Gerald Hüther: Wieso die Schulen versagen
Die Lehrerausbildung an deutschen Hochschulen liegt im Argen. Referendare bekämen fälschlicherweise eingetrichtert, dass es den perfekten Unterricht gibt.
Passt unser Bildungssystem überhaupt noch zu den Kompetenzen, die junge Menschen in Zukunft brauchen? Schulen müssen ihren Auftrag zur Persönlichkeitsentwicklung ernst nehmen, meint Unternehmensberaterin Steffi Burkhart. Denn die Berufsbilder und das dafür nötige Wissen werden sich immer schneller verändern. Und Schulnoten sind da oft Teil des Problems und nicht der Lösung.
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Heute kann ich ja alles Mögliche an Wissen digital schon abrufen. Und wenn ich als junger Mensch mir von der Stanford University einen Top-Professor mit Top-Inhalten anhören kann, dann stelle ich mir immer mehr die Frage: Wenn da jetzt irgendwie so ein Lehrer oder vielleicht ein Professor vor mir steht, nehme ich den eigentlich ernst? Und ich glaube, das ist eine neue Herausforderung auch. Wie kann ich heute als Lehrer so abwechslungsreich methodisch-didaktisch den Unterricht aufbereiten, dass die jungen Leute bei der Stange bleiben?
Die jungen Menschen heute, die leben ein ganz anderes Lebensmodell als noch die Elterngeneration von ihnen oder meine Elterngeneration. Also, wir hatten da ja immer so das klassische Drei-Phasen-Biografie-Modell, wo wir wussten: Man hat eine Ausbildungsphase, dann hat man eine Berufsphase, und dann hat man eine Rentenphase. Bei uns spricht man heute schon von einem achtstufigen Biografie-Modell. Und wir werden Zickzack-Lebensläufe durchleben. Das heißt: Viele von uns als junge Generation werden vermutlich achtmal den Job wechseln, möglicherweise zweimal die Branche. Wir werden erleben, dass sie sagen: Naja, vielleicht bin ich mal zwei Jahre in einer Vollzeit-Festanstellung. Vielleicht wechsele ich aber auf eine Teilzeit. Vielleicht möchte ich mal ins Ausland gehen. Vielleicht möchte ich einfach einmal gar nichts machen. Vielleicht sind meine Eltern irgendwann pflegebedürftig. Vielleicht mache ich einen ganzen Branchenwechsel. Dafür brauche ich auch Zeit, um mich wieder weiterzubilden. Und ich glaube, bei so einem neuen Lebensmodell müssen wir die jungen Menschen vielleicht etwas anders auf ihre Zukunft vorbereiten, zumal wir wissen, dass 65 Prozent der Jobs, in denen diese jungen Leute zukünftig arbeiten, die existieren heute noch gar nicht. Also, da ich auch eine große Frage: Auf was bereiten wir die jungen Menschen eigentlich vor? Und was müssen sie eigentlich mitbringen? Und wenn ich auf der anderen Seite die Wirtschaft sehe, dann sehe ich, dass die von den jungen Menschen heute eigentlich sowas wie eine gute Personality sich wünschen, zu sagen, uns geht es jetzt weniger darum, ob die wirklich Top-Noten haben und irgendwie ein Einser-Abi oder ein Top-Abschluss im Studium. Was die sich wünschen, sind junge Menschen, die eine Selbstwirksamkeit mitbringen, die Neugierde mitbringen, die brennen für das, was sie vor sich haben, die eine Verantwortung übernehmen, die gerne eine Herausforderung annehmen, die keine Angst davor haben, Fehler zu machen und zu scheitern. Und das sind ja Themen, wo ich glaube, da kann man in Bildungseinrichtungen noch mehr den Fokus darauf legen anstatt die jungen Leute in diesen 45-Minuten-Taktungen von Fach A zu Fach B zu schieben, um ihnen aber solche anderen Kompetenzen mit auf den Weg zu geben, weil Lehrinhalte an sich werden sich eh in der Zukunft verändern. Die Berufsbilder werden sich so verändern. Fachexpertise alleine ist nicht mehr das Entscheidende. Ein Drittel der Kompetenzen, die wir heute brauchen, werden in fünf Jahren andere sein.
Wenn ich jetzt mal irgendwie in die Hochschulen und in die Unis reingucke und sehe manchmal da, dass junge Menschen völlig demotiviert sich in den Unterricht setzen. Oder dann wurde ja auch mal die Pflicht abgeschafft, dass man irgendwie noch in die Vorlesung geht, und auf einmal saßen teilweise keine Menschen mehr in den Vorlesungen, und sagt jetzt wieder: Okay, wir müssen wieder die Regel einführen, dass sie in den Unterricht gehen. Das ist ja aber wieder nur an den Symptomen herumgeschraubt, aber nicht an der Ursache. Also, warum wollen junge Menschen nicht mehr in die Lehre gehen? Vielleicht müssen wir auf der anderen Seite uns die Frage stellen: Was können wir tun, um die jungen Menschen hochgradig begeistert bei der Stange zu halten? Das ist natürlich jetzt vielleicht etwas utopisch und hoch gegriffen, weil ich auch weiß, dass junge Menschen heute sehr anspruchsvoll sind. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass man auch da seine eigene Rolle als Lehrer ein Stückweit hinterfragen muss.
Ich glaube, es ist natürlich immer sehr einfach, als externe Perspektive zu sagen, was müsste sich möglicherweise verändern. Aber ich glaube, es ist auch wichtig zu sagen: Die Lehrer machen einen tollen Job, und die Lehrer, die wollen ja auch unbedingt in diesen Lehrberuf, weil sie junge Menschen begleiten wollen und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung auch unterstützen wollen. Die Frage ist nur: Welchen Rahmen liefert ein System? Und das sehe ich als großes Thema, dass wir an dem System der Schulbildung radikal etwas verändern müssen, damit die Lehrer auch einfach mehr Zeit haben, junge Menschen individuell in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln. Und ich glaube, damit kommt am Ende des Tages auch wieder mehr die Motivation und die Lust zurück, die die Lehrer eigentlich ursprünglich haben, und zu sagen: Das ist genau das, was meine Herzensangelegenheit ist, junge Menschen zu unterstützen. Und was wir derzeit beobachten können, ist halt unglaublich viel Frust bei den Lehrern, die sagen: Ich würde gerne, aber das System lässt es nicht zu. Und da, glaube ich, müssen wir viel mehr noch den Druck ausüben in Richtung auch Politik, dafür zu sorgen, dass einfach auch wirklich an dem Schulsystem was verändert wird.
Wir haben ja auch ein paar Leuchtturmprojekte, also tolle Schulen, die neue Wege ausprobieren und sagen: Wie können wir den Raum schaffen, dass junge Menschen mit Neugierde ihr eigenes Lerntempo finden, sich für die eigenen Fächer auch entscheiden, wo sie jetzt gerade Lust darauf haben, an den Fächern zu arbeiten? Wo finden sie andere junge Mitschüler, die sie dabei unterstützen, bestimmte Themen zu verstehen? Das ist ja auch alles dieses "Geh auf andere Menschen aktiv zu", um mir Hilfe einzuholen, wenn ich sie brauche. Es ist in der Zukunft enorm wichtig, Neugierde, in der Zukunft ist es als Themenfeld enorm wichtig. Es gibt ja auch Schulen, die sagen: Wir haben solche Fächerbereiche wie Verantwortung zu übernehmen oder Herausforderungen zu meistern. Auch da wissen wir, dass das enorm wichtig ist, dass ich in der Zukunft als Mensch sowohl für mein eigenes Leben als auch für ein Team eine Verantwortung übernehme, genauso wie dass ich kein Problem damit habe, eine Herausforderung anzugehen. Schaffen wir Experimentierraum, wo die jungen Menschen scheitern können, ohne dass wir immer wieder den Rotstift herausholen oder heute vielleicht den grünen Stift? Ist aber immer noch irgendwie der Fokus auf: Was läuft noch nicht so gut? Was muss einfach besser laufen? Ich glaube, es gibt viele neue Wege, die man einschlagen muss, weil was wir ja heute sehen, ist: In der Wirtschaft verändern sich die Unternehmen auch extremstens, teilweise sogar komplett disruptiv und radikal. Und ich glaube, Schulen müssen es auch tun, um die jungen Menschen eben richtig auf die Zukunft vorzubereiten.
Ich glaube, was Schulen auch tun könnten, wäre zu überlegen, ob man bei den jungen Leuten die Noten abschafft. Also, ich sehe das immer bei meinen Studierenden im Bachelor-/Master-Bereich: Die wollen schon immer ganz am Anfang des Semesters wissen: Was müssen sie tun, dass sie am Ende gute Noten bekommen? Dann sage ich: Es geht doch nicht darum, gute Noten zu sammeln, sondern seht doch diesen Raum hier als Experimentierraum, um dich zu entwickeln, zu entfalten, um auszuprobieren! Und das wünsche ich mir eigentlich auch in Schulen. Und ich weiß, in meiner Zeit damals, ich fand das immer etwas schwierig, mit Schulnoten bewertet zu sein, um mich dann eigentlich auch noch mit anderen zu vergleichen und zu sagen: Naja, ich bin irgendwie schlechter in dem, und der ist irgendwie besser. Also, wir wollen doch nicht, dass wir miteinander uns vergleichen, weil das ist ja auch dieser Wettkampfgedanke, den wir aus der Wirtschaft kennen und den wir in der Zukunft nicht mehr brauchen. Wir brauchen Kollaboration. Wir brauchen ein Verständnis dafür, dass jeder seinen Beitrag leistet, unabhängig jetzt von irgendeiner Wertigkeit, die wir immer wieder ins Spiel bringen. Und das wünsche ich mir, dass wir irgendeine Möglichkeit schaffen, und ich weiß, in Singapur hat man es jetzt, glaube ich, auch umgesetzt bei den Erst- und Zweitklässlern zu sagen: Es gibt gar keine Noten, sondern bei denen geht es wirklich um ihre Persönlichkeitsentwicklung. Und das wäre doch vielleicht mal ein spannender Ansatz, weil das kann ich gar nicht leiden, das ist ein Ansatz der extrinsischen Motivation. Und wir müssen doch dafür sorgen, dass die Menschen lernen oder eigentlich dabei bleiben, intrinsisch motiviert an ihrer Persönlichkeit zu arbeiten, zu sagen: Wo sind die Stärken, die ich habe? Wo kann ich mich gut einbringen? Wo habe ich Spaß daran, wo nicht? Und da sollten wir doch dafür sorgen, dass jeder seinen eigenen Weg geht, unabhängig von irgendwelchen Noten, die uns jetzt irgendwie bewerten.