Die Arbeitsmarktsituation der Geisteswissenschaftler gilt häufig als schwierig. Auch wenn das Klischee vom Taxifahrer Dr. phil. nicht zutrifft, so findet sich doch unter den rund 500.000 Erwerbstätigen mit einem geisteswissenschaftlichen Abschluss – Lehramtsabsolventen ausgenommen – ein höherer Anteil in Arbeitslosigkeit, in Solo-Selbstständigkeit oder in wenig anspruchsvoller Berufstätigkeit wieder, als dies für den Durchschnitt der rund neun Millionen erwerbstätigen Akademiker der Fall ist. Dies kann als Zeichen für eine zu hohe Absolventenzahl gedeutet werden. In Zeiten des Fachkräftemangels in technischen Berufen liegt die Überlegung nahe, geisteswissenschaftliche Studienplätze zugunsten der mathematischen und technischen Fächer zu reduzieren. In den USA, Japan und Großbritannien findet genau das schon statt.
Gleichzeitig gibt es aber auch gegenteilige Signale, vor allem aus den USA. Geistes- und Sozialwissenschaftler mit ihren kommunikativen und sozialen Fähigkeiten würden in der Kooperation mit IT- Experten benötigt, um technische Funktionen unternehmensintern und -extern verständlich zu machen und um die Kundenbedürfnisse bei der Entwicklung und Vermarktung neuer digitaler Produkte besser zu integrieren. Die Fähigkeit, abzuschätzen, in welchem Ausmaß die kulturelle Dimension das wirtschaftliche Handeln beeinflusse, lasse sich nicht durch Datenanalysen gewinnen, sondern durch ein geisteswissenschaftlich ausgerichtetes Studium von Texten, Sprache und Menschen. Bei der Entwicklung und Nutzung autonom agierender Maschinen sowie bei der Implementation von Algorithmen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse seien ethische Fragen zu klären. Dies seien Aufgaben für Geisteswissenschaftler. Wenn künftig immer mehr Routineaufgaben durch digitale Anwendungen erledigt würden, sei eine umfassende Problemlösungsfähigkeit besonders gefragt: Man müsse künftig vermehrt in der Lage sein, die richtigen Fragen zu stellen und zu erkennen, um welches Problem es im Kern gehe. Dazu könne vor allem ein geisteswissenschaftliches Studium beitragen.
Sind öffentliche Gelder in geisteswissenschaftlichen Studiengängen fehlinvestiert oder braucht die digitalisierte Arbeitswelt geisteswissenschaftliche Leistungsprofile komplementär zu den wirtschafts- und technikwissenschaftlichen Fachprofilen? Diese Fragen waren der Anlass, die künftigen Beschäftigungschancen der Geisteswissenschaftler durch eine Befragung der Unternehmen auszuloten.
Christiane Konegen-Grenier | Beate Placke | Mathias Winde:
Bietet die Digitalisierung Beschäftigungschancen für Geisteswissenschaftler?
Herausgegeben von Stifterverband und dem Institut für deutsche Wirtschaft (IW)
Gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung
26 Seiten
Erschienen im September 2019
Von den optimistischen Visionen aus dem Silicon Valley und einzelner Stimmen deutscher Personalverantwortlicher ist das Meinungsbild deutscher Unternehmen noch weit entfernt. Dazu zählt die Tatsache, dass gegenwärtig insbesondere bei den stark digitalisierten Unternehmen insgesamt keine vermehrten Beschäftigungschancen für Geisteswissenschaftler erkennbar sind, obgleich die den Geisteswissenschaftlern als Stärken zugeschriebenen sozialen und persönlichen Kompetenzen ausgerechnet in diesen Unternehmen gegenwärtig und zukünftig eine große Rolle spielen. Das insgesamt zurückhaltende Meinungsbild der stark digitalisierten Unternehmen ist nicht zuletzt auf die Voten der kleineren Unternehmen innerhalb dieser Gruppe zurückzuführen. Im Gegensatz zu den großen Unternehmen mit intensiver Nutzung digitaler Technologien sehen die kleinen stark digitalisierten Unternehmen weniger Beschäftigungschancen für Geisteswissenschaftler.
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung hinsichtlich der Einstellungschancen könnte sein, dass die stark digitalisierten Unternehmen überdurchschnittlich häufig hohe Beschäftigungschancen für MINT-Akademiker signalisieren, was unter anderem auf den hohen Anteil von Industrieunternehmen zurückzuführen sein dürfte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist als ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der stark digitalisierten Unternehmen gegenüber den Geisteswissenschaftlern auszumachen, dass diesen Absolventen im Unterschied zu Wirtschaftswissenschaftlern und MINT-Absolventen mehrheitlich allenfalls mittelmäßige Kenntnisse im Umgang mit digitalen Medien attestiert werden.
Künftige Chancen könnten sich für die Geisteswissenschaftler dadurch eröffnen, dass die Unternehmen im Zuge der Digitalisierung in ihren Rekrutierungsprozessen verstärkt auf soziale und persönliche Kompetenzen achten und – sofern es die Stelle zulässt – Absolventen unterschiedlicher Fachrichtungen in Betracht ziehen wollen. Auch das Signal, dass es künftig vermehrt darauf ankommt, sich in neue Themen einzuarbeiten, während der fachspezifische Abschluss an Bedeutung verliert, könnte den Geisteswissenschaftlern entgegenkommen. In den Daten zu ihrer Erwerbstätigkeit wird deutlich, dass sie häufig in studienfernen Branchen und Berufen Fuß fassen konnten.
Damit die Geisteswissenschaftler eine Chance bekommen, ihre aus Sicht der Unternehmen durchaus existierenden Stärken bei den überfachlichen Kompetenzen zur Geltung bringen können, ist es allerdings unerlässlich, dass sie ihre Kenntnisse im Umgang mit den digitalen Medien weiter ausbauen. Die Hochschulen müssen studienintegriert mehr digitale Kompetenzen vermitteln. Vereinzelte Ansätze existieren zwar auch in den Geisteswissenschaften, reichen aber wohl noch nicht aus. Die Mehrheit der Studierenden, vor allem bei den Sprach- und Kulturwissenschaftlern, fühlt sich auf die digitale Arbeitswelt schlecht vorbereitet.
Darüber hinaus sollten Studierende durch Praktika frühzeitig Kontakt zu Unternehmen aufnehmen. Bestehen Erfahrungen mit geisteswissenschaftlichen Mitarbeitern, dann fallen sowohl die Beurteilungen der sozialen und persönlichen Kompetenzen als auch die Einstellungschancen besser aus. Unternehmen sollten ihrerseits Geisteswissenschaftlern, die digitale Zusatzqualifikationen mitbringen, mehr Chancen einräumen. Mit ihren spezifischen überfachlichen Stärken könnten die Geisteswissenschaftler die Leistungsprofile der Absolventen anderer Fachrichtungsgruppen produktiv ergänzen und somit einen Mehrwert für die Unternehmen erbringen.
Das Diskussionspapier fußt auf den Ergebnissen einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die von der Gerda Henkel Stiftung und dem Stifterverband gefördert wurde: Anhand der drei Indikatoren "Anforderungsniveau der Tätigkeit", "Häufigkeit von Führungs- und Aufsichtsaufgaben" sowie "Nettoeinkommen" wurde die Adäquanz der Beschäftigung von Geisteswissenschaftlern gemessen. Danach sind sie insgesamt häufiger als der Durchschnitt der Akademiker inadäquat beschäftigt. Werden allerdings nur die in Vollzeit Erwerbstätigen betrachtet, dann erreichen sie nahezu ebenso häufig ein der akademischen Ausbildung entsprechendes Anforderungsniveau der Tätigkeit wie der Durchschnitt der Akademiker. Bei den Karrierepositionen und vor allem beim Einkommen sind die Unterschiede zwar größer, die Mehrheit der Geisteswissenschaftler findet sich aber ebenso wie die Mehrheit der Akademiker in einer mittleren Einkommensgruppe wieder.