Das Grauen vor Augen

image
Foto: iStock/kbeis
©

Enthauptungsvideos, von Augenzeugen aufgenommene Terrorattentate, Kriegshandlungen und Katastrophen – auch abscheuliches, ekelerregendes und angsteinflößendes Bildmaterial wird auf Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram gepostet und geteilt. Was weit über die Schmerzgrenze des Betrachters hinausgehen sollte, bekommt zum Teil unfassbar viele Zugriffe. So waren im April auf Facebook zwei Videos öffentlich zugänglich, die zeigen, wie ein Thailänder seine Tochter tötet. Er hatte seine Tat gefilmt, die Clips gepostet und dann Suizid begangen. Facebook löschte die Videos erst 24 Stunden nach deren Veröffentlichung – mit insgesamt 370.000 Abrufen.

Der Fall empörte die Öffentlichkeit. Einige Tage später verkündete Mark Zuckerberg, Facebook wolle bis zum Ende des Jahres 3.000 neue Mitarbeiter einstellen, um von Nutzern gemeldete Inhalte schneller prüfen zu können. Er schrieb in seinem Post von bislang 4.500 Kontrolleuren, die zusammen „Millionen Hinweise pro Woche“ bekämen. Der Facebook-Chef versprach, dass es zukünftig einfacher werden soll, verstörende Inhalte zu melden. Dafür will ebenso das von Noch-Justizminister Heiko Maas eingeführte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) sorgen.

Verstörende Bilderflut

Auch wenn sehr wenige der gemeldeten Inhalte derart verstörend sind wie die Tötungsvideos aus Thailand – Social-Media-Firmen kommen mit dem Löschen von anstößigem, unzumutbarem, menschenverachtendem und rechtsverletzendem Bildmaterial kaum noch hinterher. „Brutal ist es, wenn die Bilderflut schädigt, was sie in vielen Fällen tut. Wir haben Hassmails mit Hassgeschichten über Hasstaten, die in bildliche Sprache gefasst oder von Bildern begleitet sind“, sagt Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Das Bild erzeuge und unterstreiche den Hass.

Immer mehr Experten bemängeln, dass die Öffentlichkeit die Kraft und Wirkung von Bildmaterial erst wenig versteht – und deshalb auch brutale Inhalte zu unbedarft konsumiert und teilt. Hintergrund ist, dass soziale Medien Pull-Medien sind, bei denen Konsumenten mit einer bewussten Entscheidung Inhalte aufrufen müssen. In Push-Medien dagegen, zu denen klassische Medien zählen, ist der Konsument Inhalten sozusagen ausgeliefert: Eine Zeitung schlägt man auf, was dort gezeigt wird, trifft Leser ganz unmittelbar. Über die Brutalität der abgebildeten Texte und Bilder entscheidet deshalb eine Redaktion auf Basis des Presserechts und des Jugendschutzgesetzes.

Bei Facebook, Snapchat, YouTube, Twitter oder Google ist das anders. „Hier muss ich unangenehme, gewalttätige, verstörende und ekelhafte Inhalte suchen, wenn ich sie rezipieren will, oder zumindest anklicken, falls das algorithmische Suchsystem mir urplötzlich so etwas anbieten sollte“, erklärt Matthias Rath, Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Mit Blick auf die junge Generation sei die große pädagogische Frage deshalb: „Was bringt Jugendliche dazu, sich nicht nur solche Inhalte zu holen, sondern sie auch noch zu teilen?“

„Je niedriger der Bildungsstand ist, desto schwieriger ist es für Kinder und Jugendliche, Gewalt wahrzunehmen, die nicht unmittelbar körperlich ist.“

image
Matthias Rath (Foto: privat)
©
Matthias Rath
Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg

Mehrere Studien belegen, dass Gewalt, Hass und auch Pornografie die junge Generation erreichen. Rund 64 Prozent der Schweizer Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren bejahen, dass sie schon brutale Videos auf dem Handy oder Computer geschaut haben, wie die repräsentative JAMES-Studie 2016 der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften mitteilt. Der Anteil lag dabei erwartungsgemäß bei den älteren Jugendlichen höher als bei den jüngeren. 12 Prozent der Befragten gaben an, dass sie brutales Videomaterial auch schon selbst verschickt hatten.

Die deutsche JIM-Studie 2015 des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest nennt ähnliche Zahlen. In beiden Studien blieb offen, mit welcher Intention solche Videos verschickt wurden – um andere zu schockieren oder zu provozieren – oder ob das Teilen einvernehmlich geschah, beispielsweise als Mutprobe oder einfach nur, um Zugang zu solchen Inhalten zu bekommen.

Aus der Gewaltforschung weiß man: Jugendliche tauschen menschenfeindliche und gewalttätige Bilder aus, um Zugehörigkeit, Einfluss und Macht zu bekommen – es ist ein sozialer Akt. Manchmal verstehen sie auch Formen der Gewalt zu wenig, wie Erniedrigung, Mobbing oder Psychoterror. „Unsere Studie zur Gewaltwahrnehmung von Jugendlichen hat festgestellt: Je niedriger der Bildungsstand ist, desto schwieriger ist es für Kinder und Jugendliche, Gewalt wahrzunehmen, die nicht unmittelbar körperlich ist“, erklärt Matthias Rath. Damit gelte auch: Je niedriger der Bildungsstand sei, umso schwieriger falle es ihnen, nicht körperliche Gewalt in den medialen Angeboten wahrzunehmen.

Medienkompetenz in Bezug auf Gewaltdarstellungen fehlt aber längst nicht nur Kindern und Jugendlichen. Das zeigt der Umgang mit Bildern von Terroranschlägen in den vergangenen Jahren. „Viele dieser Bilder wurden von involvierten Augenzeugen aufgenommen und direkt ins Netz gestellt – ohne Filter durch sensibilisierte und geschulte Fotografen oder Redakteure“, sagt Charlotte Klonk, Professorin für Kunst und neue Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autorin der viel beachteten Publikation Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden.

Mehr Medienkompetenz für Jugendliche

Bislang ist zahlreichen Augenzeugen nicht klar, was sie da tun – denn die von ihnen veröffentlichten Bilder der Terrortat sind exakt das, was sich der IS, die Täter und deren Sympathisanten wünschen – eine Tatsache, die auch klassische Medien erst lernen mussten. Mittlerweile werden dort Täter weniger ins Rampenlicht gerückt, Opfer kaum noch gezeigt. „Den Terrorgruppen geht es bei Terrorattentaten nicht um die tatsächliche Anzahl der Toten, sondern um die terrorisierende Wirkung der Bilder“, erklärt Charlotte Klonk. Hierüber gebe es aber scheinbar noch keine hinreichende Reflexion in der Gesellschaft. „Der Unterschied zu anderen Aufnahmen, die man von sich und seinen Erlebnissen in den sozialen Medien hochlädt, ist häufig nicht klar.“ Darüber brauche es dringend Aufklärung, so die Medienexpertin, vor allem unter jungen Menschen.

Viele sehen an dieser Stelle die Schulen in der Verantwortung. „Jugendliche wollen Orientierung. Das hat mit Wertvorstellungen zu tun, jede Kompetenz hat auch eine Haltungskomponente“, sagt Matthias Rath, der Experte für Medienpädagogik. Deshalb müsse Schule Werte vermitteln, tagtäglich im Unterricht und nicht bloß in der Präambel des Schulgesetzes. 

„Wenn das in Familien nicht erfolgt, weil Medien auch den großen Vorteil haben, Kinder stillzustellen, dann sind die Kinder und Jugendlichen nicht nur mit den Inhalten allein. Sie besitzen dann auch keine Kriterien, nach denen sie Inhalte auswählen sollten.“

Mathias Rath

Der Traum, dass Bildungsinstitutionen quasi medienfreie Zonen sein könnten, wo Kinder sich medienfrei austauschten, sei nicht nur sachlich falsch, so Rath: „Es gibt keine medienfreie Form des Menschen, wir sind von jeher mediale Wesen.“ Vielmehr sei der kompetente und verantwortungsvolle Umgang mit digitalen Medien neben Lesen und Schreiben sowie Rechnen die „dritte Kulturtechnik“. In Deutschland sei diese neue Kulturtechnik aber noch bedenklich unterentwickelt, klagt Rath, was internationale Vergleiche zeigten: „Da rangieren wir auf dem Niveau von Kroatien und der Türkei, wie uns die ICILS-Studie schon 2013 vor Augen geführt hat.“ 

Matthias Rath leitet zusammen mit Gudrun Marci-Boehncke, Professorin für Neuere Deutsche Literatur sowie Elementare Vermittlungs- und Aneignungsprozesse an der TU Dortmund, die Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung. Beide betrachten aus einem interdisziplinären Standpunkt heraus die Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Bildungsprozessen. Sie wissen: Einer der wichtigsten Aspekte für die Ausbildung von Medienkompetenz ist Medienkommunikation, also der Austausch über Inhalte. „Wenn das in Familien nicht erfolgt, weil Medien auch den großen Vorteil haben, Kinder stillzustellen, dann sind die Kinder und Jugendlichen nicht nur mit den Inhalten allein. Sie besitzen dann auch keine Kriterien, nach denen sie Inhalte auswählen sollten“, erklärt Matthias Rath.

Viele Lehrkräfte schieben medienpädagogische Unterrichtsstunden noch von sich weg. Aus medienrechtlichen Gründen, hieße es dann oft, was Professorin Gudrun Marci-Boehncke nicht gelten lässt: „Es gibt für die Medienpädagogik bereits genügend rechtssichere Unterrichtsmaterialien, die jede Lehrkraft nutzen kann.“ Quellen seien die Landesmedienanstalten, beispielsweise die Initiative Medienpass NRW, oder die Bundeszentrale für politische Bildung sowie zahlreiche vom Bund geförderte Initiativen wie klicksafe, Seitenstark, Internet-ABC oder das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt. „Leider kommt von diesen Materialien aber noch viel zu wenig in den Klassenzimmern an“, kritisiert die Professorin. Bislang verordneten nur hier und da Schulleiter ein verlässliches Curriculum mit medienpädagogischen Inhalten, wo die Lehrerschaft dann auch handeln müsse.

Wie nötig Aufklärung über die Dimension von gefilmter, realer Gewalt ist, weiß Gudrun Marci-Boehncke aus Gesprächen mit Jugendlichen: Sie wüssten oft nicht, worauf sie sich einließen, weil ihnen die schockierende Wirkung von realer Gewalt fremd sei. „Sie kennen die himbeersafttriefenden Szenen aus Horrorfilmen, wo sie genau wissen, das ist Fiktion.“ Was aber das Anschauen eines Hinrichtungsvideos der Taliban mit ihnen emotional mache, könnten sich selbst Abiturienten, die solche Gewalttaten in der Regel aus der Presse kennen, nicht automatisch vorstellen.

„Wer abstumpft, neigt im gesellschaftlichen Kontext eher dazu, Gewalt zu tolerieren, man hält es für normal, das Mitleidsempfinden nimmt ab.“

image
Ulrike Schmidt (Foto: Cornel Babel)
©
Ulrike Schmidt
Traumaforscherin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München

Wie halten junge Seelen das aus? Darüber ist erst wenig bekannt. „Zu den Auswirkungen von medial dargestellter realer Gewalt auf Kinder und Jugendliche gibt es so gut wie keine Studien“, sagt Ulrike Schmidt, Traumaforscherin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, was sie selbst wundere. Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2016 belege, was sie selbst vermute und schon aus der Traumabehandlung von Erwachsenen kenne: Je mehr Gewalt Jugendliche erlebten, sei das medial als Bild oder im realen Leben, desto mehr stumpften sie ab. Das sei keineswegs gut, beschreibt die Psychiaterin, auch wenn es in der Konfrontation zunächst einmal helfe, das Gesehene zu ertragen: „Wer abstumpft, neigt im gesellschaftlichen Kontext eher dazu, Gewalt zu tolerieren, man hält es für normal, das Mitleidsempfinden nimmt ab.“

Verstörende Bilder würden aus psychologischer Sicht innere Tabus brechen, so Schmidt, alles sei dann scheinbar möglich, plötzlich erlaubt und real: „Wenn unsere Kinder und Jugendlichen solche medialen Inhalte zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufen können, dann ist das für sie schädlich, aber auch für die Gesellschaft insgesamt.“ Sehr problematisch sei zudem, dass schon Kinder diese schockierenden Bilder häufig alleine auf dem Smartphone anschauen. „Früher passierte das noch vor dem Fernseher, wo Eltern oder die Oma danebensaßen und sofort mitfühlend einordnen konnten, was da gerade passiert.“

Tauchen Sie tiefer in unsere Insights-Themen ein.
Zu den Insights