Der Traum, dass Bildungsinstitutionen quasi medienfreie Zonen sein könnten, wo Kinder sich medienfrei austauschten, sei nicht nur sachlich falsch, so Rath: „Es gibt keine medienfreie Form des Menschen, wir sind von jeher mediale Wesen.“ Vielmehr sei der kompetente und verantwortungsvolle Umgang mit digitalen Medien neben Lesen und Schreiben sowie Rechnen die „dritte Kulturtechnik“. In Deutschland sei diese neue Kulturtechnik aber noch bedenklich unterentwickelt, klagt Rath, was internationale Vergleiche zeigten: „Da rangieren wir auf dem Niveau von Kroatien und der Türkei, wie uns die ICILS-Studie schon 2013 vor Augen geführt hat.“
Matthias Rath leitet zusammen mit Gudrun Marci-Boehncke, Professorin für Neuere Deutsche Literatur sowie Elementare Vermittlungs- und Aneignungsprozesse an der TU Dortmund, die Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung. Beide betrachten aus einem interdisziplinären Standpunkt heraus die Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und Bildungsprozessen. Sie wissen: Einer der wichtigsten Aspekte für die Ausbildung von Medienkompetenz ist Medienkommunikation, also der Austausch über Inhalte. „Wenn das in Familien nicht erfolgt, weil Medien auch den großen Vorteil haben, Kinder stillzustellen, dann sind die Kinder und Jugendlichen nicht nur mit den Inhalten allein. Sie besitzen dann auch keine Kriterien, nach denen sie Inhalte auswählen sollten“, erklärt Matthias Rath.
Viele Lehrkräfte schieben medienpädagogische Unterrichtsstunden noch von sich weg. Aus medienrechtlichen Gründen, hieße es dann oft, was Professorin Gudrun Marci-Boehncke nicht gelten lässt: „Es gibt für die Medienpädagogik bereits genügend rechtssichere Unterrichtsmaterialien, die jede Lehrkraft nutzen kann.“ Quellen seien die Landesmedienanstalten, beispielsweise die Initiative Medienpass NRW, oder die Bundeszentrale für politische Bildung sowie zahlreiche vom Bund geförderte Initiativen wie klicksafe, Seitenstark, Internet-ABC oder das Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt. „Leider kommt von diesen Materialien aber noch viel zu wenig in den Klassenzimmern an“, kritisiert die Professorin. Bislang verordneten nur hier und da Schulleiter ein verlässliches Curriculum mit medienpädagogischen Inhalten, wo die Lehrerschaft dann auch handeln müsse.
Wie nötig Aufklärung über die Dimension von gefilmter, realer Gewalt ist, weiß Gudrun Marci-Boehncke aus Gesprächen mit Jugendlichen: Sie wüssten oft nicht, worauf sie sich einließen, weil ihnen die schockierende Wirkung von realer Gewalt fremd sei. „Sie kennen die himbeersafttriefenden Szenen aus Horrorfilmen, wo sie genau wissen, das ist Fiktion.“ Was aber das Anschauen eines Hinrichtungsvideos der Taliban mit ihnen emotional mache, könnten sich selbst Abiturienten, die solche Gewalttaten in der Regel aus der Presse kennen, nicht automatisch vorstellen.