Wir riskieren die nächste Innovationsdelle

Interview mit Stifterverband-Präsident Michael Kaschke
– Erstveröffentlichung im Handelsblatt am 21. April 2022 –

Herr Kaschke, in der Pandemie sind die Innovationsausgaben der deutschen Wirtschaft viel stärker eingebrochen als anderswo. Warum? 
Das ist bedenklich und hat mich überrascht. Sorge macht mir auch, dass die Pandemie viel Kreativität abgewürgt hat. Die Leute konnten sich nicht mehr treffen. Das gilt gerade auch für zwei Jahrgänge von Hochschulabsolventen. Jetzt kommt es darauf an, dass wir aus dieser Situation herauskommen und nicht wegen der geopolitischen Verwerfungen die nächste Innovationsdelle ins Haus steht.

China holt rasant auf – nicht nur im Digitalen, sondern auch auf Feldern wie Produktions- und Gesundheitstechnologie.
Das war absehbar, man musste nur die Fünfjahrespläne der chinesischen Führung lesen. Wenn China etwas plant, ziehen es das auch durch. So hat China im Maschinenbau stark aufgeholt und sich in der Elektromobilität mit an die Spitze gesetzt. In der Medizintechnik, die ich ja gut kenne, und in der Pharmazie sind sie noch nicht top, aber sie arbeiten massiv daran. In der strategisch wichtigen Halbleitertechnik wollen sie bis 2030 autark werden. Wir müssen daher schnell entscheiden, auf welche Hightech-Felder wir setzen. 

Können wir es uns leisten, auf Distanz zum Innovationsgiganten China zu gehen? 
Komplette Abschottung, neudeutsch "Decoupling", wäre nicht klug. Wir müssen aber Kooperation neu definieren, wirtschaftlich und vor allem wissenschaftlich-technologisch. Wir müssen sortieren, was ist sicherheitsrelevant, was ist zentral für unsere technologische Führungsrolle. In diesen Gebieten müssen wir gegebenenfalls Wissensabfluss verhindern. Die gute, alte Zeit von "Open Science" ist in großen Teilen vorbei. Wenn wir nicht mehr führend sind, sind wir als Partner nicht mehr interessant. China wird uns in der Künstlichen Intelligenz (KI), bei der sie mit den USA definitiv an der Spitze stehen, nicht mehr die Tür öffnen, um mit uns über neue Lösungen etwa in der Medizintechnik oder in der Gesundheitswirtschaft zu reden. 

Auf welche Felder sollten wir setzen?
Ohne Digitalisierung geht gar nichts, weder die Energiewende noch nachhaltige Mobilität, Gesundheit und Bildung. Digitalisierung ist nicht einfach eine weitere Säule, auf denen der Wirtschaftsstandort Deutschland seine Zukunft bauen muss, sondern das Fundament. Wenn wir hier nicht Spitze werden, schaffen wir es nirgends. Das ist vielfach noch nicht erkannt. 

Ist es da gut, dass der Verkehrsminister die Digitalisierung quasi nebenbei vorantreibt? 
Sicher nicht, da ist ja auch noch nichts Substanzielles in Sicht. Die Große Koalition hatte die Digitalisierungsverantwortung  ins Kanzleramt geholt – was auch nicht viel gebracht hat, um es vorsichtig zu sagen. Entscheidend ist, dass alle Ressorts am "digitalen Fundament" mit bauen. Der Wirtschaftsminister müsste also etwa die digitalen Elemente des Osterpakets zur Energiewende eng mit dem Digitalminister abstimmen. Das gilt genauso für Gesundheit und Bildung. 

Heißt konkret? 
Bei der Energiewende diskutieren wir intensiv Erzeugung, Bezug und Transport, aber kaum, wie man Angebot, Transport und Verbrauch intelligent steuert und vernetzt. Hier fehlt noch der systemische Ansatz. Warum reden wir beispielsweise erst jetzt über flexible Stromtarife für Verbraucher? Ein anderes Beispiel: In der Gesundheit haben wir endlos über Datenschutz diskutiert. Jetzt legt die WHO die Covid-Tracking-Lösung der Deutschen Telekom als Standard für 200 Länder fest. Wir können es, wir sind nur oft zu langsam und machen es nicht in der Breite. Hier liegt übrigens für Deutschland eine Riesenchance. Medizintechnik und Gesundheitslösungen können ein neuer Exportschlager werden, der sinkende Wertschöpfung anderswo kompensiert.

Michael Kaschke (Foto: David Ausserhofer)
Foto: David Ausserhofer

 
Die Ampel will die gesamtwirtschaftlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung von aktuell 3,2 auf 3,5 Prozent des BIP erhöhen. Reicht das? 
Mehr Geld hilft immer, ist aber nicht alles, und es wird ja knapper. Umso wichtiger ist Effektivität. Andere hochinnovative Länder wie die Schweiz, die USA oder die Niederlande geben weniger in Prozent des BIP für Innovationen aus, sind aber in vielen Kriterien innovativer als wir. 

Ist es okay, dass die neue Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger eine Budgetkürzung hinnehmen muss? 
Nein, nachlassen darf die Bundesregierung auf keinen Fall! An dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen, ist das falsche Signal. Aber sie soll dafür sorgen, dass das Geld besser wirken kann. Wir haben viel zu viel Bürokratie im System. Da muss die Regierung jetzt ran. Bürokratie hat Folgen: Ich finde es alarmierend, dass unsere jungen Menschen, wenn sie von der Hochschule kommen, im internationalen Vergleich viel zu selten Unternehmen gründen. In Deutschland gründen von den 18- bis 60-Jährigen nur knapp fünf Prozent eine Firma. In den Niederlanden sind es doppelt, in den USA dreimal so viele. Das sind Länder, die in Prozent vom BIP weniger Geld als wir für Forschung und Entwicklung ausgeben. 

Kann die neue Transferagentur DATI die Wende bringen?  
Die DATI ist kein Allheilmittel für unsere Innovationsprobleme, aber sie ist ein neuer wichtiger Ansatz für kleinere Hochschulen und den Mittelstand. Es sind noch viele Fragen offen, und ich hoffe, dass sie wirklich agil und adaptiv wird und nicht durch Bürokratie ins Leere läuft. Generell sollte Politik bei neuen Instrumenten immer drei Fragen beantworten. Erstens: Welches Problem wollen wir eigentlich lösen? Zweitens: Was haben wir aus der Vergangenheit gelernt? Drittens: Wie messen wir Erfolg, und zwar kontinuierlich, zeitnah, nicht erst nach Jahren? 

Was muss dazukommen?  
Wir brauchen eine neue Kultur der Ausgründung an den Hochschulen: Professoren müssen Vorbild sein, indem sie selbst mitgründen und Studierende zum Mitmachen anregen, wie heute beispielsweise schon an den TUs München und Dresden oder am KIT. Im angelsächsischen Raum ist in den Technik- und Naturwissenschaften nahezu jeder zweite Professor an einem Unternehmen beteiligt. Davon sind wir weit entfernt. Das erreicht man vor allem mit Anerkennung: Unternehmerisches Engagement, Patente, Transferleistungen müssen ebenso Exzellenzkriterium werden wie Spitzenergebnisse in der Forschung. Dafür möchten wir im Stifterverband verstärkt wirken und die Hochschulen dabei unterstützen.

In den USA ist das Militär traditionell ein großer Innovationstreiber. Kann das 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr bei uns Innovation beflügeln? 
Sehr spannende Frage. Eine direkte Finanzierung von Forschung aus dem Sondervermögen kann ich mir vorerst nicht vorstellen, aber wir müssen das diskutieren. Ich erlebe als Hochschullehrer oft, dass junge Menschen nichts mit Militär zu tun haben wollen. In den USA hat man die Sicht, dass fast jede Technologie auch militärisch genutzt werden kann. Man muss klarmachen, dass solche Dual-Use-Güter immer auch der Verteidigung dienen können. Das wird es aktuell, aber auch seit Jahrzehnten nicht. Ein Beispiel: Wir können uns nicht von der Cybertechnologie abwenden, nur weil man diese auch militärisch verwenden, Codes knacken oder mit Hackerangriffen eine Wirtschaft ruinieren kann.

Kooperieren wir bei Innovationen zu wenig mit anderen in der EU?
In der Frühphase von Innovation ist das nicht so entscheidend, aber wenn es um die Skalierung geht. Deutschland war einmal führend in der Forschung bei Halbleitern, Solartechnik und Batterietechnologie. Das ist fast alles nach Asien abgewandert. Deutschland und Europa haben es nicht geschafft, Märkte dafür aufzubauen und zu schützen. Bei der Photonik hingegen ist es gelungen: Hier sind Zeiss, Trumpf, Leica und viele KMUs Weltmarktführer – vielleicht weil die Märkte kleiner sind und wir sehr auf unsere Ingenieurstugenden setzen konnten. Wir bekommen also die Phase "Gewächshaus" ganz gut hin, aber nicht den großen "Freilandanbau". Den müssen wir europaweit besser organisieren. 

Große Hoffnungen ruhen auf der steuerlichen Forschungsförderung, die 2020 auch Deutschland eingeführt hat. Hand aufs Herz: Wird in Unternehmen wie Zeiss,  Telekom und Bosch, die sie gut kennen, deshalb ein Euro mehr für F&E ausgegeben?
Nein. Dafür dürfte die steuerliche Forschungsförderung nicht auf der jetzigen Höhe gedeckelt sein. Für den Mittelstand hilft hier sicher jeder Euro. Ich habe aber in den Niederlanden und Kalifornien erlebt, dass auch Großunternehmen durchaus mehr in F&E investieren, wenn der Staat ein Drittel der Kosten übernimmt. Mir ist klar, dass dafür momentan kein Geld da ist. Auch wichtig bei solchen Programmen: Beantragung und Dokumentationspflichten müssen einfacher werden.

Sonst noch Wünsche an den Wirtschaftsminister? 
Er darf keinesfalls bei der Energiewende Lösungen zu früh aussondern, auch nicht durch verbale Statements. Wir brauchen eine Kultur der Technologieoffenheit und Diversität, keine Monokulturen. Wir sind ja sonst auch für Diversität. Es gibt zum Beispiel vielversprechende Ansätze zu Refuels, synthetische Kraftstoffe aus Wasser und CO2 und zur Geothermie, also zur Nutzung von Erdwärme zur Wärme- und Stromerzeugung. Diese Technologien sind aber häufig aus verschiedenen Gründen politisch nicht gewollt. Solange wir nicht wissen, ob die Technologie eine Chance hat, ist das gefährlich. Porsche hat sich gerade an einer Fabrik zur Methanolerzeugung für Refuels in Südamerika beteiligt. Das KIT und die RWTH Aachen sind auch sehr weit vorn.  Das meine ich mit fehlender Förderung für "Freilandanbau". 

Ökonomen sagen, ein kompletter Boykott russischer Energie sei machbar.
Das sehe ich wie der Bundeskanzler: Wenn wir uns selber zu sehr schädigen, freuen sich nur andere. Eskalation muss schrittweise passieren. Im Übrigen ist unsere Abhängigkeit von den russischen Rohstoffen aber nicht allein ein Fehler der Politiker, die sich gerade dafür vielfach entschuldigen. Wir alle, die Wirtschaft und die Konsumenten, haben die billige Energie gern genommen und darauf maßgeblich unsere Wettbewerbsstärke und unseren Wohlstand aufgebaut – ja sogar die ökologische Wende mitfinanziert.
 

Das Interview führte Barbara Gillmann.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Handelsblatt