Ist Talentförderung in der Wirtschaft zu sehr auf wenige Spitzenkräfte fokussiert? Das muss nicht sein, meint Anne Dreyer, Referentin Bildungsmanagement an der TÜV SÜD Akademie. Sie verrät, wie einfach man Beschäftigten Entwicklungschancen eröffnen kann. Und warum aber Führungskräfte oft gar kein Interesse haben, das Potenzial ihrer Mitarbeiter zu heben.
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Autor: Timur Diehn
Produktion: Webclip Medien Berlin
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Das Interview entstand am Rande der Learntec 2016 in Karlsruhe.
Talentmanagement und Talentförderung heißt bei ganz vielen Unternehmen heute leider immer nur, dass so diese ganz kleine Creme de la Creme gefördert wird, ausgebildet und speziell entwickelt wird, die sozusagen den Rahm auf der Milch im Unternehmen eben darstellt.
Das ist natürlich sehr schade, weil ich suche mir dann immer nach ganz speziellen Kriterien bestimmte Leute aus, und häufig ist es so, dass alle anderen, die darunter liegen, so ein bisschen, ja, durch das Raster sozusagen fallen. Und genau dort hatte ich eben vorgeschlagen, nicht diesen Ansatz zu wählen, bestimmte Leute auszusuchen, sondern eben eher auf die Rahmenbedingungen zu gehen, dass jeder wirklich sein Bestes leisten kann im Unternehmen und auch seine Talente zeigen kann, die er hat.
Früher konnte ich als Unternehmen im Prinzip tun und lassen, was ich wollte. Die Mitarbeiter waren froh, dass sie eine Stelle hatten, und wollten die auch unbedingt behalten und wussten: Oh, am Arbeitsmarkt gibt es gar nicht so viel für mich, und es gibt so viele Arbeitslose. Heute ist es genau andersrum: Heute müssen sich die Unternehmen beim Mitarbeiter bewerben. Und das tun sie nicht einmal, wenn der Mitarbeiter eingestellt wird, sondern das tun sie im Prinzip jeden Tag wieder. Und der Mitarbeiter hat heute viel stärker die Möglichkeit zu sagen: Ich fühle mich da nicht mehr wohl oder ich sehe für mich keine Entwicklungschancen, ich gehe woanders hin. Und die Unternehmen konkurrieren längst nicht mehr in Deutschland miteinander, sondern sie konkurrieren weltweit, gerade wenn es um gut ausgebildete Fachleute geht, die vielleicht auch einen akademischen Hintergrund haben oder Fachexperten in ihrem Bereich sind. Die sind heute viel stärker bereit, auch ins Ausland zu gehen, ins europäische oder ins weltweite Ausland, um dort eben ihre Entwicklungsmöglichkeiten auch dann wahrzunehmen.
Diese Angst, die viele Führungskräfte haben: Was passiert denn, wenn ich jetzt jemanden wegentwickle? Dann ist der aus meinem Team weg, er ist aus meinem Team raus, und ich muss wieder neu anfangen, mir jemanden zu suchen, und ich muss die Stelle neu besetzen. Das heißt: Viele Führungskräfte haben überhaupt kein Interesse, Mitarbeiter wirklich weiterzuentwickeln, mit neuen Fähigkeiten auszustatten, sie für neue Positionen bereit zu machen. Und da ist es auch natürlich die Frage: Wie ist das Führungskräfteverständnis? Möchte ich es zulassen, dass in meiner Abteilung ein Wechsel passiert? Bin ich vorausschauend und habe dann schon sozusagen den nächsten in petto, der die Stelle dann nachbesetzen kann? Sehe ich es vielleicht als Chance und sage: Toll, ich konnte einen Mitarbeiter in eine andere Abteilung entwickeln. Jetzt suche ich vom Markt vielleicht jemanden, der noch Kompetenzen reinbringt, die meinem Team bisher noch fehlen. Das heißt: Eine Führungskraft kann so etwas natürlich auch als Chance begreifen.
Ich durfte ein Unternehmen auditieren, die einen internen Award vergeben, nicht an die Person, die den höchsten und schnellsten Aufstieg in der Hierarchie hat, sondern an die Führungskraft, die die beste Mitarbeiterentwicklung macht, die die meisten Mitarbeiter geschult hat, wo die größten Lernerfolge gewesen sind, die die Mitarbeiter vorangebracht hat in ihrer Karriereentwicklung, die vielleicht neue Leute ins Unternehmen geholt hat, die dann schnell erfolgreich geworden sind, die den besten Performancezuwachs bei seinem Team hat. Das ist nochmal ein ganz anderer Blick zu sagen: Wir schauen wirklich auf die, die bei uns die Leute entwickeln. Und das finde ich eine sehr, sehr gute Idee, sowas auch zu machen, weil dann kommt man wirklich auch in den Bereich Vorbildwirkung. Dann ist es Führungskräfteverständnis nochmal ein anderes, wirklich ernsthaft zu sagen: Das steht nicht nur in den Führungsleitlinien drin, Personalentwicklung ist Führungsaufgabe, sondern dann wird es ernst genommen und wird entsprechend auch honoriert.
Meiner Vorstellung nach sollte gutes Talentmanagement im Unternehmen den Talenten, die das möchten, die sich dafür interessieren, vor allem eine Plattform bieten, sich zu zeigen. Am Ende ist es ja der Schlüssel für gutes Talentmanagement, dass die Leute zeigen können, was sie können, dass sie ihre Kompetenzen zeigen können, ihre Fähigkeiten. Und dazu fallen mir natürlich unheimlich viele Möglichkeiten ein, wo man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern diese "time to shine", die sie brauchen dafür, wo man sie ihnen bieten kann. Das könnte zum Beispiel Projektarbeit sein oder interne Praktika, Auslandseinsatz, über einen Talentpool, der eben mehr als nur diese Creme de la creme der Top Talents beinhaltet, sondern eben auch vielleicht Leute beinhaltet, die sich gerne in einem bestimmten Bereich entwickeln möchten. Das heißt, dass man den Leuten wirklich eine Plattform bietet, wo sie sich selber auch proaktiv durchaus einsetzen können. Ich kenne zum Beispiel aus einem Unternehmen auch die Möglichkeit eines Potenzial-Förderseminars. Das heißt, dort wird standardmäßig im Seminarkatalog angeboten, ein solches Potenzial-Förderseminar zu belegen. Das ist ein bisschen wie ein Assessment Center, wo jeder, der das möchte, egal in welcher Position, egal in welcher Hierarchiestufe, daran teilnehmen kann. Dort gibt es ganz klassisch Gruppenarbeiten, Präsentationen, die dann eben von einem Coaching-Gremium in irgendeiner Form beobachtet wird. Und am Ende erhält derjenige eine Auswertung über sich selbst. Wie ist die Wirkung? Wie ist das Auftreten? Welche Potenziale sind erkannt worden und welche Entwicklungswege auch wären für die Person möglich? Und dann kann er sich immer noch entscheiden: Möchte ich, dass die Führungskraft das erfährt oder lieber nicht? Und das heißt, die Leute, die an so etwas teilgenommen haben zum Beispiel und gut abgeschnitten haben, die könnte ich sofort in mein Talentpool reinführen und hätte dann eben gleich Leute, die ich auch auswählen kann, wenn neue Stellen oder neue Projekte zu besetzen sind.
In der Regel ist es so: Wenn man sich Teams anschaut, wenn man seine eigenen Kollegen sich so überlegt, daran denkt, oder auch seine Mitarbeiter, wenn man Chef ist: Sind denn die Talente diejenigen, die so brav ihre Aufgaben machen, die sich von mir als Chef ihre Arbeitsanweisungen abholen und die dann ordentlich erledigen? Nein, meistens nicht. Die Talente sind in der Regel immer die, die diese lästigen Fragen stellen. Talente sind die, die viel nachdenken, die viele Ideen produzieren, die über den Tellerrand rausdenken. Und das ist unbequem. Das muss man sich einfach eingestehen. Das ist unbequem für die Führungskraft, die mit einem Talent, ich sag mal: konfrontiert ist. Es ist aber auch unbequem für das Unternehmen, weil erstmal wollen wir das gar nicht. Das wird zwar immer wieder gesagt: Ja, wir brauchen Leute, die genau das tun, die unser Verhalten, unser Vorgehen in Frage stellen. Wir freuen uns über neue Leute von außen, die das machen. Aber kommen Sie mal als neuer Mensch in ein Unternehmen und stellen Dinge in Frage! Was hören Sie dann? Sie hören: Haben wir schon immer so gemacht. Das haben andere schon vorgeschlagen, hat noch nie funktioniert! Jetzt machen Sie erstmal Ihren Alltagsjob, und dann können wir ja später nochmal drüberschauen! Und genau da liegt das Problem, dass solche Tendenzen nicht so gewürdigt werden, auch nicht so ausgenutzt werden, wie man es eigentlich tun müsste, wenn man es richtig fördern würde. Das heißt: Grundsätzlich braucht man so einen kleinen Mindset Change in der Führung, um sowas zuzulassen und sowas ganz speziell auch rauszusuchen, zu würdigen und auch den Raum zu geben, dass diese Ideen, die da kommen, auch umgesetzt werden können.
Talentförderung wird bei vielen Unternehmen eben noch sehr eng gedacht, weil sie immer nur an die High Potentials denken, immer nur an die speziellen Führungskräfte oder speziellen Fachkräfte, die zu bestimmten Fragestellungen gesucht werden. Leider hat sich diese Idee, dieser Ansatz, alle Mitarbeiter entsprechend zu fördern und alle Talente, die im Unternehmen vorhanden sind, zum Erblühen zu bringen, der hat sich leider noch nicht durchgesetzt.