Wo die wilden Denker wohnen

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Julia Fuchte wohnt in der Jugendherberge in Bernkastel-Kues und studiert Ökonomie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsgestaltung (Foto: Valerie Schmidt)
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Der Schrecken durchdringt die Jugendherberge im rheinland-pfälzischen Bernkastel-Kues um 6.07 Uhr am Sonntagmorgen. Es poltert, scheppert und klirrt, als entleere jemand einen Altglascontainer mitten im Haus. Ein Schrank hat sich in der Küche von der Wand gelöst und mit viel Lärm Scherben ausgespuckt. „Der war zu schwer“, vermutet Studentin Julia Fuchte. „Wir hatten gerade Tassen für die neuen Bachelor-Kommilitonen gesammelt. Jetzt können wir wieder von vorne anfangen.“ Den Schrank hatten die Studenten auf dem Sperrmüll gefunden und an der Wand angebracht. Jetzt müssen sie wieder improvisieren. Dann grinst die 32-Jährige: „Zumindest können wir den Witz machen, dass wir nicht mehr alle Tassen im Schrank haben.“

Die Jugendherberge in Bernkastel-Kues mit ihren 80 Betten stand mehrere Jahre lang leer, bis die Studierenden der Cusanus Hochschule im Ort dort 2015 eine Unterkunft fanden. Julia Fuchte ist eine von ihnen, sie macht gerade ihren Master in „Ökonomie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsgestaltung“. Manche der Studierenden wohnen nur alle vier Wochen während der Blockveranstaltungen in der alten Herberge, einige von ihnen leben wie Fuchte dauerhaft in einer der Wohngemeinschaften, die sich gebildet haben. Seit diesem Wintersemester kann man an der Cusanus Hochschule nicht nur Ökonomie und Philosophie im Master studieren, sondern nun auch im Bachelor, mit Schwerpunkt „Soziale Verantwortung“. Insgesamt sind rund 60 Studierende eingeschrieben. Sie teilen viel. Vor allem den Wunsch nach einer anderen wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung.

Das beschauliche Städtchen Bernkastel-Kues an der Mosel
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(Foto: [Kuebi]( https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Kuebi) = Armin Kübelbeck, [Bernkastel 01]( https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bernkastel_01.jpg), Ausschnitt, [CC BY-SA 3.0]( https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode)
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Darum geht es in dem kleinen Ort an der Mosel, rund 50 Kilometer nordöstlich von Trier. Die private Hochschule will sich abheben von der herrschenden Lehre, die auf dem Bild des Homo Oeconomicus basiert und davon ausgeht, dass Menschen immer rational und zu ihrem persönlichen Vorteil handeln – und so einen vollkommenen Markt schaffen. Diese Annahme ist falsch, davon sind sie in der Universität überzeugt. Illusorisch und nicht zukunftsfähig. Nur habe sich die Erkenntnis an den Universitäten bislang nicht durchgesetzt. Trotz Finanzkrise. Deshalb brauche es eine neue Hochschule, fanden die Gründer der Cusanus Hochschule.

Den Blick der Studierenden schärfen

Silja Graupe ist eine von ihnen. Die 41-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt ist Wirtschaftsingenieurin und sagt, sie sei es eigentlich gewohnt, zwischen Menschen mit verschiedenen Sichtweisen zu vermitteln. Wenn es um die Wirtschaftswissenschaften geht, werde sie allerdings kompromisslos. „An den Universitäten und Hochschulen wird mit der neoklassischen Theorie etwas völlig Weltfremdes gelehrt“, ärgert sich Graupe. „Und Studierende lernen nicht, diese Theorien an der Realität zu überprüfen.“ So entstünden Vorstellungen, die nicht hinterfragt würden, sich aber auf die gesamte Gesellschaft auswirken. Verpackt werde das in mathematische Modelle, die den Studierenden die Welt zu erklären scheinen.

„Das Problem ist, dass diese wissenschaftliche Sicht oft als Wahrheit vermittelt wird, als sei sie Realität“, sagt Graupe. Dabei folge der Mensch längst nicht immer der verbreiteten Theorie des Homo Oeconomicus: Er maximiert seinen Nutzen nicht nur, sondern er spendet auch und hilft anderen Menschen – oder er schadet sich und anderen, etwa wenn er raucht und Ressourcen ausbeutet. Für diese Widersprüche will Silja Graupe den Blick ihrer Studierenden schärfen. Sie sollen hinter die Theorien blicken, andere Sichtweisen kennenlernen und diese an ihrem Leben überprüfen. Eine vergleichbare Hochschule gebe es sonst nirgendwo in Deutschland, sagt Graupe. Zwar könne man zum Beispiel in Siegen einen Master in Pluraler Ökonomik machen, der alternative Wirtschaftsansätze und Theorien der Nachhaltigkeit berücksichtigt. Aber: „Die Pluralität findet dabei eher innerhalb der ökonomischen Theorie statt“, sagt Graupe. In Bernkastel-Kues wolle man auch andere Fächer einbeziehen, zum Beispiel Philosophie, um die Wirtschaftswissenschaft besser reflektieren zu können.

Doch den Gründern der Hochschule geht es um weit mehr: Lehre und Forschung sollen wirklich frei sein. An staatlichen Unis sei das nicht gegeben, kritisieren sie, weil die Lehrpläne und überfüllten Hörsäle kaum Raum für Experimente böten. Und privat finanzierte Hochschulen seien häufig abhängig von den wirtschaftlichen Interessen einiger Großsponsoren. Die Cusaner gehen deshalb einen anderen Weg. Sie haben ein Rechtskonstrukt erdacht, das nach eigener Aussage einmalig ist in Deutschland: Die Hochschule ist eine unselbstständige Stiftung. Träger ist die Cusanus Treuhand gGmbH. Beide sind gemeinnützig. „Die Hochschule gehört und verwaltet sich selbst“, so Graupe. Der Träger dürfe keinen Einfluss auf die Inhalte nehmen, „er steht im Dienst der Hochschule.“

Finanziert über Stiftungen

Alle vier Studiengänge sind akkreditiert, 2015 hat die Hochschule vom Land Rheinland-Pfalz ihre Betriebserlaubnis erhalten. Sie finanziert sich über die Stiftung, über Schenkungen vermögender Mäzene und die Studiengebühren. Doch das ist zäh. Aktuell beträgt der Etat schon rund eine Million Euro im Jahr. Bis 2020 sollen es 220 Studenten werden, dann würden die Kosten auf rund zwei Millionen Euro jährlich steigen – und die Initiatoren müssten auf noch mehr Zuwendungen hoffen. Graupe sagt: „Wir sind auf eine Gesellschaft angewiesen, die versteht, dass freiheitliche Lehre und Forschung einer freiheitlichen Finanzierung bedürfen, die aus ihrer Mitte kommt.“

Bernkastel-Kues, rund 7500 Einwohner, ist der größte Reha-Standort in Rheinland- Pfalz. Die Mosel schlängelt sich durch Weinberge, im Ort reihen sich pittoreske Fachwerkhäuser aneinander. Ein Postkarten-Idyll. Rund 500 000 Touristen besuchen den Ort jedes Jahr, 1,4 Millionen Übernachtungen kommen so zusammen. Oft entsteigen Rentner in Funktionsjacken Dutzenden von Bussen, bevölkern den Marktplatz mit dem Michaelsbrunnen von 1606 und dem Spitzhäuschen von 1416. „Wenn wie jetzt im Winter die Zahl der Touristen abnimmt, sticht eine Gruppe von 60 jungen Menschen deutlich heraus, sagt Frank Vierheilig, Kanzler der Hochschule und Geschäftsführer der Cusanus Treuhand gGmbh. 

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(Foto: [Nick Thompson](https://www.flickr.com/photos/pelegrino/), [Nicholas of Cusa I](https://goo.gl/yUr4Js), [CC BY-NC 2.0](https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/), via [flickr.com](flickr.com)
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Die Cusanus Hochschule im Forschergeist

Was bringt jemanden dazu, eine neue Hochschule zu gründen? Was treibt einen an, in einem Land voller Bildungsinstitutionen etwas zu wagen, das sich stark vom Herkömmlichen unterscheidet? Interview mit Hochschulgründerin Silja Graupe.

Denn für Kurse und Seminare pilgern die Studenten jeden Tag von der Jugendherberge hinunter in den Ort. Die Cusanus Hochschule hat mit einem Professor auf zehn Studierende ein wohl einmalig gutes Betreuungsverhältnis – jedoch keine eigenen Räume für ihre Seminare. Die Verwaltung der Hochschule ist mit ihren drei Mitarbeitern in einem Büro im Rathaus untergekommen. „Oft bekommen wir Räume für Seminare für einen symbolischen Mietpreis gestellt“, sagt Vierheilig. Aktuell nutzt die Hochschule vor allem die ehemalige Synagoge im Stadtteil Bernkastel.

Hoch über ihr schmiegt sich die Jugendherberge aus dem Jahr 1903 an den Hang. Ihr Spielplatz hat längst vor wild wucherndem Gemüse kapituliert. Noch im Herbst wuchsen Kürbisse rund um die Rutsche, die inmitten von Sonnenblumen wie ein Fremdkörper aufragte. Eines der alten Fußballtore haben die Studierenden mit Folie in ein Gewächshaus verwandelt. Im Foyer der Jugendherberge haben sie in einem Karton von „Sobo Naturkost“ den „Tabak-Commonismus“ ausgerufen – Rauchwaren sind Allgemeingut. Daneben kann man sich „Free Books“ aus dem Regal angeln. Während der Seminarzeit frühstücken die Studierenden zusammen, wer will, trifft sich zum Singen, dann geht es runter in den Ort. Abends zurück in der Jugendherberge wird gemeinsam gekocht, gegessen, oft auch diskutiert. „Es ist sehr intensiv, hier passiert viel gemeinsam“, sagt Simon Stott aus Bonn, der Ökonomie und Gesellschaftsgestaltung im Master studiert. „Darauf muss man Lust haben, sonst bringt es nichts.“ Bis Ende 2017 dürfen die Studierenden die Jugendherberge mietfrei nutzen. Dann will das Jugendherbergswerk das Haus sanieren und neu eröffnen.

Kraftraubende Suche nach Spendern

Wo die Studierenden dann unterkommen, ist unklar. Wer für die Wohnkosten aufkommt, auch. Die Hochschule hat jüngst immerhin die Gebühren für alle Studiengänge gesenkt. Statt 600 werden jetzt 300 Euro im Monat fällig. Für die Hochschule sind die Gebühren ohnehin nur ein kleiner Teil dessen, was sie für den Haushalt aufbringen muss, sie braucht mehr Spenden. Der Weg ist also alles andere als vorgezeichnet, das deutet auch das Logo der Hochschule an. Es ist eine Kugel mit einer Delle, ein Bild, das der Philosoph und Namensgeber Nikolaus Cusanus in seinen Schriften vor über 500 Jahren verwendete: Die Kugel rollt nicht gerade, heißt es auf der Internetseite der Hochschule: „Ihr Lauf ist nichtlinear und nie völlig zu determinieren.“ Einer, der sich mit Finanzierungsmodellen für die Hochschule und ihre Studenten beschäftigt, ist Richard Everett. Er ist seit Anfang des Jahres in Rente und hat zuvor bei der GLS Treuhand in Bochum gearbeitet. Kontakt zu den Cusanus-Leuten hatte er durch ein Projekt zum Thema „Wohnstätten neuen und ökonomischen Denkens“. Everett wohnt in einem kleinen Ort bei Hamburg und arbeitet in Teilzeit für die Hochschule. „Man kann auch von ehrenamtlichen Engagement sprechen“, sagt er. Everett hat die Kampagne „1000 mal 1000“ entwickelt, mit der die Hochschule im Herbst an die Öffentlichkeit gegangen ist. Die Idee: Mit 1000 Beträgen von je 1000 Euro kann die Hochschule die Grundfinanzierung sichern und ihre Unabhängigkeit wahren. „Wir wollen ein Konzept, mit dem wir uns nicht von wenigen großen Geldgebern abhängig machen.“

Wenn es jedoch ausschließlich beim 1000-Euro-Modell bleibt, wird es zäh. „Wenn wir jeden Tag einen neuen Spender gewinnen, dauert es drei Jahre, bis wir das Geld zusammen haben“, so Everett. Und dass Geldgeber jedes Jahr zahlen, sei auch nicht sicher. Deshalb gilt für ihn: „Unternehmen können natürlich auch höhere Summen geben. Es gibt keine Obergrenze.“ Ganz ohne die Wirtschaft geht es also nicht. Doch wie will die Hochschule unabhängig bleiben, falls ein finanzstarker Geldgeber auftauchen sollte? Wie verhindern, dass sie sich – auch unbewusst – beeinflussen lässt? Das gehe nur mit einer „alltäglichen Prüfung“, wie Everett es ausdrückt. „Wir legen hier viel Wert auf eine Reflexionskultur.“

Silja Graupe spricht von einer „ständigen Arbeit, die Achtsamkeit braucht“. Bislang sei die Hochschule gewachsen, ohne sich zu verschulden. Ihr ist vor allem wichtig, dass Geldgeber keinen Einfluss auf Forschungsprojekte nehmen. Auch Kanzler Vierheilig sagt: „Wenn uns jemand eine halbe Million Euro geben möchte, dann darf er das gerne tun. Er darf nur keine Gegenleistung erwarten.“ Die permanente Suche nach Spendern sei kraftraubend. „Auf der anderen Seite ist aber genau das auch unser Vorteil: Wir können nicht träge werden, sondern müssen uns ständig bewegen.“ Doch was, wenn das Projekt Hochschule trotz aller Bemühungen scheitert? „Wenn die Gesellschaft uns will, dann wird es uns geben“, sagt Vierheilig. „Wenn sie uns nicht will, wird es uns nicht mehr geben.“

Dieser Beitrag erschien zuerst auf enorm-magazin.de

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