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Die USA, das Volk und die öffentliche Meinung

Wandarbeiter auf dem US Highway 99, Kalifornien, vor einem Plakat der National Association of Manufacturers. Foto, 1937, von Dorothea Lange.
Wanderarbeiter vor Plakat USA 1937 (Foto: akg-images)
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„Noch ehe meine Amtszeit zu Ende ist, werden wir von Neuem zu prüfen haben,
ob eine Nation, die wie die unsere organisiert ist und regiert wird, bestehen kann.
Es ist  keineswegs sicher, wie das Ergebnis lauten wird“. 

John F. Kennedy, 1961

Dieser skeptische Blick John F. Kennedys in die Zukunft der USA ist weder besonders überraschend noch originell. Denn schon die Gründungsväter der Union waren sich bewusst, sich auf ein Experiment einzulassen, das scheitern kann – wenn es nicht gelingt, die Bürger dazu zu befähigen, sich ruhig und vernünftig an den Diskussionen über das, was alle angeht, zu beteiligen. Als Briten und klassisch gebildete Politiker gaben sich die Angehörigen einer kolonialen Elite keinen Illusionen über das Volk hin, das seit dem späten 18. Jahrhundert von Sozialphilosophen und Revolutionären zum Souverän erhoben wurde. Es musste ihrer Ansicht nach unbedingt von einer aufgeklärten Regierung geführt werden, die das Volk, immer von Leidenschaften beunruhigt, gleichsam vor sich selber schützt. Die christliche Religion in ihren mannigfachen Varianten heiligte auf jeden Fall den Gehorsam und die Achtung vor den Vätern, wie die Senatoren im alten Rom genannt wurden, die für das öffentliche Wohl zu sorgen hatten. Den Predigern und Pfarrern traten Lehrer, Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler zur Seite. Sie alle zusammen stellten die öffentliche Meinung her in der Absicht, möglichst viele Einwohner überhaupt für politische Fragen zu interessieren und sie zu allseitig informierten, kompetenten Bürgern und möglichen Repräsentanten des unsichtbaren Volkssouveräns zu erziehen. Dieses hochgesteckte Ziel konnten sie nie erreichen.

In den vornehmen herrschenden Familien – idealtypisch von den Adams aus Massachusetts und Boston verkörpert, einer Senatorenfamilie wie im alten Rom – erkannten ehrgeizige Männer aus dem Volk bald dessen Feinde. Diese egoistischen Patrizier würden ihren Vorteil mit dem allgemeinen Wohl verwechseln und das Volk bevormunden, statt ihm Teilhabe am öffentlichen Leben zu gewähren, wie es die Idee der Republik vorsieht. Solche unverfälschten Vertreter der wahren Interessen des Volkes begriffen sich als leidenschaftliche Populisten und Demokraten. Sie bekämpften vehement das damalige Establishment, das jede Beziehung zum einfachen Mann und gewöhnlichen Amerikaner verloren habe. Die vornehmen Republikaner hatten gründlich die Schriften griechischer und römischer Historiker gelesen. Sie fürchteten die Demokratie als Pöbelherrschaft und Tyrannei der Ahnungslosen. John Quincy Adams war der letzte Präsident der alten Schule, ein literarisch gebildeter Gentleman mit weltläufigen Manieren. Er war der erste Präsident, der durch Verleumdung und üble Nachrede gründlich entehrt und erledigt wurde. 

Die Angst vor „unamerikanischer“ Politik

Sein unerbittlicher Feind und Nachfolger Andrew Jackson war von 1829 bis 1837 der siebte Präsident der USA. Er repräsentierte den neuen Typus des Politikers, den umjubelten Volkstribun, der, selbst Teil des Volkes, das Volk zu lenken vermag: immer bereit, auf das Volk zu hören, um nicht die Bindung zu ihm zu verlieren und in Gefahr zu geraten, eine unamerikanische Politik zu betreiben. „Unamerikanisch“ meinte seitdem schlichtweg alles, was den durchschnittlichen, den „wahren“ Amerikaner überforderte. Andrew Jackson ließ keinen Zweifel daran, dass jeder Mann aus dem Volk, der umsichtig und geschickt seine privaten Geschäfte führt, auch in der Lage ist, seinen gesunden Menschenverstand in sämtlichen Staatsgeschäften zu bewähren. Geschäft ist Geschäft – und Politik besteht vor allem darin, mit anderen ins Geschäft zu kommen und dabei für Amerika genug Vorteile zu erringen, ohne betrügen zu müssen. Jackson folgte dabei dem praktischen Grundsatz jedes tätigen Mannes, sich selbst der Nächste zu sein. Andrew Jackson erfand den echten Amerikaner, der jeden Trug durchschaut und Herr seiner fünf Sinne ist: der selbstständige Amerikaner, der freie Mann auf freiem Grund mit freier Arbeit und daher berechtigt zu freier Rede im Vertrauen auf seine spontane, durch Lebenserfahrung erprobte Urteilskraft.

„Der wahre Staatsmann musste die im Volke verbreiteten Stimmungen aufgreifen. Gelang es ihm, komplizierte Fragen so zu vereinfachen, dass nur noch ein Ja oder Nein die angemessene Antwort sein konnte, bestätigte er seine Fähigkeit zu schöpferischen Lösungen. “

Eberhard Straub

Der präsidiale Volkstribun blieb unvergessen. Bei allen Krisen wurde von späteren Präsidenten sein Ideal beschworen, wenn es galt, das gute, edle Volk, den aufrichtigen Amerikaner vor korrupten Plutokraten und ihrem verderblichen Einfluss auf die Politik, die Gesellschaft, die Medien und die Wissenschaft zu schützen. So wie im alten Rom, wo die feurigsten Volkstribune in der späten Republik aus dem Patriziat stammten, so hat es den Präsidenten Theodore Roosevelt (1901 bis 1909) und Franklin D. Roosevelt (1933 bis 1945) überhaupt nicht geschadet, zu dem Establishment zu gehören, dessen politische Macht sie einschränken wollten. Sie verstanden sich als Stimme des Volkes. Der wahre Staatsmann musste in ihrem Sinne die im Volke verbreiteten Stimmungen aufgreifen. Gelang es ihm, komplizierte Fragen so zu vereinfachen, dass nur noch ein Ja oder Nein die angemessene Antwort sein konnte, bestätigte er seine Fähigkeit zu schöpferischen Lösungen. 

Die erste große Krise

Lewis W. Hines ikonisches Werk „A little spinner“ (ca. 1910, digital nachkoloriert))
Kinderarbeit in den USA: “A little spinner” (Mädchen in einer Spinnerei).  Foto, undat. (Lewis W. Hine); digital koloriert.
Kinderarbeit in den USA: “A little spinner”, undatiert, Lewis W. Hine (Foto: akg-images)
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In den Jahren der Depression ab 1894 erwies sich das Bild des freien Amerikaners auf freiem Grund endgültig als Fiktion. Die USA erlebten eine erste große Krise und standen ratlos vor einer umfassenden sozialen Frage, auch wegen der fragwürdig gewordenen unbegrenzten Einwanderung. Damals veröffentliche Henry Demarest Lloyd seine Kampfschrift Wealth against Commonwealth. Er verstärkte den Protest der mächtigen populistischen Bewegung gegen einen mit sich und seinen Spielkameraden in Wirtschaft und den Medien beschäftigten Politikbetrieb. Theodore Roosevelt, hellhörig bei allen populistischen Strömungen, verurteilte die Empörung nicht als Polemik von Demagogen; er ließ sich vielmehr auf sie und ihre berechtigten Forderungen ein. Nur wer reich ist und Teil des Systems, kann sich energisch dafür einsetzen, auch die Reichen auf eine Ordnung zu verpflichten, ohne die Freiheit gar nicht möglich ist. Denn Freiheit braucht Ordnung. Das ist seit Andrew Jackson die Forderung, die seit 1894 in immer neuen popular revolts dem Establishment vorgehalten wird.

 

Offensichtlich ist es aber gar nicht so leicht, Freiheit und Ordnung miteinander zu vereinen. Denn es fehlt der sachkundige freie Bürger, der im öffentlichen Gespräch für Annäherungen an die Wirklichkeit sorgt und die sich überschlagenden Aufregungen in ihrer Wirkung entschärft. Das gut unterrichtete Publikum, auf das die gebildeten Gründer der Vereinigten Staaten hofften, erwies sich bald als Phantom. Der Demokratie fehlte deshalb eine Voraussetzung zu ihrem glücklichen Gelingen: eine funktionierende öffentliche Meinung. Das beunruhigte den großen Journalisten Walter Lippmann. In immer neuen Anläufen seit 1922 erläuterte er im klassischen Lande der Zeitungen, des Kinos, der Rundfunkanstalten und des Fernsehens, dass diese nur beliebige Bilder und Interpretationen von Bildern liefern und die Fiktionen schaffen, in denen und mit denen Amerikaner leben und die sie daran hindern, sich untereinander zu verständigen. Es sind Journalisten, die festlegen, was ein Ereignis oder eine Tatsache ist. Sie produzieren Bilder der Wirklichkeit, ohne diese selbst zu kennen. Wie jeder sehen auch sie nur Teile einer möglichen Wahrheit, die sie entsprechend ihren eigenen Interessen oder den Interessen ihrer Verleger und deren politischer Freunde präparieren, vor allem dramatisieren. Denn in der arbeitsteiligen, verwalteten Welt mit ihrer unvermeidlichen Monotonie bedarf es schon greller Effekte, um überhaupt Aufmerksamkeit für ein Thema zu wecken.

Walter Lippmann
Walter Lippmann (Foto: Pirie MacDonald)
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Walter Lippmann (1889 - 1974)

Alle Sachverhalte müssen deshalb personalisiert werden. Geschichten um Personen mit ihren Tugenden oder skandalösen Unzulänglichkeiten suggerieren, dass selbst komplizierte Vorgänge allgemein verständlich werden und einen anekdotischen Reiz gewinnen, der unterhält. Was nicht unterhält, verdient keine Beachtung. Also muss alles in Unterhaltung aufgelöst werden, damit sich Zeitungen, Filme, Nachrichten verkaufen. Die öffentliche Meinung ist ein großer Markt der Möglichkeiten, auf dem Sorglosigkeit und Leichtsinn sofort schaden. Meinungen wollen verkauft werden, sonst bedeuten sie nichts. Aber Meinungen kann jeder haben. Die Kunst besteht darin, sie so vorzutragen, dass sie schockieren, aufregen, empören und jeden berechtigen, mitzureden, weil er als Wächter der öffentlichen Moral nicht schweigen oder wegsehen darf. Es geht immer um Gut und Böse, um ein großes entschiedenes Nein oder Ja! Die unterschiedlichen Medien sind unentbehrliche Mittel für all jene, die öffentlich wirken wollen. Dafür wird der Journalist als Lautverstärker gebraucht und übrigens gut bezahlt, wenn er selbst zum Star geworden ist.

Er soll für Meinungsführerschaft sorgen und mit ihr Politik machen für andere, ganz unabhängig von den institutionellen Mechanismen und Spielregeln, an die Journalisten nicht gebunden sind. Die Pressefreiheit gilt nicht mehr allein als die Freiheit von hundert Millionären, ihren Ansichten Geltung zu verschaffen. Sie ist überhaupt die Voraussetzung, prominent zu werden. Jedem schon Prominenten bietet sie die Gelegenheit, lästige Konkurrenten zu beschädigen oder verdienstvolle Mitstreiter ins rechte Licht zu rücken und deren Prestige zu erhöhen. Eine Vielfalt von Begehrlichkeiten aller möglichen Personen des öffentlichen Lebens befindet sich im Wettbewerb, um sensationelle Stimmungsumschwünge zu erreichen und im Nachteil des anderen den eigenen Vorteil zu sichern. Nicht Lüge und Wahrheit liegen im Wettstreit miteinander, sondern Sieg mit allen Mitteln und Niederlage um jeden Preis. Ja, was Wahrheit oder Lüge ist, kann ganz unerheblich sein, weil der Erfolg darüber entscheidet, was sich als nützlich erwiesen hat. Effiziente Lügen sind allemal nutzlosen Wahrheiten vorzuziehen. Die Helden in dieser weitverzweigten Interessengemeinschaft von Weltbildfabrikanten sind die von Walter Lippmann – einem ernsten Liberalen – tief verachteten Muckrakers, die Unratschnüffler, die Enthüller und Entlarver, die demaskieren, wer – aus welchen Gründen auch immer – aus dem öffentlichen Leben eliminiert werden muss. 

Lärmtrompeten im medialen Staatstheater

Auch Franklin D. Roosevelt (hier nach seiner Wiederwahl 1936) verstand sich als Stimme des Volkes
Franklin D. Roosevelt nach seiner Wiederwahl 1936 in seinem Arbeitszimmer im Weißen Haus in Washington.
Franklin D. Roosevelt (Foto: akg-images)
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The common decency, eine Übereinkunft über die guten Sitten, gibt es nicht mehr. Um nicht zu verzweifeln, setzte Walter Lippmann auf wissenschaftlich geschulte Experten, auf den Geist wissenschaftlichen Anstandes unter nur der Sache zugewandten Ratgebern, die den Regierungen helfen, sich nicht in den inszenierten Komödien der Irrungen und Wirrungen vollständig zu blamieren. Auch diese Hoffnung trog. Wissenschaftler gehören längst zum Medienverbund, der ihnen und ihren Anregungen sozial relevante Wichtigkeit verleiht. Als Öffentlichkeitsarbeiter haben sie gelernt, dass nicht Erkenntnis oder gar Wahrheitsstreben ihre besondere Aufgabe ist, wie Christopher Lasch in The Revolt of the Elites 1995 beschrieb; sie sehen ihre Pflicht vor allem darin, die Selbstachtung von Minderheiten – und bald ist jeder Teil einer Minderheit – zu stabilisieren und ihren Anspruch auf Respekt durchzusetzen.

Wissenschaftler, die sich ganz der Zielgruppe Mensch verschrieben haben, dienen auf ganz neue Art dem Leben und dem menschlichen Leben in einer menschenwürdigen Gesellschaft. Ihre Distanz zum Staat, zum Recht und zu den Institutionen ist nahezu die Voraussetzung für ihr Ethos als Humanwissenschaftler. Denn im Zweifel votiert der wissenschaftliche Menschenfreund für die Menschen, sofern sie seinem Menschenbild genügen. Wer vor seinem Humanismus versagt, darf freilich keinen Respekt erwarten. Freiheit und Ordnung beruhen allerdings auf überpersönlichem Recht und dem Respekt vor Rechtseinrichtungen, ganz unabhängig davon, was aufregungsbedürftige Chefdramaturgen im medialen Staatstheater in den USA dazu nötigt, als Lärmtrompeten aufzufallen. Der Rechtsstaat und seine Institutionen sind auf Staatsbürger, nicht auf sogenannte Menschen angewiesen. Diese Voraussetzung demokratischer Ordnung gerät allmählich unter Demokraten in Vergessenheit.

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