Marcus Specht: Wenn der Computer allgegenwärtig wird

"Eine der spannendsten Entwicklungen in den Niederlanden ist im Moment, agile Planungsprozesse in Schulen einzuführen. In einer Modellschule, mit der wir zusammenarbeiten, haben sie komplett den Stundenplan abgeschafft, komplett die Fächer abgeschafft."

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Sensoren und smarte Apps werden uns immer mehr durch unser Leben begleiten. Was jetzt schon ein großer Trend im Sport ist, wird auch in den Schulen Einzug halten, meint Marcus Specht, Professor für Lerntechnologie und Digitales Lernen an der Open University of the Netherlands. Wird der Lehrer dann zum Trainer? Und kann man vielleicht Prüfungen ganz abschaffen?

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Autor: Timur Diehn
Produktion: Webclip Medien Berlin
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Das Interview entstand am Rande der Learntec 2016 in Karlsruhe.

Transkript des Videos

Also, im wesentlichen bewegen wir uns auf ein neues Paradigma zu oder stecken schon mittendrin, der Interaktion mit Computern. Wir sitzen nicht mehr vor unseren Laptops. Wir stehen zwar schon überall am Bahnsteig mit unseren Mobilgeräten, aber das ist für mich ein Übergang. Der nächste Schritt ist, das finden Sie auch heute schon, Computer viel mehr in unsere Umgebung eingebettet sind. Und zum Computer gehören dann drei Komponenten, das sind Sensoren, das ist Rechenpower sozusagen, und das sind Indikatoren, die uns irgendwas anzeigen. Und so, denke ich, werden wir in der Zukunft mit Computern interagieren, was so im Bereich Ubiquitous Computing auch definiert wurde. Und für dieses Setting sozusagen, wo Lernen eigentlich in einer realistischen Umgebung oder in einer erweiterten Umgebung stattfindet, also E-Learning in einem Computerbildschirm, versuchen wir neue Methoden des Instructional Designs zu definieren und das an Beispielen aufzuzeigen. Und ein Kern ist da jetzt in dem Schritt, in dem wir uns befinden, eben die Kopplung von alltäglichen Aktivitäten über Sensoren an Computer, number-crunching engines, und die uns dann was anzeigen können. Also, im Sport beispielsweise die Sensoren oder in der Messung meiner Aktivitäten über den Tag gemessen, Schrittzähler usw. Es geht aber auch dahin mehr, das zu kombinieren mit Maßen wie Interaktion mit digitalen Medien. Ja, das interessiert uns, und das finden wir spannend.

Wenn man jetzt dieses Grundkonzept weiterdenkt, also, ein Computer hat Sensoren, immer mehr, der kann Bewegungen messen, es wird im Sport getan, Running Apps, die dann so Coaches triggern, die mich verfolgen können und mir Tipps geben: Schneller laufen, langsamer laufen usw. Also, Sport ist das große Anwendungsgebiet. Das kam dann über Trends wie Quantified Self, aus Kalifornien kam sehr viel in den Markt auch Health, also bewusste Ernährung, Schlafmessung usw. Und Sie sehen es ja auch immer mehr mit kleinen Gerätschaften, Smart Apps, die diese Sensorik in Geräten nutzen. Wir versuchen da ein bisschen heranzugehen, um zu gucken: Wie erweitert das eigentlich den klassischen Mensch-Computer-Interaktionszyklus bezüglich Lernen? Also, der Computer kann was messen, kann sich an mich anpassen, kann mir Feedback geben. Da haben wir eine Literaturstudie durchgeführt und mal so 150 Systeme aus allen Bereichen analysiert, also vom Sport, das ist so eines der klassischen Anwendungen, aber das gibt es auch im Bereich von Wissensmessung beispielsweise oder Motivationsmessung. Wie engagiert bin ich? Ich kann ja mittlerweile auch die Herzrate messen. Oder wir haben zum Beispiel vor Kurzem eine kleine Studie durchgeführt, wo unsere Doktoranden wirklich als Versuchskaninchen sozusagen selbst so eine Smartwatch trugen und wo ihnen im Minutenrhythmus der Puls gemessen wurde und wir das mit allen möglichen Daten jetzt im Sinne auch von Big Data, mit allen möglichen Daten korrelieren können. Uns interessiert dann: Wie kann ich diese ganzen Daten und Erkenntnisse nutzen, um Feedback zu geben an Menschen? Und dieses Feedback, da gibt es verschiedene pädagogische Modelle, wie ich dieses Feedback entwerfen kann, was sich auch an anderen, altbekannten Strukturen anlehnt. Also, ich kann zum Beispiel direktes Feedback geben, wie ich das im Sport kenne: Sie laufen zu schnell! Sie laufen zu langsam! Ich kann auch eher im Nachhinein eine Betrachtung machen. Und eine der Anwendungen, die wir dann jetzt prototypisch entwickelt haben, die wir auch in der Forschung nutzen, ist dann beispielsweise ein Presentation Trainer. Sie kennen vielleicht die Kinect, das ist so eine X-Box, eine Sensorstation, im Prinzip ein Sensor Array. Und dann stellt man sich an den Computer, an den so ein Gerät angeschlossen ist und muss also ... Das Ziel ist: Ich gebe jetzt eine Präsentation. Und dann werden über Sensoren verschiedene Inputs gemessen. Meine Stimme, wie gleichmäßig ist die? Wie schnell ist die? Meine Bewegungen, meine Körperhaltung, meine Gestik, meine Mimik. Und im Prinzip über ein tutorielles System, wenn Sie so wollen, das dahinterliegt, kann ich Feedback bekommen, auch während meiner Präsentation. Also, es ist so ein bisschen eine Vision, und das können Sie in sehr vielen Bereichen anwenden. Wir benutzen das beispielsweise auch jetzt im Special-Needs-Bereich, also in Schulen, wo Bewegung, Körperkoordination ganz wichtig ist, auch mit anderen komplexen Problemstellungen zusammenhängt. Also, das ist sehr breit einsetzbar.

Das hat natürlich weitreichende Implikationen. Eine der spannendsten Entwicklungen in den Niederlanden im Moment, wo wir in diesem Bereich auch mit Schulen zusammenarbeiten, ist im Prinzip Agile Planning, agile Planungsprozesse, in Schulen einzuführen. Also, es hat auch sehr viel mit diesem Tun zu tun und aktiv zu sein, also: Wie schaut das aus? In einer Modellschule, mit der wir zusammenarbeiten, haben sie komplett den Stundenplan abgeschafft, komplett die Fächer abgeschafft. Die Schüler planen Drei-Wochen-Projekte. Die planen ihre Aufgaben, verteilen die untereinander und verfolgen, ob sie diese Aufgaben erfüllen, koppeln die Ergebnisse an diese Aufgaben usw. Sehr spannend, und dann sind wir wieder bei Sensoren oder einer Messung über eine längere Zeit. Die können quasi an jedem Punkt sehen: Wie weit ist unser Projekt? Wer hat was getan? Wer hat was nicht getan? Da wird dann auch in der Gruppe diskutiert. Die Lehrer kriegen dann eine neue Rolle, die coachen die Schüler bei ihrem Projekt, gucken, wo Engpässe, wo Probleme entstehen, helfen denen mit Grundlagenwissen, weisen die darauf hin. Und dadurch verändert sich ganz viel, zum Beispiel auch das Assessment. Sie können dadurch eigentlich weggehen von "Ich muss jetzt am Ende des Curriculums immer einen Test schreiben, um zu gucken: Ist alles verstanden?", sondern ich habe laufend eine Bestandserhebung, und wo sind meine Lerner? Und das finde ich ein sehr schönes System, das das ganze sehr stark öffnet und auch so ein bisschen die Möglichkeit von Technologie zeigt, um diese Messung im Hintergrund eigentlich zu betreiben. Das geht dann so in den Bereich Learning Analytics, basiert auf diese Daten beispielsweise.