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Strenger Vater Zentrale und wildes Kind Innovation

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Foto: iStock/phototechno
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„Unser Baby entwickelt sich prächtig. Es schläft durch, schreit nicht viel rum, es ist pflegeleicht.“ Später: „Unser Kind ist unser Stolz. Es ist intelligent und sehr brav, fast schon zu brav. Aber gut, wir haben keine Probleme.“ Später: „Wir haben in der Familie über seine Berufswahl nachgedacht. Guter Verdienst bei hoher Sicherheit. Staatsdienst oder ein großes Unternehmen, klar. Was studiert man da am besten?“

„Unser Kind fordert uns sehr. Es schläft kaum, wir gehen auf dem Zahnfleisch.“ Später: „Es fasst alles an, macht viel kaputt, zwängt sich überall dazwischen und will essen, was wir essen, partout keinen gesunden Designbrei. Extrem neugierig; außerdem wünschten wir, es hätte nicht so viel Energie. Das überfordert uns! Es schreit sofort, wenn es seinen Willen nicht bekommt! Wie fangen wir das ein?“

Kennen Sie das? Oft wird das erste Kind ziemlich brav, was wir Eltern uns selbst zuschreiben. Tolle Erziehung! Zur Strafe bringt uns der liebe Storch dann eins von der zweiten Sorte. Dann versuchen wir es echt mit Erziehung und scheitern im Schnitt. Es gibt eben Kinder, die ganz leicht zu dressieren sind, und andere, die vor Energie und vor eigenem Willen strotzen. Ich selbst gehöre zu einer selteneren Randsorte, die etwas ängstlich auf das Welttheater schaut, sich einige Zeit vermeintlich anpasst und sich dann mit zunehmender Selbstständigkeit aus dem täglichen Wahnsinn davonzustehlen versucht. Freiheit! Die kann man natürlich auch erreichen, wenn man sich anpasst: Dann hat man im gewährten Rahmen alle Freiheit. Man kann alternativ um mehr Raum kämpfen, das gibt Dauerzoff mit den Eltern und allen späteren Stellvertretern, den Lehrern, Chefs und Würdenträgern, die aus Systemgründen oder einfach nur so – und das ist der eigentliche Punkt – kollektiv das Dressierte zu vertreten scheinen.

„Freiheit! Die kann man natürlich auch erreichen, wenn man sich anpasst: Dann hat man im gewährten Rahmen alle Freiheit. “

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Gunter Dueck (Foto: Michael Herdlein)
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Gunter Dueck

Das Dressieren nimmt so viel Raum ein! Das Ausfüllen des erlaubten Raumes wird Bildung und Ausbildung genannt. Alles außerhalb dieses Raumes heißt Kunst, Innovation, Querdenken oder Veränderung; es wartet auf die Genehmigung, eintreten zu dürfen, sonst gilt es als Rebellion, Provokation oder Angriff.

Seit vielen Jahrzehnten gibt es die Transaktionsanalyse nach Eric Berne. In seinem Modell der Ich-Zustände schenkt uns Berne eine einfache Vorstellung, die natürlich von Freuds Instanzenmodell des Über-Ich, Ich und Es abstammt. Nach Berne hat jeder von uns ein Eltern-Ich und ein Kind-Ich in sich, die in uns wirken und die der Mensch bei seiner Identitätsbildung zu seinem Erwachsenen-Ich zusammenbringen muss. Das Eltern-Ich kann streng und kritisch sein („typisch Vater alter Zeit“) oder es ist umsorgend-gütig („typisch Mutter alter Zeit“). Das Kind-Ich kann ein angepasstes Kind-Ich sein: brav, nachgebend, gehorsam (ich sage hier eben frech: „dressiert“) und etwas ängstlich-hilflos bei Problemen. Das Kind-Ich kann rebellisch sein, das will ja niemand. Und als dritte Möglichkeit kann es, wie es in der Theorie heißt, frei sein. Das freie Kind-Ich ist spontan, agil, freudig, witzig, springlebendig, neugierig, kreativ, intuitiv, es „kann alles selbst!“ und ist dabei oft unüberlegt und ignorant gegenüber Gefahren und Problemen.

Dieses Modell ist natürlich sehr simpel. Das sagen uns die Psychologen schon seit den 70er-Jahren, als Berne nicht mehr lebte. Aber wir können damit etwas Wichtiges in einem kurzen Artikel erhellen. Nämlich: Unternehmen finden Mitarbeiter gut, die ihr Erwachsenen-Ich vorzugsweise aus dem kritischen Eltern-Ich und dem braven Kind-Ich zusammensetzen. Gegenüber dem Chef soll der Mitarbeiter sich im braven Kind-Ich-Zustand benehmen, gegenüber dem unter ihm stehenden Mitarbeiter darf er dann seinen kritisch-strengen Eltern-Ich-Zustand ausspielen. Das Fürsorgliche ist im Prinzip auch erlaubt, ja. Aber der Mitarbeiter soll ja erst immer dressiert-brav arbeiten, bekommt meist wenig Pflege und Fürsorge und hat dann später echt Lust, selbst in den kritisch-strengen Zustand zu wechseln.

Wir sehen nach kurzem Hineindenken: Die herkömmliche Kommunikation bei der Arbeit ist stark durch das Muster „braver traditioneller Sohn“/„strenger traditioneller Vater“ geprägt, was sofort ein Schlaglicht auf das viel beklagte „unerklärliche“ Fehlen von Frauen in Führungspositionen wirft. Das soll hier nicht Thema sein, aber angemerkt werden. Klar ist aber: Die Unternehmenszentrale ist meist in dem kritisch-strengen Eltern-Ich-Zustand. Sie bewertet Leistungen mit Stirnrunzeln und verlangt Gehorsam („Compliance“, „Governance“, „Qualitätskontrolle“, „Security“). Wenn ein Mitarbeiter in diesem Sinne nicht gehorsam ist und damit seine Dressur vergisst, erkennt die Obrigkeit sofort, dass sich der Mitarbeiter im Zustand des rebellischen Kind-Ichs befindet und eingenordet werden muss („Report“, „Review“, Einzelgespräch mit dem Chef).

Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
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Direct Dueck

Gunter Dueck besitzt die Gabe, einen in innere Jubelstürme ausbrechen zu lassen. Das gelingt ihm, wenn man ihn als Vortragenden auf der Bühne erlebt, aber auch mit seinen Texten und Büchern, mit seinen Interviews. Er schafft es auf ganz außergewöhnliche Weise die Dinge auf den Punkt zu bringen: Oft schleicht er sich erst an ein Thema heran, um dann umso hartnäckiger ein Problem herauszuarbeiten. Seine Thesen trägt er zumeist ruhig und gelassen vor, und doch sind sie oft – das merkt man manchmal erst später – messerscharfe Fallbeile. Dann erheben sich – siehe oben – die inneren Jubelstürme. Und oft jubeln ihm die Menschen nicht nur innerlich zu: Auf großen Tagungen wie der re:publica ist er ein unumstrittener Star. Umso schöner, dass er das MERTON-Magazin mit einer regelmäßigen Kolumne bereichert. Er nennt sie „Direct Dueck“, was auf ein paar schöne scharfe Fallbeile in Textform hoffen lässt. 

Alle MERTON-Kolumnen von Gunter Dueck

Heute aber, in der Zeit des Wandels, der Digitalisierung und der Globalisierung, wird der Ruf nach Innovation und frischem Wind laut. In unserem Gedankengang heißt das: Leider gibt es den Zustand des freien Kind-Ichs im Unternehmen kaum noch. Zwar mag man Neugier und Freude, Willen und „Kann es selbst, Chef“-Engagement theoretisch gern, aber das freie Kind-Ich ignoriert leider auch die Gefahren der neuen Zeit und innoviert viel zu unbekümmert drauflos. Man muss es einfangen! Nein, nicht ganz verärgern, dann wechselt der freie Zustand in den des rebellischen Kindes – oder das freie Kind kündigt schlicht und wandert in ein Start-up ab! Nein, es muss nur eingefangen werden, damit es nicht aus der Bahn gerät wie Rotkäppchen, das dem kritischen Eltern-Ich Angst und Sorge bereitet. Deshalb muss sich das freie Kind in die Mühlen von Ideenmanagement, Innovationsmanagement, Projektmanagement, Business-Case-Orgien und vor allem Risikoanalysen begeben, bis alles haarklein festgelegt ist, wie es sich fremd ausgebremst ganz frei benehmen darf: eingefangen spontan, eingefangen agil, eingefangen neugierig, eingefangen offen und eingefangen tatendurstig.

Trauer muss die eingefangene Freiheit tragen. 

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