Was wäre, wenn sogenannte Bots – also Computerprogramme, die bestimmte Aufgaben automatisiert und selbstständig ausführen – im Chat zwischen den Zeilen herauslesen könnten, wie stressig das Studium gerade für die Studierenden ist. Wenn diese Bots auch therapeutisch fundiert und einfühlsam nachfragen könnten, ob jemand die Hausarbeit gerade nicht erledigt oder einer Klausur fernbleibt, weil er es emotional einfach nicht mehr schafft. Oder wenn sie lernen könnten, vor welchen Fächern, Vorlesungen und Klausuren wie viele Studierende aktuell Angst haben, und diese Infos dann auch den entsprechenden Professoren oder Dozenten spiegeln könnten?
Lernorte
Chatten gegen Lernstress

An dieser Stelle bringt Psychotherapeutin Anne Herrmann-Werner ihr Expertenwissen ein: Wann und wie genau sollte der Bot das Stressthema „ansprechen“? Welche Worte sind bei welchem Thema einfühlsam gewählt, welche schrecken ab? Wie kann ein Bot auch zwischen den Zeilen lesen, wie es dem Studierenden gerade emotional geht? Dabei müsse nicht zwingend im Chatformat funktionieren, was sich im Praxiszimmer bewährt habe, so Anne Herrmann-Werner: „Deshalb loten wir zunächst einmal aus, wie man es sprachlich hinbekommt, einen persönlichen Lernassistenten als Bot zu designen, der einerseits mit den Studierenden ganz entspannt über Alltägliches im Studium chatten und Fragen zum individuellen Studienverlauf beantworten kann, andererseits aber auch mitbekommt, wenn Chatpartner gerade Stresssymptome oder Ängste entwickeln.“
Amir Madany Mamlouk und Herrmann-Werner erhoffen sich so Einsichten in eine Thematik, die wiederum vielen Hochschulvertretern Sorgen bereitet: Viele Studienfächer machen Studierende krank, reihenweise, weil der Lerndruck anscheinend zu hoch ist. Zahlen nennt eine 2015 veröffentlichte Umfrage der Techniker Krankenkasse unter Studierenden: Jeder vierte Studierende soll während des Studiums schon ein Ausmaß an Stress erlebt haben, das nicht mehr mit den gewohnten Ausgleichsstrategien bewältigt werden konnte.
„Selbst die massiv gestressten Studierenden bezeichnen sich auffällig oft als „sehr wissensdurstig".“

Bedenkliche Ergebnisse belegt auch eine Umfrage, die an der Universität zu Lübeck im Wintersemester 2017/18 stattfand, kurz vor der Klausurphase. Die Ergebnisse waren ernüchternd, so Amir Madany Mamlouk: „Nur ein Viertel der befragten Studierenden konnte mit diesem Stresslevel gut umgehen und sozusagen im grünen Bereich agieren. Der Rest war zumindest sehr gestresst.“ Ein Viertel sei sogar mit dem Druck überhaupt nicht mehr klargekommen, was wirklich erschreckend sei.
Was den Wissenschaftler Amir Madany Mamlouk an den Ergebnissen erstaunte: Selbst die massiv gestressten Studierenden bezeichneten sich auffällig oft als „sehr wissensdurstig“. „Wir dachten, die sind alle nur frustriert, weil sie so viel lernen müssen.“ Tatsache sei aber, so Amir Madany Mamlouk weiter, dass den Leuten sehr bewusst sei, dass ein Studium ein hohes Lernpensum bedeute – darauf hätten sie Lust, darauf hätten sie sich auch eingestellt. Die Studienlast zwinge sie aber dennoch im wahrsten Sinne des Wortes in die Knie.
Der Grad der KI im Hintergrund variiert bei all diesen Chatbots deutlich. Viele Hochschulen beschränken sich noch auf den Einsatz sogenannter Scripted Bots, die ohne KI designt sind und im Chat lediglich die Standardantworten auf gängige FAQs abspulen, die so auch auf den Webseiten der Hochschulen stehen. Oft wird über das Angebot an Studiengängen informiert. Wie solche Serviceangebote Schüler ansprechen sollen, die sich für ein Studium interessieren, war Thema im Lehrforschungsprojekt Schorsch an der TU Nürnberg. Auch die deutsche private Hochschule EBC testet einen solchen Service seit Juni im Rahmen einer Masterarbeit.
„Wenn wir wissen, welche Vorlesung gar nicht funktioniert hat, welche Klausur den Leuten richtig Stress macht, dann sollten die entsprechenden Professoren und Dozenten das ruhig erfahren.“

Doch zurück zum Chatbot-Vorhaben in Lübeck und Tübingen. Bis die emotional intelligente Lernassistentin oder Lernfreundin tatsächlich mit Studierenden oder Studieninteressierten chattet, werden noch ein paar Jahre vergehen. Bislang ist alles eher Zukunftsmusik. Auch „Melinda“ ist erst ein Namensentwurf. Eine große Vision hat das Team aber bereits: Was der Chatbot an wichtigen Informationen anvertraut bekommt, soll auch dazu dienen, die Dozierenden über den mentalen Zustand ihrer Studierenden aufzuklären: „Wenn wir wissen, welche Vorlesung gar nicht funktioniert hat, welcher Lernstoff auf Moodle für viele unverständlich war, welche Klausur den Leuten richtig Stress macht, vielleicht auch bloß, weil parallel noch zu viele andere Prüfungen laufen, dann sollten die entsprechenden Professoren und Dozenten das ruhig erfahren“, so Amir Amir Madany Mamlouk. Letztlich gehe es darum, vor allem die sehr schwierigen Studiengänge überhaupt studierbar zu machen.
Informatiker Amir Madany Mamlouk und Oberärztin Herrmann-Werner sehen einen wachsenden Bedarf an solchen digitalen Lehrwerkzeugen – eben weil die Digitalisierung voranschreitet und ganz neue Unterschützungsservices ermöglicht. Zwei Szenarien zeichnen sich für höhere Bildung im digitalen Zeitalter schon ab: Das Angebot an Onlinekursen, in denen Lernende nur wenig bis gar keinen direkten Kontakt zu Dozenten und Tutoren bekommen, wird wachsen. Vorboten sind die Massiv Open Online Courses (MOOCs) – reine Onlineangebote, die teils Tausende Lernende anziehen, aber bloß von einer Handvoll Lernassistenten betreut werden. Was nicht zuletzt daran liegt, dass die MOOCs gewollt kostenfrei sind.
Ein weiteres Szenario betrifft die Präsenzlehre an Hochschulen, wo zukünftig immer mehr Online- beziehungsweise Blended-Learning-Formate den Frontalunterricht ergänzen oder ablösen. Dozenten stellen bei diesen neuen Formaten Lerninhalte digital bereit, damit Studierende sie autonom zu Hause büffeln können. Im Hörsaal wird der Stoff anschließend vertieft und gefestigt, was im Idealfall im persönlichen Austausch mit den Dozierenden passiert, die das Lernen coachen.
Was vielversprechend klingt, hat einen Haken: Studierende schaffen das autonome Lernen zu Hause – oder auch nicht. Wenn Probleme auftauchen, vielleicht deshalb, weil der Lernende Inhalte nicht findet oder am technischen Zugang scheitert, ist er damit auf sich gestellt. Das kann frustrieren, gerade wenn viel Lernstoff in kurzer Zeit bewältigt werden muss und der direkte Kontakt zu Lehrkräften, Tutoren oder Kommilitonen in diesem Moment nicht klappt. Ein Chatbot könnte in solchen Fällen einspringen und zumindest die ersten Wogen glätten, denn er ist immer erreichbar.
Reihenweise abgehängte Studierende im digitalen Zeitalter – trotz wohldurchdachter Lernformate mit hohem Lernpotenzial? Das ist wohl eine Hürde, die zukünftige Lernangebote noch nehmen müssen, glaubt Amir Madany.
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