Design: Die kreative Macht erwacht

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Objekte oder Handlungen aus Science-Fiction-Filmen waren schon oft inspirierende Vorlagen für neue, bahnbrechende Technologien. In „2001: Odyssee im Weltraum“ taucht bereits 1968 eine Tablet-Attrappe auf. Tom Cruises legendäre Gesteninteraktion mit einem futuristischen Computer im Film „Minority Report“ scheint seit 2002 die Forschung zu berührungslosen 3-D-Mensch-Maschine-Interfaces zu prägen, auch an deutschen Fraunhofer-Instituten.

„Alles, was wir über Teleportation wissen, kommt aus Star Trek“, sagt Christian Zöllner, ein Produkt- und Interaktionsdesigner aus Berlin und Mitgründer des Designstudios The Constitute. Wenn es um das Thema gehe, verwiesen selbst Wissenschaftler auf Mainstream-Science-Fiction, damit jeder Betrachter sofort wisse, dass es um abgefahrene Zukunftstechnologie gehe: „Die University of Southern California stellte vor Jahren ein holografisches Display vor und ließ die Technik einen TIE-Fighter visualisieren, ein Raumschiff aus Star Wars.“ Was wie eine Spielerei aussieht, hat einen ernsten Hintergrund: Wissenschaft braucht für ihr Tun Aufmerksamkeit und Akzeptanz.

Science-Fiction beeinflusst Science-Reality – das wissen Insider und das ist auch der Grund, warum Konzerne, Silicon-Valley-Größen oder Regierungen angesagte Futuristen, Designer, Science-Fiction-Autoren oder Blockbuster-Regisseure ins eigene Boot für Innovationen und Visionen, Imagefilme und Hochglanz-Storytelling holen. 

Neu dagegen ist: Kreativen wird nicht nur mehr und mehr bewusst, dass sie über fiktionale Objekte und Szenarien tatsächlich Innovationsfelder, Innovationspolitik und Forschungsprogramme im Jetzt beeinflussen können; sie nabeln sich auch von Unternehmen, Politikern und anderen Auftraggebern ab und entwickeln für die Gesellschaft realistische, mögliche und positive Zukunftsentwürfe. Was bislang hinter verschlossenen Türen stattfand, wird öffentlich. Vor allem aber: Es stehen nicht mehr Markt- und Machtinteressen im Fokus, sondern eine lebenswerte Welt für den Menschen. 

 

Der im Juni gegründete internationale „Science Fiction Advisory Council“ mit 64 visionären Filmemachern und Bestseller-Science-Fiction-Autoren verfolgt genau diese Ziele. Viele der Council-Mitglieder sind brillante Köpfe und Spezialisten für die gesellschaftlich höchst kontrovers diskutierte Robotik und künstliche Intelligenz, wie die „Terminator“- und „Aliens“-Produzentin Gale Anne Hurd. Einige starteten ihre Karriere als Wissenschaftler, wie Science-Fiction-Autor Alastaire Reynolds, der früher als Astrophysiker für die Europäische Weltraumorganisation ESA arbeitete. Andere sind Experten für innovatives Design, wie der Science-Fiction-Schriftsteller Bruce Sterling, ein großer Verfechter der erst wenige Jahre alten, aber sehr angesagten Methode Design-Fiction. Gemeinsam arbeiten sie daran, herauszufinden, wie das Heute aussehen muss, damit das Morgen lebenswert ist – beziehungsweise umgekehrt: wie das Morgen aussehen sollte und was sich daraus in Konsequenz für das Heute ergibt. 

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Wie geht das im Detail? Was ist Design-Fiction?

Eine Antwort auf erstere Frage ist: Die Science-Fiction-Größen könnten sozusagen Pre-Product-Placement für positive Zukunftsszenarien betreiben, der Öffentlichkeit also futuristische Dinge zeigen und auch Lebensweisen erklären und aufzeigen, die man sich wünschen könnte und sollte – und so die Zukunftserwartungen und Grundannahmen von Konsumenten und Bürgern, aber auch von Forschern, Innovatoren und Politikern verändern und erweitern.

Beispiel künstliche Intelligenz und Robotik. Bislang kennen wir beides vor allem als böse, den Menschen vernichtende Technik aus Filmen wie „Terminator“ oder „2001: Odyssee im Weltraum“. Dabei ist die Welt der Science-Fiction-Romane und -Filme auch voller positiver Visionen und Ideen zu künstlicher, ethischer Intelligenz – ein sicherlich horizonterweiternder Schatz, der heutige Innovationsprozesse beflügeln könnte. 

Doch wie kann man als Mensch, als Forscher, als Innovator kognitiv durchdringen, was zukünftig möglich sein könnte? Hatten wir beispielweise das Potenzial des Smartphones für unser Leben, seinen Einfluss auf unser Verhalten erkannt, als wir es noch nicht in der Hand hielten? Wohl kaum. An dieser Stelle kommt Design-Fiction ins Spiel. Diese wenige Jahre junge Methode lässt uns Zukunft „anfassen“.

Beziehungsweise sogar essen, wie das Design-Fiction-Objekt „Falscher Hase“, das die angehende Industriedesignerin Carolin Schulze entwarf. Sie ging von der Tatsache aus, dass die heutige Fleischproduktion den Planeten stark belastet und Insektenfleisch gegenüber Rind-, Schweine- oder Hühnerfleisch eine weitaus bessere Input-Output-Bilanz von Nährstoffen aufzeigt. Die Frage, wie nachhaltiger Fleischkonsum in Zukunft trotz unserer Abneigung gegenüber Insektenfleisch aussehen könnte, beantwortete die Designstudentin mit einer selbst hergestellten Mehlwurmfleischmasse, die sie per 3-D-Drucker in Hasenform gestaltete. Sie garte das Fleischstück, aß davon und ließ es auch andere Personen kosten. Den Produktionsprozess wie auch die Befindlichkeiten und Erfahrungen der Essenden hielt Schulze per Video fest. Das Projekt schlug mediale Wellen und gewann 2015 den vom Umweltbundesamt geförderten Bundespreis Ecodesign in der Kategorie Nachwuchs. 

„„Man tut so, als hätte man ein bestimmtes Problem, das sich ankündigt beziehungsweise schon existiert, wie Umweltverschmutzung oder Klimawandel, in der Zukunft gelöst.““

Christian Zöllner, Designer

Designer Christian Zöllner, der selbst derartige Objekte designt und Design-Fiction an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle lehrt und dort das Projekt „Falscher Hase“ betreute, erklärt das Prinzip: „Man tut so, als hätte man ein bestimmtes Problem, das sich ankündigt beziehungsweise schon existiert, wie Umweltverschmutzung oder Klimawandel, in der Zukunft gelöst.“ Ein dafür als Lösungsansatz plausibles Objekt, das es möglicherweise 2050 geben könnte, werde dann tatsächlich designt und produziert. Sehr wichtig: Diese „Fossilien aus der Zukunft“ werden anschließend zwischen vertrauten Dingen platziert, wo sie irritieren und neues Denken provozieren.

Genau dieser Prozess erweitere die Sichtweise und das Verständnis für das in der Zukunft zu erwartende Problem beziehungsweise die dafür möglichen Lösungsansätze – mache also neue, bislang unerkannte Aspekte davon deutlich, erklärt der Berliner weiter: „Wir Designer denken da in einem Loop und beziehen die durch das Design-Fiction-Objekt entstandenen Erkenntnisse, Diskurse und neuen Fragestellungen wieder auf die Realität. Wir denken also darüber nach, ob aktuelle Forschungsfragen und Innovationsprojekte uns wirklich in die richtige Richtung führen oder ob andere Wege, anderes Neuland sinnvoller erscheinen.“

Mit dem Einrichtungshaus in die Zukunft

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Design-Fiction-Objekte sind übrigens längst nicht nur Dinge oder Ausstellungsstücke, sondern können genauso gut Messestände von fiktiven Start-ups oder Kataloge sein, wie beispielsweise der von Near Future Laboratory designte fiktive Ikea-Katalog voller Produkte aus dem erst entstehenden Internet der Dinge, in dem dann Gegenstände untereinander kommunizieren und programmierte Entscheidungen treffen.

Bislang werden Design-Fiction, das artverwandte spekulative Design, das sich noch weiter auf unbekanntes Terrain vorwagt, und auch die Methode Infrastructure-Fiction, die speziell Infrastrukturen von Technologien und Innovationen in den Blick nimmt, in Deutschland noch verhalten in Innovationsprozessen eingesetzt.

Eines der wenigen Beispiele ist das Projekt „Shaping Future“ vom Fraunhofer Center for Responsible Research and Innovation CeRRI am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Es sammelt Vorstellungen und Wünsche von Bürgern, wie sie 2053 leben wollen. Besonders vielversprechende Ideen setzten vier Designer als spekulative Prototypen um, darunter Johanna Schmeer. Sie lehrt Produktdesign an der Universität der Künste Berlin.

Für „Shaping Future“ entwarf Schmeer vier Exponate, die im Jahr 2053 den menschlichen Körper mit verschiedenen Technologien erweitern könnten, unter dem Titel „Human + Carbon –“. Sie ging der Frage nach, wie es sich anfühlt, mehr und mehr Technologie im und am Körper zu tragen, selbst für elementarste Körperfunktionen wie das Atmen. Hierfür designte Johanna Schmeer den „External Lung Enhancer“, ein in der Nase tragbares Gerät, das aus der Luft Stickoxide filtert, über eine spezielle Beschichtung mit Nanotechnologie und Photokatalyse.

 

Sind Design-Fiction und spekulatives Design relevant für Innovation in Deutschland?

Ja, denkt Johanna Schmeer. Im Blog des Fraunhofer IAO sagt die Designerin in einem Interview, häufig handele es sich bei spekulativem Design um Ideen, die in anderen Designprozessen zu schnell wegen marktwirtschaftlicher Argumente verworfen werden, die aber wichtige Impulse geben könnten. Spekulatives Design verdeutliche darüber hinaus, dass Zukunft nicht statisch sei, so Schmeer. Zukunft könne durch viele Entscheidungen, die heute getroffen werden, beeinflusst und verändert werden, über Gesetze, Produktentwicklungen, Forschungsförderungen.

Christian Zöllner bemängelt den in Deutschland weit verbreiteten Irrglauben, dass das in Konzernen und Institutionen übliche Design-Thinking bereits die Potenziale von Design aufnehme und einbinde: „Das ist bloß Post-its kleben und ein Out-of-the-box-Denken, meistens von Nicht-Designern.“ Zwar sei diese Out-of-the-box-Sichtweise gut, sie beschränke aber das Können von Designern – wenn sie denn überhaupt dabei wären – auf das lediglich Disruptive: „Wir dürfen dann mit unserem Blick von außen mal kurz das verknöcherte Denken in Führungsetagen und Entwicklungslabors aufbrechen, aber unsere eigentliche Kompetenz – das kreative Erforschen möglicher Zukünfte, beispielsweise mittels Design-Fiction – erlaubt uns in den wichtigen deutschen industriellen Forschungskomplexen keiner.“ 

„Wir Designer sollten jetzt analysieren, wer für die städtische Zukunft welche technosozialen Realitäten schafft, wer mit diesen Ideen leben muss, wer über die Infrastruktur, das Kapital und das Wissen verfügt und für wen die stumme Nutzung vorgesehen ist. “

Andreas Unteidig

Wie unterscheiden beziehungsweise ergänzen sich Design-Fiction und Design-Thinking, das in Unternehmen, in der Politik, in Instituten und Start-ups nahezu flächendeckend angewandt wird?

Dieser Frage gingen die Designprofessoren Anthony Dunne und Fiona Raby nach und listeten deutliche Unterschiede in ihrem Buch „Speculative Everything“ auf: Faktisches Design, wie Design-Thinking, sei problemlösend, gebe Antworten, beschäftige sich mit fiktionalen Funktionen und sei Forschung für Design. Design-Fiction dagegen identifiziere Probleme, stelle Fragen, beschäftige sich mit funktionalen Fiktionen und sei Forschung durch Design.

Man könnte auch sagen: Mit Design-Fiction erforschen Designer die Fragen, die Wissenschaftler und Innovatoren mithilfe von Design-Thinking beantworten. Design-Fiction stößt Diskurse in der Öffentlichkeit an, die Innovation für ihren Durchbruch braucht – denn ohne gesellschaftliche Akzeptanz lassen sich weder Produkte noch politische Forschungsinitiativen verkaufen. Also ergänzen sich beide Methoden.

Designforscher Andreas Unteidig sieht Design generell in einer starken Vermittlerrolle. Sehr interessant sei beispielsweise, dass humanoide Technologie oder Avatare ab einem bestimmten Punkt vom Menschen als abstoßend, unsympathisch oder gruselig wahrgenommen werden – nämlich dann, wenn sie zu menschlich wirkten. Neben solchen Aspekten ist Unteidig, der an der Universität der Künste in Berlin am Design Research Lab die Beziehungen zwischen Design, Technologie und Politik untersucht, besonders die Frage wichtig: „Können wir uns in der digitalen Welt souverän bewegen, sie also mitproduzieren und an ihr teilhaben?“

Er nennt als Beispiel das Innovationsfeld Smart City: Bislang erzählten Unternehmen wie Google, Cisco, Microsoft oder IBM die Geschichten der städtischen Zukunft – mit Bildern von lachenden Familien, souveränen Konsumenten und entspannten Berufstätigen. „Wir Designer sollten jetzt analysieren, wer für die städtische Zukunft welche technosozialen Realitäten schafft, wer mit diesen Ideen leben muss, wer über die Infrastruktur, das Kapital und das Wissen verfügt und für wen die stumme Nutzung vorgesehen ist.“

Da die Smart City sicher Myriaden neuer Objekte, Interfaces und Services brauche, sagt Unteidig, könnten Designer auch das Verhältnis von Design, Technologie und Stadt mitentwickeln – falls sie sich die Chance nicht nehmen ließen. „Dank der Digitalisierung erscheint vieles plötzlich wieder gestaltbar und Rahmenbedingungen als das, was sie auch sind: veränderbar“, so Unteidig. Design sei in all dem ein wichtiger Player, weil es für diese Prozesse die Werkzeuge liefern könne: „Auch am 3-D-Drucker kann man die Demokratisierung der Infrastruktur ablesen, die man zum Gestalten und für innovative Ideen braucht.“ Schon heute gebe es im Internet Milliarden frei verfügbarer 3-D-Druckvorlagen in Form von Codes, die jeder weiterschreiben könne. 

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