Unter Forschern

Kerrin Bielser (Foto: Valerie Schmidt)
Kerrin Bielser (Foto: Valerie Schmidt)
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Kerrin Bielser sitzt auf einem Hocker, eingezwängt zwischen den acht Kameras, die von allen Seiten auf sie gerichtet sind und inmitten von wirren Kabeln stehen. Ihre langen Haare hat sie nach hinten gestrichen, jetzt lächelt sie kurz, während die gewaltigen Blitzlichter auslösen. Von einem Computer aus steuert Martin Grewe die aufwändige Technik, und Kerrin sucht zwischen den Kameras und Lampen seinen Blick. „Und wie“, fragt sie dann, „kannst du aus den Fotos von meinem Kopf jetzt ein Modell errechnen?“

Hier, im Studio Camera Facialis des Zuse-Instituts Berlin, beginnt Kerrin eine faszinierende Reise in die Mathematik. Sie ist 17 Jahre alt, steht kurz vor dem Abitur und ist fest entschlossen, Mathematik zu studieren. Sie ist eine echte Nachwuchshoffnung – bei deutschen und europäischen Mathewettbewerben landet sie regelmäßig auf Spitzenplätzen, mehr lässt sich in ihrem Alter kaum erreichen. Und jetzt, vor dem Sprung ins Studium, will sie die Welt der MINT-Fächer (also von Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) besser kennenlernen. Es ist eine neue Welt, die sich vor ihr auftut – voller Forschungsfragen und ungelöster Rätsel, die auf Antworten warten. Die Reise wird sie in das Hightech-Entwicklungszentrum von Ozeanforschern führen und durch tonnenschwere Stahltüren ins Herz eines Teilchenbeschleunigers.

„Mit der Mathematik ist es wie mit dem Diabolospielen: Je mehr man übt, desto besser wird man. “

Kerrin Bielser (Foto: Valerie Schmidt)
Kerrin Bielser (Foto: Valerie Schmidt)
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Kerrin Bielser

Am Zuse-Institut schaut Kerrin auf den Bildschirm, wo gleich das dreidimensionale Abbild ihres Kopfes erscheinen wird. Dem Modell liegt ein komplexer Algorithmus zugrunde, aus dem Doktorand Martin Grewe ein Computerprogramm entwickelt hat: Mit ihm kann er die Bilder der acht Kameras so kombinieren, dass sich Kerrins virtueller Kopf per Mausklick drehen und aus allen Richtungen betrachten lässt.

Das Ganze ist natürlich weit mehr als bloße Spielerei: In der Medizin lassen sich dank solcher Anwendungen ganze Bereiche revolutionieren. „Im Fall von plastischen Operationen etwa können wir vorher schon simulieren, wie ein Gesicht, das beispielsweise durch einen Unfall entstellt wurde, hinterher aussehen wird“, sagt Stefan Zachow. Er leitet gemeinsam mit Martin Weiser das Projekt, in dem Grewe promoviert. Chirurgen aus aller Welt kommen zu ihnen nach Berlin, um sich Unterstützung zu holen. Dabei geht es stets um besonders schwere Fälle, bei denen häufig schon im Vorfeld passgenaue Implantate angefertigt werden müssen. Und natürlich erfahren auf diese Weise auch die Patienten schon vorher, wie sie nach der Operation aussehen werden. „Zum einen helfen uns diese Simulationen im Sinne der medizinischen Funktionalität“, sagt Zachow. „Zum anderen geht es immer auch um ästhetische Herausforderungen.“

Kerrin fragt nach: „Und mit welcher mathematischen Technik machen Sie das?“ Die Antwort führt weit in die mathematischen Grundlagen solcher Modelle: „Wir diskretisieren ein Gesicht mit der Methode der finiten Elemente und finden dann eine Lösung für die partiellen Differenzialgleichungen, die die elastomechanische Deformation beschreiben“, sagt Zachow, und Kerrin lässt sich von den Fachbegriffen nicht abschrecken: Sie lässt den Satz kurz nachklingen, dann nickt sie. Die neueste Idee der Forscher ist jetzt eine Datenbank, in der sie exakt vermessene Gesichter speichern – inklusive der Mimik. So wollen sie bei künftigen Gesichtern, die sie modellieren, auch das Mienenspiel nach einer Operation noch präziser vorhersagen. Die Gesichter aus der Datenbank verrechnen sie dazu miteinander, um quasi ein Durchschnittsgesicht zu suchen. „Wir suchen nach Wegen, die Methoden aus der Statistik nicht nur für Zahlen anzuwenden, sondern auch für Formen“, erläutert Martin Grewe.

Für die angewandte Mathematik ist Berlin deutschlandweit eine der Hochburgen. Das liegt zu einem großen Teil am Matheon, dem Zentrum für anwendungsorientierte Mathematikforschung. Es verbindet die Expertise der drei großen Berliner Universitäten und zweier außeruniversitärer Forschungseinrichtungen. Einer der rund 60 Doktoranden, die am Matheon arbeiten, ist Leon Sering. Er sitzt in einem hellen Büro an der Technischen Universität, der Blick geht hinaus bis zum Rathausturm von Charlottenburg. „Setz dich mal in eine Mathematikvorlesung an der Uni, und du wirst merken, dass das ganz anders ist als an der Schule“, rät er Kerrin und schwärmt: „Durch das ganze Studium zieht sich ein Knobeln und Rätseln an interessanten Aufgaben.“

Er selbst knobelt in seiner Doktorarbeit an einer überaus praktischen Herausforderung: Er analysiert Verkehrsströme, um damit beispielsweise Staus vorhersagen zu können. „Ich habe ein fiktives Netz von Straßen modelliert und gehe davon aus, dass alle Verkehrsteilnehmer die optimale Route zu ihrem Zielort wählen“, erklärt er Kerrin und zeigt auf seinen Bildschirm: In ihm sind die Straßen wie Röhren dargestellt, durch die Wasser fließen soll. Wenn eine Röhre zu dünn ist für die Wassermassen, sucht sich das Wasser Nebenstrecken. „Auf die Straßen übertragen heißt das: Auf einmal wird für die Autofahrer ein Weg interessant, der eigentlich länger ist als die Hauptroute. Irgendwann verstopft dann aber auch dieser Umweg, und die Fahrer suchen wiederum eine neue Ausweichmöglichkeit.“ Die zugrunde liegenden mathematischen Formeln könnten künftig zum Beispiel in Navigationsgeräten zum Einsatz kommen.

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Foto: Getty Images/Wangwukong
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Es sind praktische Anwendungen wie diese, die einen Boom im MINT-Bereich ausgelöst haben: Es entstehen neue Studienfächer, und vor allem steigt die Nachfrage nach Fachkräften schon seit Jahren kontinuierlich an. Ein großer Teil der deutschen Wirtschaftsleistung beruht auf Innovationen in Technik und Naturwissenschaft. „Der MINT-Bereich ist ausgesprochen vielschichtig, er reicht ja von der Biologie bis hin zur Informatik und Spezialdisziplinen im Maschinenbau“, sagt Pascal Hetze. Der Experte vom Stifterverband beobachtet seit vielen Jahren die Entwicklungen auf diesen Gebieten. Eine der tiefgreifendsten Entwicklungen sei, dass die Informatik immer stärker in die anderen Disziplinen hineinreiche: „Da ist gerade sehr viel in Bewegung.“ Das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Während sich in den frühen 2000er-Jahren viel zu wenig Leute für ein Ingenieurstudium entschieden, sind die Zahlen der Studienanfänger heute so hoch wie noch nie. „Vor allem die Ingenieurwissenschaften und die Informatik sind durch die allgegenwärtige Technisierung attraktiver geworden“, resümiert Pascal Hetze.

Experimente mit Wasserstoff

Bastian Schlautmann und Jonathan Kipp wissen schon lange um die Faszination von Technik. Die beiden jungen Männer aus Ostwestfalen machen gerade ihr Abitur, sie wollen Ingenieure werden – und tauchen tief in das Fach ein, um den richtigen Weg in den Beruf zu finden. Erste Erfahrungen haben sie schon gesammelt: Sie waren mehrfach beim „Jugend forscht“-Wettbewerb dabei. „Wir wollen Autos mit Wasserstoff betanken – aber nicht in Hochdrucktanks, sondern direkt in den vorhandenen Tank.“ Dazu banden sie Wasserstoff an Dibenzyltoluol, einen sogenannten flüssigen Träger. „Damit ist der Wasserstoff so gut transportabel wie normaler Diesel“, sagen die beiden. Die Idee ist nicht neu, für stationäre Anwendungen wird das Prinzip schon genutzt. Bastian und Jonathan wollen das Verfahren in ihrer „Jugend forscht“-Arbeit nun auf den Autoverkehr übertragen.

Jan Stefan Michels nickt anerkennend. Am Morgen war der Wirtschafts­ingenieur noch in einer Videokonferenz mit seinen Kollegen in Singapur, jetzt sitzt er hier im ostwestfälischen Detmold an einem Konferenztisch, von dem der Blick durch raumhohe Scheiben hinausgeht. „Im Prinzip“, sagt er dann zu den beiden Abiturienten, „machen wir in meiner Abteilung genau das Gleiche wie Sie: Wir versuchen, neue Trends zu erkennen, neue Forschungs­ergebnisse anzuwenden und bauen daraus Prototypen.“ Michels leitet die Technologie­entwicklung beim international tätigen Elektro­technik­unternehmen Weidmüller. Das ist eines der Unternehmen, wegen denen die Region Ostwestfalen als Hightech-Cluster gilt. Die Endver­braucher kriegen die Produkte von Weidmüller selten zu sehen, dabei sind die Produkte der Verbindungs- und Automatisierungs­technik in Zügen, Kraftwerken und fast allen modernen Fertigungs­straßen verbaut. „80 Prozent der Produkte, die weltweit in unserer Branche hergestellt werden, kommen aus Ostwestfalen“, sagt Michels. Und: Allein in der Entwicklungs­abteilung von Weidmüller arbeiten mehr als 300 Ingenieure, die von vielen dualen und Werkstudenten unterstützt werden – einer von ihnen ist Meikel Reilender, der beim Gespräch dabei ist.

Für Bastian und Jonathan, das wird im Konferenzraum schnell klar, gibt es in der Region beste Perspektiven: Dass sie Ingenieure werden wollen, ist beiden klar – aber über den Weg dorthin sind sie sich noch nicht sicher. Bastian ist eher der praktische Typ, er will ein 

Bastian Schlautmann (l.), Jonathan Kipp (Foto: Jewgeni Roppel)
Bastian Schlautmann (l.), Jonathan Kipp (Foto: Jewgeni Roppel)
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Die Hühnerflüsterer

Bastian Schlautmann und Jonathan Kipp sind es gewohnt, ihre Probleme selbst zu lösen. Zum Beispiel das mit den drei Hühnern: Die machten im Garten von Jonathan immer schon im Morgen­grauen Krawall, weil sie aus ihrem Stall nicht an die frische Luft kamen. Weil Jonathan nicht so früh aufstehen wollte, lötete er einen WLAN-Chip auf eine Platine, der jeden Morgen die exakte Zeit des Sonnenauf­gangs abruft. Verbunden ist die Platine mit einem kleinen Motor, der rechtzeitig die Klappe zum Stall öffnet und abends auch wieder schließt. Seitdem ist Ruhe im Garten. Schlaut­mann und Kipp kommen aus dem ostwest­fälischen Rheda-Wiedenbrück und machen 2018 ihr Abitur. Ihre Zielrichtung für das Studium: auf jeden Fall etwas aus dem Bereich der Ingenieur­wissenschaften.

praxisintegriertes Studium aufnehmen, in dem er in einer Firma an konkreten Aufgaben arbeitet und parallel dazu an einer Hochschule die Theorie lernt. Jonathan hingegen ist fasziniert von der wissenschaftlichen Forschung – vor Kurzem erst hat er ein Praktikum an der Uni Stockholm absolviert. „Das ist genau mein Ding“, urteilt er. 

Jan Stefan Michels steht auf und nimmt die beiden Schüler mit in einen Showroom ein paar Schritte entfernt. Fein säuberlich sind dort in mehreren Vitrinen Produkte ausgestellt, die seine Firma allein im vergangenen Jahr herausgebracht hat. Hightech-Klemmen sind dabei, Signalkonverter und Spezialwerkzeuge. „Gerade arbeiten wir intensiv an Methoden, wie sich Energie und auch Daten kontaktlos übertragen lassen“, sagt Michels: Fahrerlose Gabelstapler zum Beispiel können sich dann von selbst an eine Ladestation andocken, Produktionsroboter können ihre Greifarme selbst wechseln – wenn das gelingt, wäre das ein wichtiger  Schritt für Anwendungen der Industrie 4.0, der Verknüpfung von klassischer Produktion mit modernster Informations- und Kommunikationstechnologie. Zugleich geht es bei Weidmüller immer stärker um Datenanalyse: Bei Windkraftanlagen etwa messen zahlreiche Sensoren Schwingungen, Geräusche und Belastungen – zum Beispiel an den Rotoren, aber auch an den riesigen Schrauben, mit denen die Türme in ihrem Innern zusammengehalten werden. So lassen sich Materialermüdungen rechtzeitig erkennen. Bastian und Jonathan schauen über die Vitrine mit den neuen Produkten, dann fragen sie: „Wie sieht denn eigentlich der Arbeitstag von Ihren Ingenieuren aus, sitzen die vor allem am Computer?“ Michels schüttelt den Kopf: Für jeden Projektauftrag, antwortet er, gebe es eigene Teams aus Ingenieuren verschiedener Sparten. Und die müssen gleichermaßen Prototypen bauen, Laborergebnisse auswerten, Telefonkonferenzen leiten und schließlich ihre Ergebnisse präsentieren.

„Wir wollen Autos mit Wasserstoff betanken - direkt in den vorhandenen Tank.“

Jonathan Kipp (Foto: Jewgeni Roppel)
Jonathan Kipp (Foto: Jewgeni Roppel)
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Jonathan Kipp

„Dass ein Tüftler drei Monate im Keller verschwindet und da vor sich hin arbeitet – die Zeiten sind vorbei“, sagt Michels. Und erinnert sich an eine Lehre, die er aus seiner eigenen Studienzeit gezogen hat: „Viel zu lange habe ich mich gefragt, was für einen Beruf ich eigentlich mal ausüben will. Dabei gibt es jede Menge Quereinsteiger in allen Bereichen – am wichtigsten ist, die analytische Art des Denkens aus den Ingenieurwissenschaften zu lernen. Danach haben Sie alle Möglichkeiten!“

Dreißig Kilometer östlich von Detmold kann Jonathan dann endlich die grundlegende Frage stellen, die ihm die ganze Zeit auf der Zunge brennt. Die Fakultät Elektrotechnik an der Universität Paderborn ist ein schmuckloser Bau mit Waschbetonfassade, im sechsten Stock sitzt Bärbel Mertsching, Professorin für Elektrotechnik. „Wie läuft Forschung eigentlich an der Uni ab?“, fragt Jonathan.

Die Antwort ließ sich schon auf dem Weg zu Mertschings Büro erahnen. Der führt vorbei an einem Raum, in dem sich Pappkartons stapeln und hüfthohe Wände aus Spanplatten. „Das ist noch von unserem Parcours übrig geblieben“, sagt Mertsching und schmunzelt: Mit ihren Studierenden hat sie die Kisten zu Barrieren aufgetürmt, um zu überprüfen, ob sich Roboter in dem Wust an Hindernissen zurechtfinden. „Wir bauen hier Rettungsroboter“, erklärt sie: Fahrzeuge voller Sensoren sind das, die später einmal in Gebiete vordringen können, die von Erdbeben oder Sturmfluten verwüstet sind. Dort sollen sie Menschen retten, Gashähne abdrehen oder Karten der Trümmerfelder anlegen, damit Rettungskräfte später den schnellsten Weg finden. Universitäre Forschung, sagt sie dann, sei im Prinzip all das, was nötig ist, bis die Roboter perfekt funktionieren.

Faszination in der Grundlagenforschung

„Wenn Sie anfangen zu studieren, geht es in den ersten Semestern vor allem um Grundlagen der Mathematik, um Werkstoffkunde und Schaltungen – um das theoretische Rüstzeug also, das Sie für die spätere Arbeit brauchen“, erklärt Bärbel Mertsching. Ab dem fünften Semester ergäben sich dann mehr Wahlmöglichkeiten, allmählich tauchten die Studierenden so immer tiefer in die tatsächliche Forschung ein. „Hier in Paderborn haben wir sogenannte Projektgruppen: Da können Sie als Student zwei Semester lang intensiv in einen Bereich reinschauen, der Sie besonders interessiert.“ Dabei erproben die Studierenden schon mal Teamarbeit und Organisation – und finden häufig ein Thema für ihre Abschlussarbeit. „Und wie lange dauert es, bis die Sachen, an denen Sie hier arbeiten, einsatzfähig sind?“, will Bastian wissen. „Das ist einer der großen Unterschiede zur industriellen Forschung“, antwortet Mertsching. „Dort muss ein neues Produkt in zwei, vielleicht fünf Jahren marktreif sein, bei uns sind die Arbeiten oft viel grundlagenorientierter.“ Worin denn für sie die Faszination liege, wenn man so lange gar keine konkrete Anwendung sehe, fragt Bastian weiter. Dann erzählt Mertsching von ihrer Diplomarbeit, in der sie sich mit der digitalen Bildverarbeitung befasste: „Was mir damals richtig gut gefiel, war der Freiraum für eigene Ideen und die Flexibilität bei der Organisation der Arbeit. Das findet man in der Industrieforschung normalerweise nicht.“

Bärbel Mertsching geht aus ihrem Büro wieder zurück in den Raum mit den verstreuten Pappkartons. An Computern sitzt hier nebeneinander ein knappes Dutzend junger Forscher – jeder arbeitet an einem Detail der Rettungsroboter, sodass sie eines Tages tatsächlich einmal Menschen retten werden. „Momentan arbeiten wir zum Beispiel mit Kognitionsbiologen zusammen“, sagt Mertsching. Das Problem: „Wenn Sie in mein Büro kommen und schauen möchten, ob ich da bin, suchen Sie mich vermutlich zuerst am Schreibtisch. Diesen fokussierten Blick hat ein Roboter nicht – er würde den Raum eher systematisch vom Fußboden bis zur Decke nach mir absuchen.“ Ihr Ziel sei jetzt, die Roboter mit einem ähnlichen Vorwissen auszustatten, wie die Menschen es haben. Und dabei helfen Kognitionsbiologen, aber auch Psychologen und natürlich Informatiker. „Die Probleme, an denen wir heute arbeiten, liegen immer an der Schnittstelle von verschiedenen Disziplinen.“

Die natur- und ingenieurwissenschaftliche Forschung hat in Deutschland eine lange Tradition. Deutlich wird das zum Beispiel an einer OECD-Studie, nach der weltweit fast nirgendwo anders so viele junge Leute ein Studium im MINT-Bereich absolvieren wie hierzulande. „Das hängt natürlich auch mit der Struktur der Wirtschaft zusammen: Hier ist der Industriesektor traditionell besonders stark, deshalb ist der Bedarf an Fachkräften auch besonders hoch“, sagt Pascal Hetze vom Stifterverband. Das beziehe sich indes nicht nur auf Akademiker: „Gebraucht werden auch Experten wie Mechatroniker und Industriemechaniker, die eine Lehre absolviert haben.“

Schon in Kindergärten gibt es inzwischen Forschungstage, Schüler besuchen Labors, vielerorts organisieren sich Schulen, Universitäten, Vereine und örtliche Firmen in sogenannten MINT-Netzwerken. Das alles trage dazu bei, dass Schüler frühzeitig die Faszination von Naturwissenschaft und Technik erleben und sich dann auch für einen Beruf in diesem Feld interessieren, davon ist Pascal Hetze überzeugt.

Diese Faszination spürt auch Kerrin Bielser, die Abiturientin mit der Mathe­begeisterung. Sie steht vor einem Gewirr aus Kabeln und Rohren, gerade hat sich hinter ihr eine schwere Schiebetür geschlossen. Anja Burkhardt hat sie mitgenommen zu einem Versuchs­aufbau bei DESY, dem Deutschen Elektronen-Synchrotron in Hamburg. „Das ist unsere Experimentier­hütte“, sagt Burkhardt, die als junge Forscherin den Betrieb leitet, und der Begriff klingt ein wenig verniedlichend für die Hightech-Gerätschaften, in deren Mitte ein 10 Tonnen schwerer Granitblock steht, ein orangefarbener Roboterarm und ein Detektor, der 1,3 Millionen Euro kostet. „73 Meter entfernt von hier steht der Teilchen­beschleuniger Petra“, sagt Burkhardt – eine gut 2.300 Meter lange ringförmige Anlage, in der Elektronen auf beinahe Lichtgeschwin­digkeit beschleunigt werden. Mit speziellen Magneten auf einen Schlinger­kurs gebracht, erzeugen sie hoch intensives Röntgenlicht, das mit einem komplexen Spiegel­system in die Experimentier­hütten geleitet wird, wo sie auf Kristalle treffen und deren Struktur enthüllen.

Kerrin schaut durch ein Mikroskop auf die Kristalle und stellt eine Frage nach der anderen. Wozu die Forscher die Struktur der Kristalle kennen müssen? Weil das zum Beispiel dabei hilft, neue Wirkstoffe für Medikamente zu entdecken. Wer die Experimentier­hütte nutzt? Meistens Wissenschaftler von renommierten Forschungs­instituten aus der ganzen Welt, aber oft auch große Pharmaunternehmen. 

Kerrin Bielser (Foto: Valerie Schmidt)
Kerrin Bielser (Foto: Valerie Schmidt)
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Mathe und Diabolo

Für Kerrin Bielser ist die Sache völlig klar: „Mit der Mathematik ist es wie mit dem Diabolospielen – je mehr man übt, desto besser wird man“, sagt die Hamburgerin, die es in beiden Disziplinen bereits zu einiger Meister­schaft gebracht hat. Mit dem Diabolo tritt sie beim Schulzirkus auf, in Mathematik belegt sie Spitzenplätze auf internatio­nalen Schülerwett­bewerben. „Ich habe immer schon gern gerechnet“, erzählt sie, „aber richtig Spaß machte mir Mathe erst auf dem Gymnasium, als es mit den Beweisen anfing.“ Seit der sechsten Klasse wurde sie jedes Jahr Landes­siegerin bei der Matheolympiade. Viele Jahre vertrat sie Deutschland bei der Mitteleuro­päischen Mathematik-Olympiade, sie macht mit bei „Jugend trainiert Mathematik“ und bei Förderpro­grammen der William-Stern-Gesellschaft. Dass sie nach dem Abitur Mathematik studieren will, ist klar. Nur bei der Wahl von Universität und Nebenfach ist sie sich noch nicht ganz sicher.

Wie viele Proben sich im Röntgenstrahl untersuchen lassen? Jede Messung dauert zwei, drei Minuten, der Roboter kann in einer Versuchsreihe bis zu 370 von ihnen abarbeiten. Und vor allem: Braucht man hier Mathematiker? Anja Burkhardt denkt kurz nach. „Ich habe Chemie studiert, aber bin hier so eine Art Mädchen für alles.“ Sie lacht kurz und erzählt, wie sie zur Not selbst einen kaputten Motor wieder in Gang bringt, die Gerätschaften für den nächsten Versuch richtig einstellt und zugleich die Forscher wissenschaftlich berät. In ihrem Team seien unter anderem Biochemiker, Chemiker, Physiker, Programmierer und Ingenieure, zählt sie auf – „und bei allen spielt Mathematik eine wichtige Rolle, aber eher als Mittel zum Zweck“. Dass sie selbst sich auf Kristallografie konzentrieren werde, habe sie erst während ihrer Doktorarbeit entschieden, erzählt Burkhardt. „Und dann habe ich konsequent alle möglichen Institute im Ausland angeschrieben und notiert, was ich kann und was ich machen will.“ So kam sie nach Stockholm an die dortige Universität und landete schließlich bei DESY in Hamburg.

Der Zufall hilft manchmal

Wie sehr manchmal Zufälle helfen, das richtige Forschungsgebiet zu finden, hört Kerrin noch öfter auf ihrer Reise durch die Welt der MINT-Forschung. Zum Beispiel in Kiel am Geomar, dem Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Dort strahlt gerade die Sonne über die Förde, vom Büro aus sieht Kerrin, wie direkt vor der Tür das 55 Meter lange Forschungsschiff Alkor auf den Wellen schaukelt. Hier im Büroraum ist Kerrin mit Siren Rühs verabredet, einer Doktorandin. „Wieso begeisterst du dich so für Mathe?“, will Rühs wissen. Sie hört ruhig zu, als Kerrin erzählt, wie sie sich als Schülerin immer weiter reingebissen hat in die Fragen der Geometrie, Algebra, Kombinatorik und Zahlentheorie. „Du bist also eher die Theoretikerin?“, fragt Rühs, und Kerrin antwortet lachend mit ihrem Hamburger Akzent: „Jo, schon en bissken!“

 „Ich musste im Studium erst mal ordentlich kämpfen mit der Mathematik“, sagt Siren Rühs. Und schiebt gleich ihr persönliches Erfolgsrezept hinterher: Je schwieriger das Studium, so ihre Erfahrung, desto wichtiger sei die praktische Anwendung. So kam sie ans Geomar: Als Hilfswissenschaftlerin packte sie schon während des Studiums bei konkreten Aufgaben mit an. Ihr Spezialgebiet ist die Modellierung des Ozeans: „Das ist ein Gebiet, in dem wir sehr viel mit Mathematik arbeiten: Es geht um Datenstrukturen, die Verbindung von Algorithmen, um mathematische Umsetzungen physikalischer Gesetze.“

Sie winkt Kerrin an ihren Schreibtisch heran, auf dem zwei Bildschirme stehen. Dreidimensional ist darauf der Ozean zu sehen, wie eine leere Wanne mit all den Bergen und Strukturen am Meeresgrund. Auf einen Klick ergießen sich in der Animation jetzt ganze Wasserfluten, sie fließen und vermischen sich. Zu sehen sind Strömungsanalysen, berechnet mithilfe von Hochleistungscomputern in einem Rechenzentrum: Wenn eiskaltes Schmelzwasser von Grönland in den Ozean fließt – wie wirkt sich das auf die Zirkulation des Wassers aus? Das wiederum hat weitreichende Folgen für das Klima. Oder ein ganz anderes Beispiel: „Als die ersten Wrackteile des Malaysia-Airlines-Flugzeug gefunden wurden, das vor einigen Jahren abgestürzt und spurlos verschwunden ist, konnten wir anhand der Strömungen simulieren, in welchen Regionen die Absturzstelle gelegen haben könnte“, sagt Siren Rühs.

Sie klickt von ihrem Bildschirm die komplizierten Berechnungen weg, erst jetzt sieht Kerrin das Hintergrundbild: Es zeigt das Forschungsschiff Meteor auf hoher See, das Meer sieht tropisch aus. „Wo hast du das Bild gemacht?“, fragt Kerrin. „Das war auf der ersten Expedition, bei der ich dabei war: vier Wochen von Brasilien nach Namibia“, antwortet Rühs. Ihr Blick ist versonnen. Sie deutet auf das Foto und erinnert sich an die Versuche, die sie direkt auf dem Ozean machte: „Das sind die Momente, für die sich die ganze Mühe lohnt.“

Die Mühe – sie liegt noch vor Kerrin Bielser, vor Jonathan Kipp und Bastian Schlautmann. 2018 machen sie Abitur, und dann wollen sie sich entscheiden, wie genau sie in die Welt von Mathematikern, Technikern und Naturforschern eintauchen werden.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in: CARTA 2020 - MINT-Bildung

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