Der Stifterverband drängt darauf, dass Kanzler Olaf Scholz die großen Herausforderungen selbst in die Hand nehmen müsse – ähnlich wie der Präsident der USA, Joe Biden. "Wenn wir die großen Missionen erfolgreich umsetzen wollen, brauchen wir zentrale Verantwortung", sagte dessen Präsident Michael Kaschke im Gespräch mit dem Handelsblatt. Der Stifterverband ist die zentrale Organisation der Wirtschaft für die Wissenschaft.
"In den USA hat Biden die Verantwortung für den Chips Act ins Weiße Haus geholt – bei uns sollte der Kanzler überlegen, ein oder zwei Zukunftsmissionen zentral und übergeordnet zu führen", so Kaschke. Biden fördert die Chipindustrie mit 39 Milliarden Dollar. Die Subventionen sind zugleich mit weitreichenden Auflagen gekoppelt, die vom Verbot einer Produktion in China bis zur Facharbeiterausbildung reichen. Das böte sich in Deutschland etwa für die strategisch entscheidende Energiefrage und für die Gesundheit an, so Kaschke, weil sie große Wirkung auf das Leben der Bürger hätten.
Die vor Kurzem verabschiedete "Zukunftsstrategie" der Ampelregierung sieht zwar sechs zentrale Missionen vor, verliert sich aber ansonsten in über 100 Einzelzielen. Vor allem ist bisher völlig unklar, wie die nötige Kooperation der Ministerien zur Erreichung der Großziele funktionieren kann. Wenn Deutschland aber in den wichtigsten Fragen "weiter zulässt, dass die Ministerien eher unabhängig voneinander an ihren Roadmaps arbeiten, wird die notwendige Beschleunigung nicht passieren", warnt Kaschke.
Der frühere Zeiss-Chef illustriert das an der Mission "Gesundheit für alle" aus der Zukunftsstrategie: Die Federführung hat der Gesundheitsminister, der brauche dazu aber die Minister für Forschung, Wirtschaft, Justiz und Digitales. Angesichts der Vielzahl der Akteure sei es aber "nicht realistisch, hier eine Roadmap hinzubekommen, die den Namen verdient, geschweige denn ihre Umsetzung", ist Kaschke mittlerweile überzeugt. Auch bei der Energie gebe es schließlich bis heute keine klare Roadmap.
Auch die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), die die Regierung berät, fordert eine "strategische Steuerung auf höchster Ebene", damit Deutschland seine großen Ziele realisieren kann. Für den "großen Wurf", die "innovationspolitische Zeitenwende", müsse die Regierung das "Silodenken" der Ressort aufbrechen. Das sei bisher aber kaum in Sicht, rügte die EFI in ihrem jüngsten Gutachten.
In Europa sei es auch nicht besser, meint Kaschke: So sehe der EU-Chips Act zwar vor, den Anteil der EU auf 20 Prozent der Weltproduktion zu erhöhen. Dass dies bis 2023 erreicht werden soll, habe man aber "erst im Nachhinein" beschlossen. Zudem sei völlig unklar, woher die versprochenen 43 Milliarden Euro kämen, ob von der EU oder den Staaten. "Das ist mehr ein Aufruf als eine Mission." Die USA hingegen hätten für die Chips "detailliert festgelegt, wie viel Geld in welches Thema fließen soll, inklusive Forschung und Entwicklung und sogar Weiterbildung der nötigen Fachkräfte."
Kaschke macht auch deshalb Druck, weil die Technologienation Deutschland international deutlich zurückgefallen ist. "Wir halten uns für führend, sind es aber nicht mehr: Im weltweit anerkannten IMD World Competitiveness Ranking, das seit 1968 die Grundlagen für künftige Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft misst, sind wir seit 2017 von Platz 9 auf Platz 15 abgerutscht. Und wer hat uns überholt? Nicht nur aufstrebende Nationen aus Asien, sondern auch Länder wie die Niederlande und Dänemark."
Auch nach dem Ranking des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) steht die Bundesrepublik so schlecht da wie noch nie seit 2006. Hier kommt Deutschland unter 21 Ländern nur noch auf Rang 18. Vorbild für eine extrem erfolgreiche Mission sei heute noch Kennedys Mondmission: "Einfach, verständlich, mutig und trotzdem genau formuliert", lobt Kaschke. "Die NASA bekam das Mandat zur Umsetzungsführung und war verantwortlich für eine klare Roadmap." Sie habe die Regeln für die vielen Akteure festgelegt "und berichtete direkt ans Weiße Haus". Ähnlich stringent sei heute der Chips Act in den USA konzipiert.
Daneben machten Japan und China vor, wie man große Missionen orchestriere, so Kaschke. Dort gelte: "Konkretes Ziel, detaillierte Roadmap, Katalysatoren – also politische Rahmenbedingungen und Förderung der nötigen Spitzentechnologie – und eine zentrale, agile Orchestrierung."
Nach der japanischen New Robot Strategy soll sich der Markt für Roboter in zehn Jahren vervierfachen, um so in der überalterten japanischen Gesellschaft Fachkräfte zu ersetzen. Die Preise sollen um 20 Prozent sinken und die Zahl der Robotik-Fachleute auf mehr als 30.000 steigen, heißt es in der Studie "Beschleunigungsformel für Deutschland" des Stifterverbandes und McKinseys. Die Roboter sollen der Medizin, aber auch der Landwirtschaft, am Bau und der Produktion dienen. Für jedes Feld gibt es eine detaillierte Sub-Roadmap.
"Wir hingegen – ich spitze bewusst zu – setzen ein gutes, klares Ziel, wie klimaneutrale Wirtschaft bis 2055. Und dann verfallen wir in Detailregulierungen – zum Beispiel, dass die Zimmertemperatur nur noch 19 Grad sein darf", kritisiert Kaschke. Lernen könne Deutschland auch von der "Made in China"-Strategie von 2015, die mit Halbleitern eine technologische Spitzenposition erreichen und das Bruttoinlandsprodukt bis 2035 verdoppeln will. Die Strategie sei ganzheitlich angelegt und definiere konkret technologische Durchbrüche in zehn Schlüsselindustrien. Für die Halbleiter "wurden für alle Anwendungsbereiche wie etwa Bildschirme oder optoelektronische Halbleiter präzise und messbare Meilensteine definiert", heißt es in der Studie. Dazu kämen gezielte Förderprogramme, zahlreiche neue Forschungszentren und Erleichterungen für kleine Unternehmen.
In Deutschland hingegen denke man oft, ein ganz genauer Plan sei schon eine Roadmap. "Das ist falsch", sagt Kaschke und veranschaulicht es an einem einfachen Beispiel: "Wenn ich von New York nach Los Angeles fahren möchte, brauche ich am Anfang einen Kompass, ab Staatsgrenze Pennsylvania eine US-Highway-Map und am Schluss einen Stadtplan von L.A. Zwischendurch muss ich immer wieder checken, ob ich die Strecke ändern muss, weil eine Straße gesperrt ist oder die Tankstelle geschlossen hat."
Autorin: Barbara Gillmann
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Handelsblatt GmbH