Wie viele Akademiker braucht Deutschland?

image
Streitbare Köpfe: Julian Nida-Rümelin (links) und Thomas Sattelberger (Foto: Sebastian Arlt)
©

Herr Sattelberger, wenn Sie auf Ihre eigene Bildungslaufahn zurückblicken – gab es da einen Moment, der Sie nachhaltig geprägt hat?
Sattelberger: Da fällt mir sofort der Satz eines früheren Chefs ein: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn alles andere vergessen ist.“ Das führt die Bildung existenziell auf die Identität zurück und hat bei mir zu einer Distanz zum formalisierten, rein fachbasierten Lernen geführt. Und dieser Satz hat mich angeregt, die vielen Lernmöglichkeiten zu nutzen, die das Leben einem gibt.
Nida-Rümelin: Der Satz ist von Mark Twain, oder? Ich finde ihn auch stark: Er richtet sich gegen die Instrumentalisierung von Bildung als Mittel zu anderen Zwecken. Das ist ja ein Kerngedanke des Humanismus – seine Fähigkeiten zu entfalten.
Sattelberger: Ich bin mit Latein und Altgriechisch in der Schule aufgewachsen. Meine Eltern sind keine Akademiker und haben sich immer nach einer höheren Bildung gesehnt. Mir haben sie das insofern mitgegeben, als sie mir immer Optionen eröffnet haben: Mit 16 war ich ein Jahr lang Austauschschüler in den USA – wohlgemerkt 1967, als das alles andere als normal war.
Nida-Rümelin: Da haben wir eine Gemeinsamkeit: Ich stamme auch aus einem nichtakademischen Haushalt. Mein Vater war Künstler, ist früh von der Schule abgegangen, und ich bin buchstäblich in einer Werkstatt aufgewachsen, in einem großen Atelier. Mein Vater verstand sich ebenso sehr als Künstler wie als Handwerker: Er hat vom Gerüstbau bis zu den Gips- und Wachsgüssen alles selbst gemacht. Und wir Kinder sollten da mithelfen. Bildung bestand für mich also auch darin, Holzarten zu unterscheiden und ein Gespür für Farben und Formen zu entwickeln.

Dieser breite Blick auf die Bildung ist eine der Kernforderungen in Ihrem Buch „Akademisierungswahn“. Darin kritisieren Sie auch den Ansturm auf die deutschen Hochschulen. Aber alle Prognosen sagen, dass wir mehr Akademiker brauchen.
Nida-Rümelin: Sie werden sich wundern, aber ich bin davon überzeugt: Wir brauchen mehr Akademiker. Derzeit haben in Deutschland 17 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen Hochschulabschluss. Eine Erhöhung um etwa ein Drittel kann man da sehr gut rechtfertigen. Von den heutigen Schulabgängern wechseln aber unterdessen über 50 Prozent an Hochschulen – dabei gibt es keine einzige Prognose, die von einem Akademikerbedarf in dieser Größenordnung ausgeht.

Sattelberger: So legitim diese Debatte ist, sie ist doch Wasser auf die Mühlen derer, die die soziale Undurchlässigkeit zementieren. Seit der Öffnung der Universitäten in den 1960er-Jahren und dem Ausbau der Fachhochschulen gibt es die stark sozialdemokratisch geprägte Hoffnung, dass junge Menschen aus der Arbeiterschaft akademische Bildung erreichen. Die Situation ist tatsächlich ein Stück besser geworden, aber strukturell haben immer noch Kinder aus dem Bürgertum eine viermal so hohe Wahrscheinlichkeit, zu studieren. 

image
Thomas Sattelberger (Foto: Sebastian Arlt)
©
"Formale Bildung wird weniger entscheidend" - Thomas Sattelberger im Gespräch

Und jetzt sage ich es hart: Wenn die Diskussion um den Akademisierungswahn dazu führt, dass wir die Studierendenzahl begrenzen, dann würde das die von der OECD seit Jahren angeprangerte soziale Undurchlässigkeit des deutschen Bildungssystems stabilisieren.
Nida-Rümelin: Es ist ein Irrtum, zu meinen, dass mit einem höheren Anteil von Studierenden pro Jahrgang die soziale Mobilität wächst! Deutschland gehört zusammen mit den skandinavischen Ländern, mit Kanada und Neuseeland zu den Ländern mit der höchsten sozialen Mobilität. Im Gegensatz dazu weisen die USA und Großbritannien, die mit ihrem laut OECD doppelt so hohen Akademikeranteil in der Bevölkerung immer wieder als Vorbild gepriesen werden, eine weit niedrigere soziale Mobilität auf. Die Stärke des deutschen Bildungssystems liegt doch gerade darin, dass wir eine hervorragende berufliche Bildung haben, die sozialen Aufstieg ermöglicht.
Sattelberger: Aber die Realität ist doch, dass sich die Berufsausbildung gerade selbst abschafft, weil sie einfach nicht mehr attraktiv ist. Beruflich Qualifizierte wollen eine Perspektive. Und während früher auch Meister, Techniker und Facharbeiter im mittleren Management Karriere machen konnten, hat sich in den zurückliegenden Jahren die Zahl der Nichtakademiker unter den Führungskräften halbiert. Die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung wird damit zu einer Phrase. Große Unternehmen wie Siemens, Bosch oder Lufthansa hatten früher eine Stammhaus-Ausbildung – die gibt es jetzt nicht mehr. Und das liegt nicht an irgendeiner Propaganda für Akademisierung, sondern schlicht daran, dass das Produkt am oberen Qualifikationsspektrum nicht reformiert worden ist und am unteren Ende sich nicht öffnet für die vielen hunderttausend jungen Menschen ohne Berufsausbildung.

„ Wer glaubt, mit patriarchalischem Stil und digitaler Ignoranz heute die junge Generation zu gewinnen, der schießt sich ins eigene Bein.“

Thomas Sattelberger

Kann es nicht auch sein, dass der Arbeitsmarkt der Zukunft schlicht neue Qualifikationen verlangt – und dass die an Hochschulen am besten vermittelt werden?
Sattelberger: Natürlich ist die Akademisierung vor dem Hintergrund der Digitalisierung und der technischen Revolution ein Schlüsselthema. Nach allem, was wir aus Untersuchungen wissen, wird klassische Facharbeit mittlerer Qualifikation zunehmend durch Roboter ersetzt. Was bleibt also übrig? Erstens hochwertigste Qualifikationen in den MINT-Bereichen, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik; zweitens der Bereich Management und Finance und drittens alles, was mit Human Relations und Beziehungsarbeit zu tun hat, also Bildung, Pflege, Gesundheit. Wenn wir diesen Wandel meistern wollen, ist es ganz wesentlich, dass wir die Akademisierung in die richtige Richtung steuern. Im Augenblick kämpfen wir gegen das Maschinenhaus Asien, und das digitale Haus USA entfernt sich zunehmend. Wir sind hocherfolgreich – aber wir stecken im Sandwich zwischen diesen beiden Technologieregionen.

image
Foto: istock/tunart
©

Essay: Was von der Arbeitswelt übrig bleibt

Die Gesellschaft der Zukunft braucht freie und unabhängig denkende Köpfe. Darauf muss Deutschland mit einem neuen Bildungs- und Erziehungssystem reagieren, fordert Gunter Dueck, der frühere Chief Technology Officer von IBM Deutschland – und fürchtet, dass die Gesellschaft die überfälligen Reformen verschläft. Ein Essay. 

Hier lesen

Nida-Rümelin: Wissen Sie, woher die Hälfte der gesamten Software stammt? – Nein, nicht aus den USA, sondern aus Indien! Und die allermeisten, die das produzieren, sind keine Akademiker. Sie müssen mal Ihre reine Konzernperspektive verlassen und die gesamte Wirtschaft in den Blick nehmen. Nach einer Studie des Instituts für Berufliche Bildung fehlen bis 2030 im Bereich der nichtakademischen Fachkräfte 3 Millionen Menschen, während bis dahin 1,6 Millionen Absolventen zusätzlich auf den akademischen Arbeitsmarkt drängen. Wer da erzählt, mit einem akademischen Abschluss sei die Karriere gesichert, der versündigt sich an der Mathematik, denn es können nicht zwei Drittel der Menschen in Spitzenpositionen tätig sein.
Sattelberger: Jetzt bedienen Sie populistisch die Handwerkskammern, die natürlich jubilieren, dass jemand in ihrem Sinne argumentiert. Aber der interessante Punkt ist, dass sich das Handwerk selbst das Wasser abgräbt. Wenn Sie sich das Thema Arbeitszufriedenheit anschauen – das Handwerk ist der Bereich, der in Sachen Unternehmenskultur bei aktuellen Studien am zweitschlechtesten abschneidet. Wer glaubt, mit patriarchalischem Stil und digitaler Ignoranz heute die junge Generation zu gewinnen, der schießt sich ins eigene Bein. Und jetzt kommt die interessante Frage: Wie müssen Qualifikationsprofile also aussehen, wenn heute Wagniskapitalgeber jemandem 100.000 Dollar zahlen, damit er sein Studium abbricht und ein Unternehmen gründet? Ich glaube, dass formale Bildung künftig weniger entscheidend sein wird.

Wäre es ein Weg, an den Universitäten den wissenschaftlichen Nachwuchs auszubilden und alles Praxisorientierte an Fachhochschulen und Duale Studiengänge abzugeben?
Nida-Rümelin: Nein, aber ohne Wissenschaftsorientierung ihrer Studiengänge verlören die Universitäten ihre Identität.
Sattelberger: Die Akademisierungswahn-Diskussion ist geprägt von der Unfähigkeit der akademischen Institutionen, in Bildung und Lehre eine saubere Qualität herzustellen. Viele Uni-Präsidenten wissen nicht einmal, wie hoch die Abbrecherquote bei ihnen ist, und über 70 Prozent der Professoren an technischen Fakultäten sagen: Die Verantwortung für die Qualität des Studiums liegt bei den Studierenden. – Das ist doch absurd!

„Es können nicht zwei Drittel der Menschen in Spitzenpositionen tätig sein.“

Julian Nida-Rümelin

Nida-Rümelin: Na ja, lernen müssen die Studierenden schon selbst, da führt kein Weg dran vorbei.
Sattelberger: Ich habe den Eindruck, dass viele Professoren es sich zu einfach machen. Die wollen ihren alten Stiefel abziehen und sehen nicht, dass die Lernenden von heute eine ganz andere Art von Variabilität benötigen, weil die Biografien immer komplexer und diverser werden. 
Nida-Rümelin: Wir müssen der Lehre das gleiche Gewicht geben wie der Forschung. Aber dass die steigenden Abbrecherquoten eine Folge schlechter Lehre sind, geht in die Irre. Es gibt heute Studierende, die können sich nicht klar ausdrücken und nicht fehlerfrei schreiben. Bei mir in der Sprechstunde saßen schon junge Leute, die allen Ernstes gesagt haben: „Ich wusste nicht, dass man im Philosophiestudium so viel lesen muss, sogar ganze Bücher!“ Wenn einer beim Schreiner in die Lehre geht und zwei linke Hände hat – der wird die Ausbildung nicht beenden. Deshalb bin ich beim Studium für einen Eingangstest, wie es ihn ja bei jeder handwerklichen Ausbildung auch gibt. Könnte es nicht sein, dass ein wachsender Anteil derer, die jetzt ein Studiumaufnehmen, auf einem anderen Weg besser aufgehoben wäre?

image
Julian Nida-Rümelin (Foto: Sebastian Arlt)
©
"Lernen müssen die Studierenden schon selbst" - Julian Nida-Rümelin im Gespräch

Ihre Forderung ist also, die soziale Durchlässigkeit beim Studium und zugleich die Zahl der Auszubildenden zu erhöhen – und das bei hoher Qualität und niedrigen Abbrecherzahlen. Das hört sich nach der Quadratur des Kreises an.
Sattelberger: Der Weg muss dahin führen, sogenannte atypische Übergänge in die Hochschule zu schaffen, individuelle Einstiegsbedürfnisse zu berücksichtigen und gut zu beraten. Dann müssen die Standards nicht gesenkt werden.
Nida-Rümelin: Völlig einverstanden!
Sattelberger: Im Klartext bedeutet das, die Systemwelten zu hybridisieren, und zwar in beide Richtungen. Die berufliche Bildung muss also so angelegt sein, dass ein Übergang ins Studium möglich ist – und umgekehrt muss jemand, der von der Hochschule kommt, bei einer beruflichen Ausbildung Module seines Studiums angerechnet bekommen. Der Akademisierungswahn beginnt bei denen, die die Systeme so gestalten, dass sie undurchdringlich sind.
Nida-Rümelin: Ich bin im Grunde optimistisch, dass das gelingen kann. Deutschland sollte wahrnehmen, wo die eigenen Stärken liegen – und damit sind wir wieder bei der beruflichen Bildung. Ich bin mir sicher: Wenn an den Schulen nicht eine kognitive Schlagseite bestünde – wenn also auch am Gymnasium klar wäre, dass die Förderung von gestalterischen, kreativen und handwerklichen Talenten auch zur Bildung gehört –, dann würde sich ein wachsender Anteil derer, die eine Hochschulzugangsberechtigung haben, für einen anderen Weg entscheiden.

Durchlässige Bildungswege als Lösung? Diskussion in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität

Julian Nida-Rümelin ist einer der renommiertesten Philosophen in Deutschland, er lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder und meldet sich immer wieder in Bildungsfragen zu Wort – zuletzt mit seinen Büchern „Auf dem Weg in eine neue deutsche Bildungskatastrophe. Zwölf unangenehme Wahrheiten“ (2015), „Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“ (2014) sowie „Philosophie einer humanen Bildung“ (2013).

Thomas Sattelberger galt bis zu seinem Ruhestand als einer der einflussreichsten Personalmanager in Deutschland. Der Betriebswirt war Vorstandsmitglied bei mehreren großen deutschen Unternehmen, zuletzt bei der Deutschen Telekom. Sattelberger ist Themenbotschafter der Initiative Neue Qualität der Arbeit, engagiert sich für eine bessere Bildung im MINT-Bereich (Mathematik, Naturwissenschaft und Technik) und ist in zahlreichen Stiftungen aktiv. Sein jüngstes Buch „Das demokratische Unternehmen“ wurde jüngst auf der Frankfurter Buchmesse als Managementbuch des Jahres 2015 ausgezeichnet.

Tauchen Sie tiefer in unsere Insights-Themen ein.
Zu den Insights