Deutschland und Europa müssen sich laut Veronika Grimm in wichtigen Bereichen neu ausrichten, um unabhängiger und robuster zu werden. Das betrifft die Energieabhängigkeit von Russland, aber auch die Abhängigkeit von den USA in Bezug auf Verteidigung. Und bei den Handelsbeziehungen ist Europa nach wie vor zu stark auf China ausgerichtet. Es gelte jetzt, zu diversifizieren und neue Wertschöpfungsketten mit neuen Handelspartnern aufzubauen. Hier bestehen gerade für Deutschland mit seinem starken Maschinenbau interessante Optionen.
Um grünen Wasserstoff als zentralen Energieträger der Zukunft auch hierzulande etablieren, sollte Deutschland schnell Kooperationen zu Ländern aufbauen, die gute Voraussetzungen für die Erzeugung von grünem Wasserstoff bieten, also zum Beispiel Australien, Chile, Kanada oder afrikanische Staaten. Die notwendigen Veränderungen sollten in den öffentlichen Debatten vor allem unter dem Aspekt geführt werden, dass damit auch große Chancen für den Wirtschaftsstandort Deutschland verbunden sein können. So habe ja auch der Digitalisierungsschub während der Corona-Maßnahmen zu vielen Veränderungen in der Kommunikation geführt, die sich als positiv entpuppt haben und heute weitergeführt werden.
Prof. Dr. Veronika Grimm ist Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und hat den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Das Interview entstand im Zusammenhang mit dem Forschungsgipfel 2022.
Der Wirtschaftsprozess beruht ja quasi auf schöpferischer Zerstörung. Altes bewährt sich nicht mehr, hält nicht mehr stand. Aber Neues entsteht. Und ich glaube, so ist das auch in der deutschen Industrie. Die deutsche Industrie wird nicht verschwinden, aber sie muss sich eben in sehr, sehr großem Umfang neu aufstellen.
Die Europäische Union wird vermutlich nicht autark werden. Aber umso mehr wir selbst lösen, umso höher auch unsere Energiesicherheit. Und dann ist es natürlich wichtig, in den Handelsbeziehungen mit anderen Staaten zu diversifizieren, also möglichst viele Regionen der Welt einzubinden. Wir haben bei der Energieversorgung sehr stark auf Russland gesetzt, müssen jetzt aber Energiesicherheit etablieren, also uns unabhängig machen von Russland. Wir haben bei der Verteidigungsfähigkeit sehr stark auf die Vereinigten Staaten gesetzt. Wir müssen uns auch da eigenständig aufstellen in der Europäischen Union. Und wir müssen auch unsere Handelsabhängigkeiten überdenken. Wir sind von den Exporten nach China extrem abhängig. Es gilt jetzt zu diversifizieren und Resilienz aufzubauen, also eine Robustheit des europäischen Wirtschaftssystems. Das bedeutet Energiesicherheit, Handelsbeziehungen diversifizieren, Verteidigungsfähigkeit aufbauen, und das alles in einer Zeit, wo wir eigentlich schon mitten in einer Transformation hin zu einer Klimaneutralität waren.
Ja, ich glaube, bei den Handelsabhängigkeiten müssen wir einfach schauen, dass wir uns stärker auch an Demokratien anbinden, Handelsabkommen abschließen. Es war, glaube ich, ein Fehler, dass wir in der Vergangenheit sehr kritisch waren, zum Beispiel die Historie von TTIP ist ein gutes Beispiel. Da gibt es eine Menge an Vorbehalten, die Europa daran gehindert haben, Handelsabkommen zum Beispiel mit den Vereinigten Staaten zu ratifizieren. Und das stellt sich jetzt natürlich als großes Problem heraus, weil wir einfach einseitig abhängig sind. Ich glaube, wir können die Situation nutzen, um Handelsabhängigkeiten zu diversifizieren, einfach weil die Entwicklung ja auch in neue Richtungen zeigt, zum Beispiel bei der Klimaneutralität werden wir unsere Energieabhängigkeiten eigentlich ganz neu organisieren können. Wir werden klimafreundliche Energieträger aus aller Welt beziehen, und es gibt viel mehr Länder weltweit, in denen klimafreundliche Energieträger produziert werden können, also Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe, auf Wasserstoff basierende Energieträger. Und mit all diesen Ländern kann man natürlich Kooperationsbeziehungen initiieren, diese Wertschöpfungsketten aufbauen. Diese Wertschöpfungsketten müssen ausgestattet werden. Da ist die deutsche Industrie natürlich ganz vorne dabei, weil der deutsche Maschinenbau natürlich vieles bereitstellen kann, vieles anbieten kann, was benötigt wird, um diese Wertschöpfungsketten auszubauen, Elektrolyseure, Logistiklösungen für den Transport von gasförmigen und flüssigen Energieträgern. Man kann auch überlegen, dass man die Energieversorgung oder andere Probleme wie die Wasserversorgung in den Exportländern gleich mitadressiert. Und so kann man natürlich neue Wertschöpfung, neue Handelsbeziehungen auch aufbauen und da auch auf Regionen fokussieren, die wir bisher vielleicht weniger im Blick hatten.
Und es liegen auch gute Transformationspläne vor. Zum Beispiel in der Stahlindustrie möcchte man die alten Koks-Kohle-Hochöfen ersetzen durch Direktreduktionshochöfen. Die arbeiten mit grünem Wasserstoff und können auch in der Interimsphase mit Gas betrieben werden, also ich befeuere sie dann zunächst mal mit Gas und mische immer mehr Wasserstoff bei, bis ich ihn dann fast zu hundert Prozent Wasserstoff betriebe, wenn der grüne Wasserstoff mal günstig genug und in ausreichender Menge verfügbar ist. Und das ist ein Transformationspfad, der ist durchaus attraktiv. Man hat dann weiterhin die Stahlherstellung von Qualitätsstahl in Europa, macht das aber eben komplett klimaneutral. Und genauso gibt es für andere Produktionsprozesse, zum Beispiel in der Chemie, Methanol, Ammoniak, gibt es eben auch Möglichkeiten, diebisher fossil hergestellten Produkte grün herzustellen, über Wasserstoff zum Beispiel Ammoniak herzustellen, über Wasserstoff Methanol herzustellen und dann die Wertschöpfungsketten auf diesen grünen Energieträgern aufzubauen. Das Problem ist, das ist im Übergang teuer, und wenn wir ambitioniert sind und schnell sein wollen, dann braucht das in vielen Fällen auch staatliche Hilfe. Da gibt es natürlich schon Gespräche zwischen der Politik und der Wirtschaft, aber da stehen wir auch vor einer großen Herausforderung, weil die Entwicklungen in der Ukraine und die geopolitischen Entwicklungen dazu führen werden, dass Gas als Übergangstechnologie sehr teuer werden wird. Also, es ist eben jetzt nicht mehr so, dass man im Übergang diese Prozesse mit billigem Gas bespielen kann, und das wird uns dazu zwingen, einige Transformationspfade nochmal zu überdenken. Ich glaube, man muss jetzt für Europa und für Deutschland sehr genau darüber nachdenken: Was wollen wir aus strategischen Gründen auf jeden Fall in Europa halten?
Jetzt ist ja die neue Idee, dass man Wasserstoff produziert, also erneuerbaren Wasserstoff mithilfe von Elektrolyse. Ich gehe an einen Standort, wo eben in großem Umfang erneuerbare Energie vorhanden ist, wo auch Wasser vorhanden ist. Aber man kann eben auch Meerwasser entsalzen mittels Entsalzungsanlagen, und dann produziert man Wasserstoff, verarbeitet es möglicherweise weiter zu synthetischen Kraftstoffen und kann das dann auf dem Seeweg in alle Welt transportieren. Das heißt, man kann weit über diese Idee von Desertec hinausgehen, weil man ja viel weiter in die Ferne gucken kann, nach Australien, nach Chile, nach Island, nach Kanada, in afrikanische Staaten, die gute Voraussetzungen haben. Und da sollten wir Kooperationsbeziehungen aufbauen zu vielen Ländern. Es gibt ja mehr Länder, die über gute Bedingungen für erneuerbare Energien verfügen, als es Länder gibt, die über fossile Energieträger verfügen. Das heißt, wir können da diversifizieren. Und wir sollten uns angucken: Welche Länder bieten sich an, um da zu skalieren, um schnell zu skalieren, schnell Handelsbeziehungen aufzubauen? Da ist zum Beispiel Australien, die Kapazitäten haben, wo es auch die Forschung gibt, wo auch der Wille da ist, zukünftig Energieexporteur zu werden. Da gibt es Chile, wo es schon Projekte gibt. Es gibt verschiedene Länder, die sind da schon im Spiel, aber es gibt auch andere Länder, wo attraktive Bedingungen herrschen, aber wo man vielleicht noch nicht so weit ist und wo Deutschland auch versuchen kann, Synergieeffekte zu heben. Zum Beispiel in afrikanischen Staaten gibt es viel Wasserknappheit, und da kann man dann eben das darüber, dass man Entsalzungsanlagen, Meerwasserentsalzungsanlagen größer dimensioniert, vielleicht auch ein Wasserproblem gleich mitadressieren. Man kann in Staaten darüber, dass man die erneuerbaren Anlagen größer dimensioniert, auch die lokale Energieversorgung mitadressieren. Und so kann man Synergieeffekte heben und mit ganz unterschiedlichen Staaten Kooperationen eingehen und dadurch auch natürlich wieder für Europa Resilienz etablieren, weil man einfach nicht so einseitig von einzelnen Regionen der Welt abhängig ist.
Da müssen wir auch hin, dass die gesellschaftliche Debatte mehr darum geht: Was sind die Chancen? Wie organisieren wir uns? Was sind positive Veränderungen? Und ich glaube, man kann auch an einigen Veränderungen anknüpfen. Zum Beispiel während der Corona-Pandemie war das ja erstmal ein Schock, wir konnten alle nicht mehr zur Arbeit gehen, weil wir im Lockdown waren. Und dann haben Unternehmen sehr, sehr schnell geschaltet und viele Prozesse auf online umgestellt. Und jetzt erlebt man eigentlich, dass vieles online bleibt, weil es eben gar nicht so viel Sinn macht, so viel zu reisen, wie wir davor gereist sind, so viele Veranstaltungen tatsächlich persönlich zu besuchen, wie wir sie davor persönlich besucht haben. Und da sehen wir, dass das gut ist, sich zu verändern, und dass dieser Mittelweg, wir machen einiges in Person, und anderes machen wir eben online, weil wir dann einfach mehr Interaktion generieren können, mehr Wissen zusammenbringen können, mehr Netzwerke zusammenbringen können, auch mit Leuten aus Australien, Amerika, Chile reden können. Das ist ja Nutzen stiftend. Und die Menschen merken vielleicht, durch diese Entwicklungen und diese Erfahrungen dass Veränderung eben auch etwas Gutes sein kann.