Man muss Michael Gerloff und Lutz Böhm sehr dankbar sein für die verdienstvolle Arbeit und den Diskursaufschlag, den sie mit der Veröffentlichung ihrer "Academic Crisis List" unternommen haben. Der Wert der Arbeit liegt vor allem in dem Versuch einer Kartierung von wiederkehrenden Problemfällen und Baustellen in der Wissenschaft und dem Ansatz, diese in einen systemischen Zusammenhang zu stellen. Dies hat das Potenzial, über den Reformbedarf im Wissenschaftssystem und ihrer Rahmenbedingungen einmal jenseits der Diskurse über einzelne Teilthemen nachzudenken.
Ganz im Sinne der Autoren: Denn der Transformationsdruck der Gesellschaft setzt auch die Wissenschaft als Ganzes unter Transformationsdruck. Eine große Aufgabe, die wir als Gesellschaft angehen müssen, und die gerade deshalb nicht auf einen innerwissenschaftlichen Diskurs oder die Beschäftigung durch den Wissenschaftsrat beschränkt bleiben darf. Daher sei es erlaubt, die angestoßene Debatte und die aufgemalte Karte mit Fragen und Anmerkungen zu ergänzen. Man möge mir verzeihen, wenn ich das etwas zugespitzt tue – es geht mir nicht um eine Fundamentalkritik, sondern um die nötige Erweiterung der Debatte.
Die von Gerloff und Böhm adressierten Problemfelder über notwendige Reformen der Arbeitsbedingungen, Machtstrukturen, Evaluationsverfahren, Förderpraktiken und der Publikationskultur sind allesamt valide und bedürfen neuer, zukunftsfester Antworten. Die Kernfrage, die sich stellt, lautet indes: Würde sich, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern würden, die wissenschaftliche Praxis in vielen der Problemfelder (zum Beispiel Replikationskrise; Transformation der Lehre; Kommunikation und Kooperation mit der Gesellschaft) damit auch tatsächlich ändern? Im Großen und Ganzen lautet die Argumentation der Autoren: Tut etwas für uns, Politik und Gesellschaft, dann wird alles gut. Mit John F. Kennedy "Ask not what the country can do for you…." könnte man die Frage auch umkehren: Was tut die Wissenschaft selbst, um die genannten und andere wiederkehrende Probleme zu lösen?
Problemfeld Replikationskrise: Ist diese wirklich, wie von den Autoren insinuiert, eine Folge eines - vor allem von "profitorientierten Verlagen" - in die Irre geleiteten Publikationswesens und des wettbewerblichen Drittmitteldrucks? Oder funktionieren hier – wie auch beim Thema Plagiate - Mechanismen der innerinstitutionellen Qualitätssicherung nicht mehr zuverlässig? Ulrich Dirnagl hat mit der Gründung des Quest Centers im Berlin Institute of Health +deutlich gemacht, dass es sich beim Reproduzierbarkeitsproblem etwa der biomedizinischen Forschung a vor allem um grundlegende methodische und Kompetenz-Probleme handelt, die einer institutionellen Intervention bedürfen.
Um die Kennedy-Frage auch auf das zwar in den Hochschulgesetzen verankerte, aber von den Autoren kaum adressierte Problemfeld des Wissenstransfers auszuweiten: Wissenschaftliches Erkenntnisinteresse richtet sich noch immer zu selten auf gesellschaftliche Problemstellungen aus. In einem vor allem durch Selbstreferentialität und (Hyper-)Spezialisierung geprägten innerwissenschaftlichen Betrieb und den dadurch entstehenden Diskurs- und Publikationsraum verliert die Wissenschaft insgesamt nicht nur an Innovationskraft. Es gerät zugleich aus dem Blick, was mit Erkenntnissen außerhalb von Wissenschaft passiert: zu wenig Handlungswissen und zu wenige Lösungsansätze werden generiert oder genießen einen minderen Status; falsche Selbstgenügsamkeit und mangelnde Verantwortung sind hier die Stichworte. Vielen Disziplinen gelingt es noch nicht schnell genug, sich zu modernisieren und sowohl das Tempo der Wissensgenerierung wie das der Umsetzung von Lösungen deutlich zu erhöhen. Dies zu ändern, setzt auch eine neue
Kooperationsbereitschaft der Wissenschaft, innerhalb und außerhalb ihrer institutionellen Grenzen, voraus: Eine Ausweitung von Open Science jenseits der Zugänglichkeit von Forschungsergebnissen durch Einbindung von Wissens- und Datengebern der Zivilgesellschaft aber wird von der Wissenschaft methodisch und strukturell noch nicht wirklich vorangetrieben. Auch die Interaktion zwischen Wissenschaft und Politik muss neu kartiert und methodisch verbessert werden: Wie man Politikberatung, Krisenintervention und Kommunikation mit der Gesellschaft im Wissenschaftssystem qualitätsorientiert skaliert und systematisiert jenseits von Aktivitäten Einzelner, disziplinärer Arbeitsgruppen oder kleinen Expertenzirkeln in Akademien, ist weitgehend ungeklärt.
Damit verknüpft sich ein weiteres wiederkehrendes Problemfeld: das der Interdisziplinarität und innerwissenschaftlichen Kooperation: Georg Schütte weist in einem jüngst erschienenen Artikel darauf hin, dass jenseits von interdisziplinären Projektanträgen zumeist völlig offenbleibt, wie sich Interdisziplinarität im Forschungsvollzug tatsächlich darstellen soll. Und ergänzen könnte man: Wie vollzieht sich Interdisziplinarität in der Lehre, wie vollzieht sie sich in den Governance Strukturen innerhalb und zwischen akademischen Institutionen einer noch immer im Disziplinären verhafteten Wissenschaft?
Aber auch neue Problemfelder rücken zurzeit ins Blickfeld: Die Diskussionen nach der Veröffentlichung von Chat GPT als kreativen Textgenerator haben immerhin eine Debatte über zukünftiges Lernen, Lehren und Prüfen unter den Bedingungen künstlicher Intelligenz in Gang gesetzt und damit dem weitgehend innovations-, kooperations- und transferfreien Raum der Lehre neue Impulse verschafft. Müssen diese Diskussionen nicht auch noch gleichsam epistemisch geweitet werden in einer akademischen Welt, in der Wissensgenerierung, -vermittlung und -austausch weitgehend textbasiert sind? Mit Walter Benjamin wird man die Frage stellen müssen: Was bedeutet die kreative Textgenerierung im Zeitalter ihrer technischen (Re)produzierbarkeit? Eine Variation der epistemischen Frage, ob aus der These die Datensammlung oder aus der Datensammlung die These folgen sollte.
Und noch ein weiteres Problemfeld ist durch Chat GPT in den Blickpunkt gerückt: Die akademische Welt war eher überrascht als vorbereitet auf diese Entwicklung und die Forschungsleistungen eines privaten Unternehmens, die dahinterstecken. Die stets wiederholte Erzählung, grundlegende Erkenntnisse und disruptive Innovationsfundamente würden nur in akademischen Institutionen generiert, hinkt – zumindest in den informatischen Disziplinen, aber auch schon ansatzweise in der Biomedizin und den Sozialwissenschaften – einer Entwicklung hinterher, in der High-End-Grundlagenforschung zunehmend in private und unternehmerische Institutionen und Denkfabriken außerhalb der akademischen Welt abwandert. Es ist nicht zu erkennen, dass die akademische Welt daraus Konsequenzen zieht. Wo bleiben die strategischen Kooperationen mit exzellenten forschenden Unternehmen, etwa so wie in den USA, wo die National Science Foundation gerade einen bedeutsamen Strategiewechsel vollzogen hat?
Klar ist: All die von mir ergänzten Problemfelder haben auch eine Beziehung untereinander. Ganz im Sinne der Kartierung von Gerloff und Böhm. Möge der Aufschlag der beiden die Debatte beginnen und weiten lassen. Vielleicht gelingt es in in deren Verlauf sogar, das Ganze – wie bei den Sustainability Goals und ihrer grundlegenden transformatorischen Impulsgebung – in eine systemisch geordnete Zielsetzungsagenda zu überführen. Damit wäre einiges erreicht. Der Stifterverband wird ein solches Unterfangen gern in Partnerschaft mit anderen interessierten Akteuren in den nächsten Monaten fortführen.