Van Bo Le-Mentzel: Brich die Regeln und finde Deinen Platz in der Welt

Van Bo Le-Mentzel: Brich die Regeln und finde Deinen Platz in der Welt

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Van Bo Le-Mentzel: Brich die Regeln und finde Deinen Platz in der Welt
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"Wir müssen Regeln brechen. Wir müssen raus. Wir müssen versuchen, die Dinge von einer anderen Perspektive zu sehen", sagt Van Bo Le-Mentzel, "Karma-Ökonom" laotischer Herkunft. Der Initiator des Hartz-5-Projekts erzählt von seiner Suche nach einem Platz in der Gesellschaft. Und dass man nur mit Mut und Leidenschaft die Welt verändern könne.

Produktion: Timur Diehn
Postproduktion: Christian Slezak
für den Bildungskanal des Stifterverbandes

Transkript des Videos

Mein Coming-out sozusagen aus dieser Bildungshöhle war, als ich irgendwann für mich entdeckt habe, dass ich Regeln brechen muss.

Ich war Graffiti-Sprüher, und das Graffiti-Sprühen ist illegal. Also, du musst auf die Straße gehen, du musst Zeichen setzen und musst dich selbst organisieren usw. Das ist alles nicht legal. Und da habe ich das gemerkt, dass, solange du niemandem schadest, solange du niemandem deine Freiheit nimmst, ist es sogar erforderlich. Also, wenn Kinder, ich habe jetzt einen Sohn, der ist 15 Monate alt, wenn der nicht Regeln brechen würde, der würde ja sterben, der würde ja im Bauch zum Beispiel bleiben. Es gehört dazu. Es ist in unserem evolutionären Code drin, dass wir den Ort, wo wir sind, verlassen müssen. Wir müssen Regeln brechen. Wir müssen raus. Wir müssen versuchen, die Dinge von einer anderen Perspektive zu sehen. Und das hat jeder von uns, der jetzt auch hier zuschaut, geschafft, der ist aus dem Mutterleib seiner Mutter herausgekrochen. Es ist eigentlich ein Wunder, dass das überhaupt funktioniert. Aber wir haben es alle geschafft. Und irgendwann, mit sechs, sieben hören wir dann auf damit, dass wir dann rausgehen aus dem System, aus diesen Bildungshöhlen, in denen wir uns befinden, und uns dann nur noch anpassen und gefallen wollen. Ich denke: Jeder kann das, also jeder kann für sich selbst herausfinden, was sein Platz ist in der Gesellschaft, was seine Rolle ist in der Gesellschaft. Aber es erfordert sehr viel Mut. Und ich bin so froh zu wissen, dass ich nicht der einzige bin. Ich bin nicht alleine. Wir sind viele, die den Mut aufbringen, die Fragen zu stellen, die vielleicht sehr unangenehm sind. Wer bist du und was willst du auf dieser Welt erreichen? Und das kannst du nicht mit Abitur lösen oder mit einem Bachelor of Arts oder sowas, sondern das lässt sich nicht über eine Uni lösen, so eine Frage.

Was ich beobachte, ist, dass Leute sich selbst organisieren, um zum Beispiel auf einmal Städteplanung zu machen in Berlin. Man könnte meinen, Städteplanung, zum Beispiel was mit einem Flughafen Tempelhof passiert, der nicht mehr in Betrieb ist, mit so einem Park, wäre eine Aufgabe von Stadtplanern. Oder von Politikern. Aber nein, das sind ganz normale Bürger, die haben eine Bürgerinitiative gestartet, Unterschriften gesammelt und haben sich dafür eingesetzt, dass der Platz jetzt genau so, wie er ist, so bleibt, und haben es tatsächlich geschafft, dass daraus ein Gesetz wird. Das musst du dir mal reinziehen! Es sind keine Lobbyisten oder keine Politiker, und die können auf einmal Gesetze machen. Und ich sehe ganz viele Menschen, die mithilfe eines Blogs, bewaffnet mit einem Facebook-Kanal auf einmal anfangen, die Welt zu verändern. Ich kenne Leute, die haben einfach angefangen, Gruppen zu gründen, wo man halt gemeinsam immer sich jeden zweiten Tag trifft, um Essen zu verteilen an Obdachlose. Du brauchst nicht einen Obdachlosenverband zu gründen, um Obdachlosen zu helfen. Du kannst dein iPhone, deine Birne anmachen und dir überlegen: Ey, wie kriegen die Obdachlosen jetzt warme Decken und Essen? Und das kann jeder machen! Also, ich beobachte Leute, die anfangen, sich zu engagieren für nachbarschaftliche Events. Es gibt so eine App, die heißt Meetup, und da kannst du jeden Tag Leute treffen, die sich dafür einsetzen, Essen, was irgendwie noch genießbar ist, aus den Mülltonnen rauszuholen, und das sammeln die und verteilen es an Leute, die zu wenig Essen haben. Also, welche Uni, welche Schule kann mir denn dieses Denken geben? Das kann ich nur selbst machen, indem ich mich vernetze. Ich glaube ganz fest daran, dass die Kraft im Lernen nicht im Wissen steckt, sondern eher in dem Wir, in dem gemeinsamen Zusammenkommen und Schauen: Wie fühlen wir uns? Was möchtest du? Was möchte ich? Und dass wir gemeinsam etwas verändern.

Es ist sehr verblüffend zu sehen, dass Menschen in industrialisierten Ländern so ein ähnliches Problem haben, sag ich mal. Also, jemand, der in industrialisierten Ländern ohne Plan ist, wird sofort abgestempelt. Jemand, der nicht genau sagen kann, wo er hin will, der nicht genau so ein Ziel benennen kann: Da will ich hin! Das ist der Beruf, den ich ergreifen will! Das ist das Leben, das ich führen will, wird sofort als so ein Spinner oder Faulenzer abgestempelt. Das ist sehr, sehr interessant, dass es gerade in industrialisierten Ländern so bekämpft wird. Und das hat was mit unseren Vorbildern zu tun. Die Vorbilder in der Industrie sind halt Pläne. Man hat ... Effizienz ist zum Beispiel ein Gott. Dass alles immer skalierbar ist, vergrößerbar ist, das ist auch so eine Gottheit. Also, wir glauben ja nicht mehr an Jesus oder an Buddha oder an Allah, sondern wir glauben eher an Profit, an Gewinn, an Effizienz. Kinder in die Kindertagesstätte, Schüler in die Schule, Arbeiter müssen zur Arbeit, Senioren Seniorenresidenz, Kranke Krankenhaus. Aber wir sind doch nicht ... Wir sind doch keine Schubladen! Wir sind doch Menschen! Und ich kann doch sowohl Kind sein als auch Vater als auch Senior als auch krank als auch Arbeiter als auch Spieler als auch Fußballer als auch Künstler. Ich kann doch alles sein. Wer sagt mir denn, dass ich mich entscheiden muss? Und das, was in der Uni total falsch läuft, meiner Meinung nach, seit 200 Jahren, ist, dass man sich entscheiden muss. Bist du jetzt Soziologe oder bist du ein Makroökonom? Machst du Volkswirtschaft oder machst du Betriebswirtschaft? Wie will man das trennen? Wie willst du auf der Welt das Volk von dem Betrieb trennen? Das ist nicht möglich. Wie willst du die Soziologe trennen von Philosophie, von Mathematik, von Musik, von Sport? Es ist nicht trennbar. Aber wir machen's. Jeden Tag trennen wir immer wieder das eine von dem anderen und tun so, als ob das nicht zusammengehört. Und damit müssen wir aufhören. Und dann werden wir uns sehr viel leichter fühlen, wenn wir auf einmal merken: Hey, als Mensch, so wie ich bin, ich bin okay. Ich bin vollkommen in Ordnung, so wie ich bin. Ich muss nicht wissen, dass ich irgendwie in fünf Jahren irgendsoein Abitur mache oder Bachelor oder sonstwas und dann ... Nee, so wie du bist, bist du vollkommen okay. Und dahinter steckt eine Industrie der Angst, das muss man dazu sagen, und die wird halt kultiviert von so ganz vielen, die diese Angst brauchen. Wenn wir also es schaffen, uns zu lösen von diesen vielen, vielen Ängsten, die wir haben. Angst vor der Zukunft. Angst davor, dass die Miete sich erhöht. Angst davor, dass wir nicht gesund über die Straße kommen. Angst vor Pollen. Angst vor BSE. Angst vor Schweinegrippe. Angst vor Flüchtlingen. Also, wenn wir es schaffen, diese Angstkultur zu beseitigen, dann würde es uns, glaube ich, sehr, sehr viel besser gehen. Und ich habe jetzt einfach mal angefangen, indem ich versuche meine eigenen Ängste abzubauen. Das ist nicht ganz so einfach. Und versuche es mit Vertrauen. Ich vertraue jetzt einfach mal bedingungslos allen Menschen. Meine Kreditkarte ist hier im Umlauf. Jeder kann damit machen, was er will. Meine Passwörter sind im Umlauf für dieses Ticket bei der Veranstaltung. Als wir sie geplant haben, die dclass, gab es zwei Regeln: Die erste lautet: Mach, was du willst, aber nur das, was du willst. Nicht das, was andere sagen, was du tun sollst, sondern nur das, was du willst, das mach! Und die zweite Regel ist: Wenn du einen Fehler machst, dann steh bitte dafür gerade!

Ich hoffe, es gibt so zwei Momente, wo Kräfte frei werden. Der eine ist durch Schmerz und der eine ist durch grenzenlose Liebe. Wenn du als Flüchtling nach Deutschland kommst, dann weißt du, was Schmerz ist. Dann weißt du, was es bedeutet, nicht willkommen zu sein. Und du weißt, wie es ist, nicht am richtigen Platz zu sein. Ich bin ja ein Flüchtling. Ich bin illegal hier eingewandert. Leute wie ich dürfen nicht hier sein, das ist einfach so. Das ist traurig. Das ist so traurig. Ich gebe mir soviel Mühe, aber trotzdem dürfen Menschen wie ich nicht hier sein, heute immer noch. Meine Verwandten in Laos dürfen nicht hier sein. Die müssen immer wieder auch zurück. Und das ist Schmerz. Und dieser Schmerz löst so ganz viel aus irgendwie. Das andere ist Vertrauen, Liebe und Vertrauen. Ich merke, wenn du Menschen in so einen schwerelosen, in Druck befreiten Zustand bringst, dann passiert auf einmal was ganz Wunderbares. Die Leute fangen auf einmal an, etwas zu tun, was sie vorher nicht wussten, dass sie es können. Du merkst es zum Beispiel in der Musik. Natürlich kann man zum Beispiel Beethovens Symphonien lernen, mechanisch mit der Hand zu spielen. Aber was du nicht lernen kannst, ist zum Beispiel beim Jazz ein Solo zu spielen. Das kannst du nicht lernen. Du kannst es auch nicht gut spielen, wenn du unter Druck gesetzt wirst oder das benotet wird, das Solo, sondern es muss ein Zustand sein, in dem du schwerelos bist, in dem du schwebst.

Ja, ich denke, aus Angst entsteht ganz viel, klar, kann man unter Druck auch ganz viel schaffen. Aber die wahre Genialität entsteht erst durch Liebe, bin ich mir vollkommen sicher. Erst wenn du wirklich Leidenschaft hast für eine Idee, dann erfindest du so etwas wie das iPhone. Erst wenn du Leidenschaft hast für ein neues Denken, dann erfindest du Wikipedia. Du kannst das nicht erfinden, weil jemand Angst ausübt, sondern solche Dinge kommen in so einem schwerelosen Zustand, wo du so floatest sozusagen. Also, man nennt es ja auch Flow, in so einem Flow-Zustand. Und ich bin jetzt seit ungefähr vier, fünf Jahren in so einem Dauer-Flow-Zustand und habe jetzt gar keine Angst mehr vor nichts.