Schon viel zu lange diskutieren wir in Deutschland die Frage, wie wir es mit der Informatik in der Schule halten wollen. Denn eigentlich dürfte das gar keine Frage mehr sein: Praktisch alle Berufstätigen benötigen grundlegende digitale Fähigkeiten, auch zur gesellschaftlichen Teilhabe. Hinzu kommt, dass unsere technologiebasierte Wirtschaft dringend Programmierer und IT-Spezialisten braucht. Wir müssen jetzt ein Pflichtfach Informatik in der Sekundarstufe I einführen.
Es ist unverständlich, dass wir hierzulande einen bildungspolitischen Flickenteppich geschaffen haben. Gerade mal zwei Bundesländer – nämlich Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen - unterrichten Informatik als Pflichtfach in allen Schularten über die gesamte Sekundarstufe I. Das zeigt unsere aktuelle Studie "Informatikunterricht: Lückenhaft und unterbesetzt" (gemeinsam mit der Heinz Nixdorf Stiftung). Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen bieten in ein bis zwei Jahrgangsstufen der Sekundarstufe I verbindlichen Informatikunterricht an; das Saarland, Niedersachsen, Schleswig-Holstein planen zumindest mehr Verbindlichkeit. Aus anderen Bundesländern sind dagegen öffentlich keine entsprechenden Pläne bekannt.
Um allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland die gleichen Chancen zu bieten, fordert der Stifterverband, sechs Wochenstunden Informatik als Pflichtfach in allen Bundesländern und Schulformen verteilt über die gesamte Sekundarstufe I einzuführen. Das heißt: Beginnt die Sekundarstufe I in der 5. Klasse sollte bis zur 10. Klasse pro Schuljahr eine Wochenstunde Informatik unterrichtet werden. Aktuell ist in Deutschland die Möglichkeit, digitale und informatische Kompetenzen im Schulunterricht zu erlangen, ungerecht verteilt. Unterschiedliche Lehrpläne in den Bundesländern dürfen nicht über die Berufschancen entscheiden.
In der bildungspolitischen Szene der Republik sind wir als Stifterverband nicht allein mit unseren Forderungen. Auch die Gesellschaft für Informatik e.V. , das Nationale MINT-Forum oder der Bitkom plädieren nachdrücklich für verpflichtenden Informatikunterricht. Neben der "technologischen Perspektive muss die gesellschaftlich-kulturelle Dimension ebenso wie die anwendungsorientierte Dimension fester Bestandteil informatischer Wissensvermittlung sein", so der Bitkom in einer Studie. Und auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz gibt in ihrem neuesten Gutachten das Ziel vor, ein Pflichtfach Informatik ab der fünften Klasse in allen Bundesländern einzuführen. Anfang Oktober wird die Kultusministerkonferenz darüber beraten, wie sie mit diesen Empfehlungen jetzt umgeht.
Wie kann ein Pflichtfach eingeführt werden? Besonders schwierig ist zunächst die Frage, wie das Fach in die Stundentafel passt. In G9-Systemen ist zumeist noch Platz im Stundenplan, eine Aufstockung der Stunden durch Informatik möglich. In G8-Systemen sieht dies schon anders aus. Welche Fächer werden reduziert, damit Informatik Platz findet? Diese Frage muss jedes Land nach den jeweils landesspezifischen Voraussetzungen diskutieren und entscheiden. Ich appelliere ausdrücklich an alle Verantwortlichen – Politik, Lehrer- und Elternverbände – nicht durch die Verteidigung des Status Quo ein Pflichtfach Informatik zu blockieren, sondern mutige, einvernehmliche Lösungen zu finden.
In Deutschland gibt es viel zu wenige Lehrkräfte, die das Fach kompetent unterrichten können. Der Stifterverband hat erstmals die Zahl der Lehrbefähigungen in Informatik über die Bundesländer hinweg zusammengetragen. Demnach gibt es deutschlandweit etwa 10.000 ausgebildete Lehrkräfte an weiterführenden Schulen. Für die notwendige Einführung eines deutschlandweiten Pflichtfaches Informatik auf Spitzenniveau ab der Sekundarstufe I – wie in Mecklenburg-Vorpommern – werden bundesweit mindestens 27.000 Lehrkräfte benötigt. Die große Lücke von 17.000 Lehrkräften kann mit rund 360 Absolventinnen und Absolventen im Jahr in naher Zukunft nicht geschlossen werden.
Den Kopf in den Sand zu stecken, ist keine Option. Die Länder sollten kreativ werden, um eine gute Vermittlung von Informatik in den Schulen zu ermöglichen. Das könnte zum Beispiel über gute Konzepte zur Nachqualifizierung derzeitiger Lehrkräfte aus anderen Fächern geschehen Auch Entlastungen derzeitiger Informatiklehrkräfte von anderen Aufgaben könnten hilfreich sein. Die Möglichkeiten für Quer- und Seiteneinstiege sollten stärker genutzt werden.
Mittelfristig müssen mehr Studierende für das Informatiklehramt gewonnen, die Abbruchquote gesenkt und der Übergang ins Referendariat verbessert werden. Darüber hinaus ist es wichtig die Datenlücken rund um den Informatikunterricht zu schließen. Durch unterschiedliche Datenerhebungen ist ein bundesweiter Vergleich sehr komplex und ungenau.
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Ministerin Karin Prien, hat bei der Vorstellung des Gutachtens positiv auf die Empfehlungen reagiert. Sie hat aber auch klar gemacht, dass die KMK noch nicht weiß, wie sie mit diesem Gutachten, dem ersten seiner Art, umgehen soll. Ich hätte einen Tipp für die KMK: Umsetzen.
DER AUTOR
Volker Meyer-Guckel ist seit Anfang 2022 Generalsekretär des Stifterverbandes.
Seit 1999 ist er beim Stifterverband, seit 2005 als Leiter der Programmabteilung und stellvertretender Generalsekretär. In dieser Zeit hat er zahlreiche Initiativen zur Öffnung der Wissenschaft für die Gesellschaft verantwortet, zum Standortfaktor Wissenschaft und zur Förderung der Hochschullehre.