Hartmut Rosa: Kinder im Leistungszwang

"Förderung beginnt manchmal erbarmungslos früh, und wenn Sie in Kinderarztpraxen gehen, dann hören Sie da Erschütterndes, dass nämlich Eltern praktisch vom ersten Tag an dorthin kommen mit der Befürchtung, das Kind könnte zurückgeblieben sein."

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Von klein auf stehen Kinder heutzutage unter Druck – durch Eltern, die das Beste wollen, und durch die Schule, die nach Leistungsfähigkeit die Chancen fürs spätere Leben verteilt. Wo bleibt da Platz, einfach nur zu spielen oder sich von etwas wirklich berühren zu lassen? Der Soziologe Hartmut Rosa (Universität Jena) hält einer zwanghaften Gesellschaft den Spiegel vor. Und erklärt, warum es wichtig ist, einfach mal Langeweile zu haben.

Autorin: Corina Niebuhr
Produktion: Webclip Medien Berlin
für den YouTube-Kanal des Stifterverbandes

 

Transkript des Videos

Förderung beginnt manchmal erbarmungslos früh, und wenn Sie in Kinderarztpraxen gehen, dann hören Sie da Erschütterndes, dass nämlich Eltern praktisch vom ersten Tag an dorthin kommen mit der Befürchtung, das Kind könnte zurückgeblieben sein. Irgendwas kann's noch nicht.

Die andere Seite, wenn Sie auf einen Spielplatz gehen, dann hören Sie fast nur, wie Eltern sagen: Ja, mein Kind kann schon! Es ist zwar erst fünf Monate, ein Jahr oder zwei Jahre, aber es kann schon ganz viele Dinge, die es nicht gesollt hätte. Das heißt, da wird permanent schon in diesen Parametern gedacht, und das führt natürlich zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die einen versuchen, ich würde wirklich sagen: fast erbarmungslos, aber in bester Absicht zu fördern. Es ist wichtig, dass Kinder Sport machen. Bewegung ist so wichtig, auch sensomotorisch. Es ist aber auch wichtig, dass sie Musik machen, würde ich sogar als Resonanztheoretiker sagen. Musik ist die Resonanzquelle Nummer eins, also muss das Kind neben Fußball oder schwimmen noch in Geigenunterricht, und da gibt es inzwischen schon seit der Grundschule Akademien und Fördermaßnahmen für Hochbegabte. Wäre ganz wichtig, dass das Kind da hinkommt, dann ist es schon mal auf dem richtigen Track und ich weiß nicht. Sie können sich dann selber ausdenken, was man noch alles machen muss, Sinn für Natur haben, dann muss es auch Freunde haben, soziale Netzwerke aufbauen, und damit ist es sozusagen von außen in, ich nenne das fast schon: Verdinglichungszusammenhänge gepresst. Deshalb glaube ich wirklich, es ist auch wichtig, dass Kinder mal sich langweilen. Das ist wirklich so. Das wird immer wieder gesagt, aber ich glaube de facto unterschätzt. Hans Blumenberg hat mal gesagt: Kultur entsteht durch das Gehen von Umwegen. Man muss sich das mal genau vor Augen führen. Es entsteht nicht da, wo wir zielstrebig eine Sache umsetzen in 90-Minuten-Takten Geige lernen oder so, sondern wo das Kind sich vielleicht mal mit der Geige beschäftigt, weil es ihm komplett langweilig ist. Und ich glaube, die Gesellschaft krankt daran, dass wir das massiv unterschätzen.

Wir haben wahrscheinlich sogar zwei Obsessionen. Eine Obsession ist die Leistungsobsession, die andere ist die Sicherheitsobsession, dass da ja alle Gefahren ausgeschlossen werden. Das ist, glaube ich, noch nicht mal sicher für das Kind, weil wenn es sich nie in Gefahr begibt, wird es wahrscheinlich später damit auch nicht umgehen können. Und natürlich ist es so, das würde ich auch aus meiner eigenen Jugend sagen, dass die Freiräume viel, viel größer waren. Wir waren uns selber überlassen. Ich bin auch in ländlichen Gegenden aufgewachsen. Draußen am Bach oder sonstwo, wo alles Mögliche hätte passieren können, und sehr häufig hat man sich gelangweilt. Und ich würde tatsächlich sagen: Wir hatten noch nicht mal einen Fernseher, wofür ich meine Eltern mein Leben lang dankbar sein werde. Wir haben wirklich Spiele selber erfunden, einfach so. Ich glaube, das war das Beste, was man tun konnte. Und ich habe auch tatsächlich dann im Geist meine eigenen Fußball-Ligen entworfen und Erdteile gezeichnet, wo ich Länder dazu erfunden habe, die dann ständig Krieg hatten oder neue Verfassungen brauchten oder so. Und ich glaube wirklich, im Nachhinein würde ich mindestens sagen, das war, glaube ich, ganz wichtig. Man muss allerdings immer dazu sagen, dass fast alle Menschen so über ihre Kindheit erzählen. Das ist ganz erstaunlich, das ist ein gesellschaftliches Phänomen, das, glaube ich, sogar überzeitlich ist, dass man nämlich denkt: Als ich noch klein war, war die Welt noch in Ordnung. Aber jetzt ist sie es nicht mehr. Ich meine, heute begegnen sie 15-Jährigen, die Ihnen genau das erzählen. Ich bin wirklich neulich mit einem 15-Jährigen ins Gespräch gekommen, der gesagt hat: Ja, also, wir haben ja früher noch draußen gespielt, aber die heute sitzen ja nur noch an ihren Computern. Also, dieser Prozess scheint sich einfach da immer weiter zu verschieben. Ich glaube, dass die Erklärung dafür ist, dass Kinder von Natur aus Resonanzwesen sind. Es ist eine andere Beziehung. Die kindliche Welt-Beziehung ist eine andere als die des Erwachsenen, nämlich noch nicht eine verdinglichte. Für Kinder lebt noch alles. Es ist irgendwie belebt, es steht in einer Antwort-Beziehung, einer Austausch-Beziehung. Sie nehmen Sachen auf, lassen sich anstecken und inspirieren, und das verlieren wir, wenn wir erwachsen werden. Und weil wir diese verdinglichte Form der Welt-Beziehung als nicht besonders glücklich erleben, denken wir immer: Früher war die Welt in Ordnung. Ein Teil davon ist natürlich der Tatsache geschuldet, dass wir damals jünger waren.

Kompetenz ist die Fähigkeit, etwas zu tun und umzusetzen. Das kann man im Prinzip verfügbar machen, also lernen, eintrichtern, anwenden, in Leistung übersetzen, von mir aus auch wettbewerbsförmig abfragen. Resonanz ist tatsächlich ein zeitaufwändiger Prozess, bei dem es darum geht, dass es, sagen wir mal, zwischen Schülerin und Schüler in dem Fall und Stoff sich eine bestimmte Art der Beziehung ausbildet, nämlich so eine, dass der Schüler oder die Schülerin daon in gewisser Weise berührt oder bewegt werden, so dass sie diesen Weltstoff sich anverwandeln, zum Beispiel ein Gedicht, und dann anfangen, damit zu arbeiten. Die Folge davon ist immer, dass sich auch etwas ändert im Subjekt selber. Also, an Gedichten kann man den Unterschied sehr gut klar machen. Jemand, der Kompetenz hat in der Gedichtinterpretation kann schnell das Reimschema identifizieren, das Strophenschema, das Versmaß, die rhetorischen Figuren, die literarischen Topoi. Kann wahrscheinlich dieses Gedicht in die Epoche einordnen und schreibt dann einen super Aufsatz. Resonanz ist, wenn dieses Gedicht zu mir zu sprechen beginnt, wenn es mir plötzlich etwas sagt und wenn ich anfange, damit zu arbeiten, das zu deuten, das anzuwenden, vielleicht es zu transformieren. Und dieses Geschehen, dieses Resonanzgeschehen hat erstens immer etwas Unverfügbares. Ich kann nicht sagen, wann das passiert, und ich kann nicht mal sagen, ob es passiert. Es bedarf aber eines bestimmten stabilen Rahmens, damit so etwas sich überhaupt herausbilden kann, aber wenn es passiert, ist es, glaube ich, der kreativere Akt und führt auch zu viel höheren Innovationsleistungen anstelle reiner Variationsbreite.

Bildungsinstitutionen sind die Institutionen, in denen junge Menschen in die Gesellschaft hineinsozialisiert werden und natürlich auch dafür ausgebildet und manchmal eben dafür abgerichtet werden. Und der Zusammenhang moderner Gesellschaften ist auf Steigerung hin angelegt. Dieser erbarmungslose Zwang, sich zu steigern, sich zu beschleunigen, zu wachsen, zu innovieren, der ist keiner, der sich einfach technisch umsetzen ließe oder ökonomisch. Die Steigerungsleistung muss von den Subjekten erbracht werden. Und deshalb stehen Schulen unter dem Zwang, unter der Anforderung, zu versuchen, das zu erreichen. Und ich glaube, dass sich das tatsächlich da abbildet, und natürlich trifft da Altes, Traditionelles stetig auf Neues, auf Innovatives, und es kommt dabei zu Trial-and-Error-Verfahren. Man versucht dieses und jenes. Ich glaube auch, dass man den Lehrerinnen und Lehrern im Land echt unrecht tut, wenn man sie per se als verstaubt oder sonstwie verquer anguckt, weil ich glaube tatsächlich: In dem Geschehen vor der Klasse passiert ganz viel von dem, was ich Resonanz nenne. Eigentlich ist es so, dass jeden Tag Lehrkräfte hunderttausendfach ihre Schülerinnen und Schüler zum einen begeistern, also als erste Stimmgabel wirken, sprich: Sie erzeugen wirkliches Interesse für einen Ausschnitt der Welt, sei es Geschichte, sei es Mathe, sei es Physik, sei es Biologie. Und sie sind ganz überwiegend sehr sensibel auch den Bedürfnissen der Kinder gegenüber. Nichtsdestotrotz operieren beide, Kinder und Lehrer, und natürlich auch die Eltern dahinter vor dem Hintergrund einer Wettbewerbsgesellschaft, in der Leistung zum einen permanent abgefragt wird und wichtig ist und in der auch das Konkurrenzsystem über spätere Lebensmöglichkeiten entscheidet. Und dazu kommt noch ein politischer Druck, der permanent Qualitätssicherung versucht. Also, auch Schulen werden gegeneinander in Wettbewerb gejagt, und sie werden gemessen an bestimmten Raten, und da sehe ich einen Moment von Verdinglichung, manchmal sogar von Resonanzverdinglichung. Es ist nicht so, dass die Gesellschaft resonanzfeindlich wäre, ganz im Gegenteil. In der Unternehmensberatung, auch in der Schulberatung wird immer gesagt: Ja, ganz wichtig, dass die Mitarbeiter oder die Schüler sich wohlfühlen und dass sie auf ihre Gefühle und ihren Körper zu hören lernen, aber immer mit dem Interesse, dass dann die Leistung stimmen muss. Dass dann was Messbares rauskommt. Das ist Verdinglichung geradezu von Resonanzbeziehungen, und das Problem scheint mir zu sein, dass wirkliche Resonanz, von der ich glaube, die ist auch für die Gesellschaft eine wichtige Ressource, wir brauchen so etwas, das Entzünden von Menschen, diese transformative Bezugnahme auf Welt. Und die hat immer ein Moment des Unverfügbaren. Ich kann nicht sicherstellen, dass es sich einstellt, und ich kann nicht sicherstellen, was dann daraus hervorgeht, welche Konsequenzen das hat. Deshalb kriegt man das nicht so leicht in quantifizierbare Maßinstrumente. Und es ist nicht einfach die Bosheit der Politik oder von Schulleitungen, die das trotzdem versucht, sondern die stehen natürlich unter dem Zwang. Also, ein Bildungspolitiker kann sein Tun nur rechtfertigen, indem er auf irgendwelche Zahlen und Daten verweist, indem er sagt: Wir haben irgendwie mehr Uni-Absolventen oder mehr Leute, die vom Gymnasium an die Uni gehen, oder ins Gynmnasium gehen oder deren Leistungen sind besser geworden. Er kann sich gar nicht anders rechtfertigen als über Daten und Zahlen und Quantitäten. Und da sehe ich den Hauptwiderspruch im Bildungssystem. Dieser Versuch, Dinge zu sichern, auch Ergebnisse zu sichern, quantifizierbar und messbar zu machen, in quantifizerte Parameter zu übersetzen, und die wirklichen Innovationsleistungen und Potenzialen und Ressourcen.

Und das zweite, was mich stört am Bildungssystem, ist meiner Ansicht nach eine gewisse Schieflage. Also, ich halte sehr viel davon und glaube auch, dass es wichtig ist, immer zu betonen und zu sagen, dass Schüler selber entdecken sollen, was sie interessiert und auch selber Wege finden sollen, also dieses selbstbestimmte Lernen, selbstverantwortlich Ziele setzen, ich halte das für ganz wichtig. Ich glaube, es gibt aber keine Resonanzbeziehung, wenn man die Stimme des Schülers oder der Schülerin erstickt, also wenn man die nur als Instrumente der Eintrichterung oder als Objekte der Eintrichterung versteht. Aber ich glaube nichtsdestotrotz, dass Schülerinnen und Schüler auch von Nachahmung lieben. Sie lassen sich entzünden und begeistern. Bei Herders Schulreden sieht man das schön. Gegenwart des Geistes entzündet Gegenwart des Geistes. Flamme steckt Flamme an, sagt er, sprich: Wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin wirklich inspiriert und selber in dem Modus der Resonanz einen Weltstoff zum Schwingen und Klingen und Singen bringt, dann sind Schülerinnen und Schüler auch bereit, sich den anzuverwandeln und sich darauf einzulassen. Deshalb glaube ich tatsächlich, dass wir ein bisschen diesen Sinn für die Wichtigkeit, für die inspirierende, für die entzündende Wichtigkeit des Lehrers zurückgewinnen müssen. Die Idee, dass der Lehrer nur noch Coach ist und nur noch vermittelt oder moderiert, ich glaube, die kommt zu kurz. Das macht mir als Soziologe auch deshalb Sorgen, also im Blick auf Sozialstruktur, weil ich glaube nicht, ich kann es mir jedenfalls schlecht vorstellen, dass ein, sagen wir mal, ein Schüler von bildungsfernem Hintergrund, dass der von sich aus auf die Idee kommt, Latein lernen zu wollen oder sich mit Trakl-Gedichten zu beschäftigen oder mit einer fernen griechischen Epoche, das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wenn es aber Lehrkräfte gibt, die das plötzlich zum Sprechen bringen, dann interessiert sie das. Es gibt Schulklassen, wo zwei Drittel Geografie studieren, weil sie so einen tollen Lehrer hatten. Und ich glaube, es ist wichtig, diesen Sinn wiederzugewinnen, das Gewicht wieder ein bisschen dahin zu legen.