Der Plural von Substantiven ist etwas sehr Einfaches: Er bezeichnet Mehrheiten – aber Mehrheiten wovon? Vielleicht von dem, was ein Substantiv im Singular bedeutet? So sieht es aus, aber so ist es nicht. Denn der Singular kann Einzahl bezeichnen, muss er aber nicht. Mit einem Satz wie Ein Lehrer ist kein fauler Sack haben wir dieselbe Bedeutung wie mit Lehrer sind keine faulen Säcke. Was der Plural kann, das kann der Singular in solchen und anderen Fällen auch, aber was der Singular kann, das kann der Plural meistens nicht. In einem Satz wie Dieser Fußballfan singt besonders schön haben wir nur die Einzahl. Offenbar hat der Plural eine speziellere Bedeutung als der Singular, dessen Bezeichnung insofern irreführend ist, als er Einzahl und Mehrzahl bezeichnen kann.
Die Sprachwissenschaft spricht etwas schwerfällig von der „markierten“ Kategorie Plural und der „unmarkierten“ Kategorie Singular. Man kann auch sagen, der Singular sei unspezifisch, bezeichne das Allgemeine oder den Hintergrund, der Plural das Bild. Das Verhältnis der beiden zueinander ist nicht symmetrisch. Das ist bei allen vergleichbaren Paaren von Kategorien so, etwa im Verhältnis Indikativ/Konjunktiv, Präsens/Präteritum, Maskulinum/Femininum und vielen anderen. Diese für das grammatische Denken grundstürzend wichtige Erkenntnis geht auf den russisch-amerikanischen Sprachwissenschaftler Roman Jakobson zurück. Er entwickelte sie in den 1930er-Jahren am Kasussystem des Russischen. Bei Weitem nicht alle Sprachen haben überhaupt einen Plural, was ja nach dem über den Singular Gesagten ganz verständlich ist.