Herr Sattelberger, wenn Sie auf Ihre eigene Bildungslaufahn zurückblicken – gab es da einen Moment, der Sie nachhaltig geprägt hat?
Sattelberger: Da fällt mir sofort der Satz eines früheren Chefs ein: „Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn alles andere vergessen ist.“ Das führt die Bildung existenziell auf die Identität zurück und hat bei mir zu einer Distanz zum formalisierten, rein fachbasierten Lernen geführt. Und dieser Satz hat mich angeregt, die vielen Lernmöglichkeiten zu nutzen, die das Leben einem gibt.
Nida-Rümelin: Der Satz ist von Mark Twain, oder? Ich finde ihn auch stark: Er richtet sich gegen die Instrumentalisierung von Bildung als Mittel zu anderen Zwecken. Das ist ja ein Kerngedanke des Humanismus – seine Fähigkeiten zu entfalten.
Sattelberger: Ich bin mit Latein und Altgriechisch in der Schule aufgewachsen. Meine Eltern sind keine Akademiker und haben sich immer nach einer höheren Bildung gesehnt. Mir haben sie das insofern mitgegeben, als sie mir immer Optionen eröffnet haben: Mit 16 war ich ein Jahr lang Austauschschüler in den USA – wohlgemerkt 1967, als das alles andere als normal war.
Nida-Rümelin: Da haben wir eine Gemeinsamkeit: Ich stamme auch aus einem nichtakademischen Haushalt. Mein Vater war Künstler, ist früh von der Schule abgegangen, und ich bin buchstäblich in einer Werkstatt aufgewachsen, in einem großen Atelier. Mein Vater verstand sich ebenso sehr als Künstler wie als Handwerker: Er hat vom Gerüstbau bis zu den Gips- und Wachsgüssen alles selbst gemacht. Und wir Kinder sollten da mithelfen. Bildung bestand für mich also auch darin, Holzarten zu unterscheiden und ein Gespür für Farben und Formen zu entwickeln.
Dieser breite Blick auf die Bildung ist eine der Kernforderungen in Ihrem Buch „Akademisierungswahn“. Darin kritisieren Sie auch den Ansturm auf die deutschen Hochschulen. Aber alle Prognosen sagen, dass wir mehr Akademiker brauchen.
Nida-Rümelin: Sie werden sich wundern, aber ich bin davon überzeugt: Wir brauchen mehr Akademiker. Derzeit haben in Deutschland 17 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen Hochschulabschluss. Eine Erhöhung um etwa ein Drittel kann man da sehr gut rechtfertigen. Von den heutigen Schulabgängern wechseln aber unterdessen über 50 Prozent an Hochschulen – dabei gibt es keine einzige Prognose, die von einem Akademikerbedarf in dieser Größenordnung ausgeht.