrzehnte erkämpfte 35-Stunden-Woche. Überstunden wurden bezahlt, besonders hoch am Wochenende. Wir bekamen Weihnachts- und Urlaubsgeld und regelmäßige Beförderungen. Unser Arbeitsplatz war sicher, die Rente ja bestimmt auch, sagte man damals. Heute werden Überstunden nicht mehr so konsequent oder gar nicht mehr aufgeschrieben. Eine Stunde lang E-Mails am Sonntag abarbeiten? Ach, geschenkt. Viele, die ich kenne, arbeiten nun 50 bis 60 Stunden pro Woche („Berater“) und nicht 35. Das ist eine Steigerung um 50 Prozent gegenüber damals, sehr verehrte Damen und Herren! Was hat man uns dafür gegeben? Arbeitsplatzunsicherheit? Ja, und das Gerede von der bitte zusätzlich zu laufenden Extrameile nimmt trotz allem bisherigen Druck noch zu. Schneller! Unfähig und damit selbst schuld, wer zu schnell einen Burnout bekommt! 

Was ist passiert? Das Effizienzstreben hat seit vielleicht 1980 alles „schlank“ organisiert. Danach hat es sich der Möglichkeiten der Digitalisierung bemächtigt und ist nun dabei, alles zu dematerialisieren und zu automatisieren. Viele Berufe werden zum Anlernjob und verlieren an Wertschätzung, siehe Briefträger. Digitalisierung ja, aber nur zum Einsparen! Wer dank Digitalisierung daheim arbeiten kann, kann und muss (!) wegen der Wettbewerbssituation durch einen „Inder“ ersetzt werden. Es kommt zum Lohndumping großen Stils – ach, es ist die Globalisierung, sorry! Viele Unternehmen haben es weitgehend aufgegeben, sich um Menschen, Seelen, Wohlstand im Lande, Solidarität, Verantwortung und dergleichen zu kümmern. 

Leute, wollt ihr ewig einsparen?

Das effizienzstrebende Digitalisieren wirkt schwach destruktiv, oder? Die konstruktiven Chancen der Digitalisierung werden beim Blick auf das Einsparen verpasst oder eben verschlafen. Zahlenmanagement schaut nur auf das Wachsen und Einsparen und Restrukturieren. Hört das nie auf? Natürlich hört es auf! Nämlich dann, wenn „Inder“ genauso teuer sind wie wir hierzulande ...

Das zufriedene Lächeln der Politiker über die heutige bestimmt von ihnen selbst herbeigeführte Vollbeschäftigung sollte ihnen vergehen – gleich nach der Wahl hoffentlich. Wie kann ein Mindestlohnjahresgehalt von circa 20.000 Euro brutto eine spätere Jahresrente von wohl nötigen 12.000 Euro finanzieren? Wie kann es bloß nur die durchschnittlichen Gesundheitskosten von 4.000 Euro pro Jahr decken, die der spätere Rentner ja auch noch kostet? Niedriglohnjobs ernähren nicht einmal eine einzige Person! Nein, sie müssen an vielen Punkten teuer subventioniert werden. Eine solche „Vollbeschäftigung“ können wir uns nicht wünschen. 

Man sollte einmal die Quote der Menschen/Arbeitsplätze berechnen, die genug verdienen, um nicht subventioniert zu werden. Diese Quote sinkt unaufhörlich. Man lässt sie ganz ohne Nervosität sinken, weil sie nicht berechnet wird. Vollbeschäftigung wäre, wenn diese Quote auf über 90 Prozent steigen würde. 

Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
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Direct Dueck

Gunter Dueck besitzt die Gabe, einen in innere Jubelstürme ausbrechen zu lassen. Das gelingt ihm, wenn man ihn als Vortragenden auf der Bühne erlebt, aber auch mit seinen Texten und Büchern, mit seinen Interviews. Er schafft es auf ganz außergewöhnliche Weise die Dinge auf den Punkt zu bringen: Oft schleicht er sich erst an ein Thema heran, um dann umso hartnäckiger ein Problem herauszuarbeiten. Seine Thesen trägt er zumeist ruhig und gelassen vor, und doch sind sie oft – das merkt man manchmal erst später – messerscharfe Fallbeile. Dann erheben sich – siehe oben – die inneren Jubelstürme. Und oft jubeln ihm die Menschen nicht nur innerlich zu: Auf großen Tagungen wie der re:publica ist er ein unumstrittener Star. Umso schöner, dass er das MERTON-Magazin mit einer regelmäßigen Kolumne bereichert. Er nennt sie „Direct Dueck“, was auf ein paar schöne scharfe Fallbeile in Textform hoffen lässt. 

Alle MERTON-Kolumnen von Gunter Dueck

„Niedriglohnjobs ernähren nicht einmal eine einzige Person! Nein, sie müssen an vielen Punkten teuer subventioniert werden. Eine solche „Vollbeschäftigung“ können wir uns nicht wünschen. “

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Gunter Dueck (Foto: Michael Herdlein)
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Gunter Dueck

Es geht jetzt darum, nicht nur weiter totzusparen, „Anreize“ zu managen oder Wähler mit Leuchtturmprojekten zu beeindrucken. Es geht nicht darum, die Zahlen politisch stärker zu schönen als die Dieselabgaswerte. Die Qualität der Arbeitsplätze muss viel besser werden. Das geht nur „nachhaltig“ (so nennt man es heute, wenn man dem gesunden Menschenverstand folgt): Bildung verbessern, Infrastrukturen hypermodern halten (wo Bahn, Straßen, Unis et cetera schon marode/baufällig sind und Internet überall besser verfügbar ist als in Deutschland), Innovationen inhaltlich fördern (nicht einfach überall 20 Prozent draufkleckern und sich an die Brust klopfen), Gesetze fit machen für die neue Zeit (Selbstfahrverkehr) ... Im Grunde müssen wir endlich ran und die neue digitale Gesellschaft aufbauen.

Wir sollten vielleicht auch unseren Stolz messen. Sind wir stolz auf unsere Straßen, Autokonzerne und Politiker? Auf unsere Intellektuellen, Leitfiguren und Sportler? Auf unsere Umwelt? Es scheint mir, dass wir neben der fragwürdig verstandenen Vollbeschäftigung auch eine Vollverdrossenheit haben. Die zeigt uns die Lage eigentlich besser an. 

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