Mit zwei Köpfen denken

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Foto: iStock/ wildpixel
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„The Undoing Project“ ist ein 2016 auf Englisch und im Januar 2017 in deutscher Übersetzung erschienenes Buch von Michael Lewis über die israelischen Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky und die Anfänge der Verhaltensökonomik.

Zu den meisten Themen des Buchs ist schon einiges geschrieben worden, unter anderem von Daniel Kahneman selbst in „Schnelles Denken, langsames Denken“ (2011). Zwar ist es schön, mehr über die Welt vor der Entdeckung der Verhaltensökonomik zu erfahren, aber der interessanteste Aspekt an „The Undoing Project“ war für mich die detaillierte Beschreibung der Zusammenarbeit der beiden Forscher. Ich habe aus anderswo bereits beschriebenen Gründen sehr viele Rezensionen des Buchs gelesen. Das Thema Kollaboration wurde darin bestenfalls am Rande berührt, dabei ist das der eigentlich bemerkenswerte Aspekt des Buchs. Man erfährt in Texten über eng zusammenarbeitende Autoren oder Forscher nur selten etwas darüber, wie diese Arbeit konkret ausgesehen hat.

Wie machten es Marx und Engels?

Rechercheaufgaben zum Selbsttest: Wie schrieben die Brüder Goncourt ihre gemeinsamen Bücher? Wie entstanden die Texte von H. Bustos Domecq, dem Gemeinschaftspseudonym von Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares? Wie sah der Produktionsprozess bei Marx und Engels aus? Auch Veröffentlichungen zur wissenschaftlichen Kollaboration beschäftigen sich häufig mit Fragen nach Netzwerken und messbaren Erfolgen, weil für deren Beantwortung die Auswertung vorhandener Daten genügt. Um die Details der Arbeitsweisen zu erforschen, müsste man Interviews führen und Forscher bei ihrer Arbeit beobachten. Das ist mühsamer und kommt daher seltener vor.

Kahnemans und Tverskys engste Zusammenarbeit fand in den 1970er-Jahren statt – bevor es üblich wurde, Texte am Computer zu verfassen, und Jahrzehnte vor der Entwicklung von Software für das gemeinsame Schreiben am selben Dokument. Dank Michael Lewis wissen wir, wie die Beiträge der beiden Autoren verfasst wurden: gemeinsam an derselben Schreibmaschine: „When they sat down to write they nearly merged, physically, into a single form, in a way that the few people who happened to catch a glimpse of them found odd. ‘They wrote together sitting right next to each other at the typewriter,’ recalls Michigan psychologist Richard Nisbett. ‘I cannot imagine. It would be like having someone else brush my teeth for me.’ The way Danny put it was, ‘We were sharing a mind.’“

Das mind-sharing führt später zu Verwirrung darüber, von wem das Endergebnis eigentlich stammt: „By the time they were finished with the paper, in early 1970, they had lost any clear sense of their individual contributions. It was nearly impossible to say, of any given passage, whether more of some idea had come from Danny or from Amos."

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Illustration: Irene Sackmann)
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Ein Ticket wurde eröffnet

Wer Kathrin Passigs Texte im Techniktagebuch liest, erfährt von ihren offenbar recht häufigen Reisen, vorzugsweise nach Irland. Dort schlägt sie sich nicht selten mit den Besonderheiten des Mobilfunks herum oder ergründet das kryptische Postleitzahlen- oder nicht vorhandene Hausnummernsystem. Ohnehin sind die Kapriolen der Technik offenbar ihr Herzensthema und charmante Betrachtungen wie z.B. über die hin und wieder zu erlebende Änderung der Wagenreihung bei der Deutschen Bahn lassen unvermittelt an den großen Jaques Tati denken. Doch wo Tati den Tücken des Technischen konsequent und humorvoll-linkisch erlag, findet Kathrin Passig immer einen souveränen Zugang zu den Unergründlichkeiten der postmodernen Technikwelt. Technik - so lernt man bei ihr - ist weder gut oder schlecht: Es kommt nur darauf an, wie man sich ihr nähert. Technik - lehren uns ihre Texte - muss uns nicht immer so schrecklich ängstigen, sie muss uns aber auch nicht besoffen machen. Manchmal ist Technik ärgerlich und oft einfach nur komisch - in jedem Falle aber lohnt es sich, über sie nachzudenken. 

Kathrin Passig bei Twitter

Ich habe in den letzten 20 Jahren viele Bücher und andere Texte gemeinsam mit Koautorinnen und Koautoren geschrieben. Die Zusammenarbeit fühlt sich wie eine Erweiterung meiner Denkmöglichkeiten an und ich kann schon kurz nach dem Schreiben nicht mehr sagen, welche Idee oder Textstelle von wem stammt. Das geht auch anderen Autoren so; in „Schreibende Staatsquallen“ habe ich für einen Vortrag ein paar Beispiele zusammengetragen. Die Beispiele waren schwer zu finden, weil es nicht viel Literatur über die Details des Zusammenarbeitsvorgangs gibt. Und sie waren leicht zu finden, weil in der kleinen Gesamtmenge solcher Auskünfte oft von diesen Effekten die Rede ist.

Noch interessanter, weil noch seltener beschrieben, sind die Gründe für das Ende der Zusammenarbeit. (Wer zu wenig Zeit hat, das ganze Buch zu lesen, kann hier ein knapp einstündiges Interview mit dem Autor Michael Lewis sehen, in dem dieser Aspekt relativ ausführlich behandelt wird.) Selbst der Wissenschaftsbetrieb, in dem Kollaboration schon lange der Normalfall ist, kommt mit Einzelautoren besser zurecht als mit Paaren oder Gruppen. Wenn unklar ist, von wem eine Idee stammt, ist auch nicht klar, wen man dafür befördern, wem man Preise aushändigen, wem man Stellen anbieten soll. Amos Tversky war extrovertierter als Daniel Kahneman, und in der öffentlichen Wahrnehmung schrieb man ihm den Großteil der gemeinsamen Leistungen zu. 

1977 erhielt Tversky Stellenangebote aus Stanford und Harvard. Keine der beiden Universitäten interessierte sich für Kahneman. 1984 bekam Tversky einen sehr gut dotierten „Genius Grant“. Die Pressemitteilung erwähnte nur Arbeiten, die beide gemeinsam verfasst hatten. Kahnemans Name kam darin nicht vor. Kurze Zeit später wurden Tversky ein Guggenheim Fellowship, eine Einladung in die National Academy of Sciences und diverse Ehrendoktorgrade amerikanischer Universitäten zuteil. Kahneman arbeitete weitgehend unbeachtet an der University of British Columbia in Vancouver.

Der Harvard-Psychiater Miles Shore hat Kahneman und Tversky in dieser Zeit für ein Buch über besonders produktive Arbeitspartnerschaften interviewt und Michael Lewis das Material zur Verfügung gestellt. Dadurch ist das Ende der gemeinsamen Arbeit gut dokumentiert: „‚The spoils of academic success, such as they are—eventually one person gets all of it, or gets a lot of it,‘ [Kahneman] said. ‚That’s an unkindness built in. Tversky cannot control this, though I wonder whether he does as much to control it as he should.‘"

Amos Tversky ist nicht blind für das Problem, fühlt sich aber unschuldig: „‚The credit business is very hard,‘ said Amos. ‚There is a lot of wear and tear, and the outside world isn’t helpful to collaborations. There is constant poking, and people decide that one person gets the short end of the stick. It’s one of the rules of balance, and joint collaboration is an unbalanced structure. It is just not a stable structure. People aren’t happy with it.‘"

Die Zusammenarbeit endet, die Freundschaft zerbricht an der ungleichen Außenwahrnehmung. Ein ähnlich gelagertes Problem mit dem Wunsch der Außenwelt, aus der Kollaboration ein einfaches Einpersonenprojekt zu machen, beschreibt Almut Klotz in ihrem im Sommer 2016 posthum erschienenen Buch „Fotzenfenderschweine“: „Wir traten als Duo auf und wurden auch so gesehen. Allerdings stand in den meisten Ankündigungen und Flyern, dass‚ die ehemalige Lassie-Sängerin Almut Klotz ihr neues Buch präsentiert, begleitet von Reverend Ch. D‘. Also wieder diese unheimliche Ausgrenzung. Die immergleiche Formulierung brachte uns schnell zu ihrer Quelle: Es stand so im Pressetext unseres Verlags. Da tickte Reverend noch mal richtig aus. Zu Recht. Wie bitter ist es, vom eigenen Verlag so gedisst zu werden. Im Nachhinein muss ich sagen, dass man viel härter hätte reagieren müssen. Wir haben nur beim Verlag angerufen und gefordert, den Text sofort zu ändern. Eigentlich hätte man denen einen Kübel Scheiße in die Verlagsräume kippen sollen; in den Verlagsraum, um genauer zu sein."

„Mir passiert das auch: Mal werde ich ignoriert, mal wird mein Koautor ignoriert oder einem von uns wird unterstellt, er habe am Ende nur die fertigen Texte des anderen etwas hübscher gemacht.“

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Foto: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de)
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Kathrin Passig

Mir passiert das auch regelmäßig, in beide Richtungen: Mal werde ich ignoriert, mal wird mein Koautor ignoriert oder einem von uns wird unterstellt, er habe am Ende nur die fertigen Texte des anderen etwas hübscher gemacht. Genau genommen waren es sogar drei Richtungen, denn ich habe auch selbst schon eins meiner Bücher öffentlich erwähnt und dabei versehentlich einen der zwei Mitautoren unterschlagen. Schon deshalb darf ich niemandem einen Kübel Scheiße in die Verlagsräume kippen.

Es ist für alle schwierig, damit umzugehen, dass sich Projekte und Ideen nicht immer eindeutig einer Person als Quelle zuordnen lassen. Aber warum ist das so? Und wie lässt es sich vermeiden, dass falsche Außenwahrnehmung die Zusammenarbeit unterminiert?

Miles Shores Buch über Arbeitspartnerschaften ist leider ungeschrieben geblieben. Ich hätte es sehr gern gelesen.

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