Die Akademie für Talente

Sommer am See: Unbeschwert geht die Talentsuche am besten
Sommer am See: Unbeschwert geht die Talentsuche am besten (Foto: Daniel Hofer)
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Für die arabischen Schriftzeichen, die vom letzten Workshop noch hinter ihm an der Tafel stehen, hat Hendrik keinen Blick. Er hält einen Zettel in der Hand und spricht betont deutlich in das Mikrofon vor seinem Mund: „In Austin im US-Bundesstaat Texas sind an mehreren Orten Schüsse gefallen.“ Die Radioredakteurin neben ihm drückt auf die Stopptaste am Aufnahmegerät und lobt seine Artikulation: „Das war schon viel besser als gestern!“

Viktor Böhler schaut von der Tür aus zu, er lächelt zufrieden. „Wir wollen, dass jeder hier bei uns an seinen Talenten feilen kann“, sagt er. Der 27-Jährige ist Lehramtsstudent, ein junger Mann mit gegelter Kurzhaarfrisur und Dreitagebart und für zwei Wochen Akademieleiter, Begabungslotse und Ansprechpartner für knapp 50 junge Schatzsucher. „TalentAkademie“ heißt das Angebot, für das die 14- bis 16-Jährigen aus ganz Deutschland an den Rangsdorfer See nach Brandenburg gereist sind, und die Schätze, nach denen sie fahnden, sind die besonderen Talente, Kenntnisse und Fähigkeiten, die jeder von ihnen mitbringt. „Diese arabischen Schriftzeichen“, erklärt Böhler, „sind übrigens aus einem Workshop gestern, den einer der Jungs angeboten hat. Und heute ist jemand dran, der spielt meisterhaft Schach und gibt eine Einführung in sein Hobby.“ 

 

Für die zwei Wochen der TalentAkademie kommen die Jugendlichen, die normalerweise ganz unterschiedliche Schulformen besuchen, in einem Internat zusammen, das über die Sommerferien leersteht. Von vielen Räumen aus geht der Blick auf den angrenzenden See, und wenn Böhler, der die TalentAkademie zusammen mit elf weiteren Teamern betreut, durch die umfunktionierten Klassenzimmer führt, wechseln sich auf seinem Gesicht Stolz und Staunen ab. „Die Jungs und Mädels gehen richtig in ihren Aufgaben auf“, schwärmt er. Genau das ist das Ziel der TalentAkademie: Zwei Wochen lang tauchen die Jugendlichen vormittags gemeinsam in ein Projekt ihrer Wahl ein – wie etwa den Radiojournalismus. Alle Projekte beinhalten sowohl praktische als auch theoretische Elemente, sodass jeder mit seinen individuellen Fähigkeiten und Interessen herausgefordert wird. Und am Nachmittag vermitteln die Teilnehmer ihre Talente, Hobbys oder Themen, die sie beschäftigen, in spontan improvisierten Workshops an andere weiter.

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Foto: Daniel Hofer
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Engagierte Teilnehmer im Medizinprojekt

Stärken und Interessen aufspüren

Hinter der TalentAkademie, die jedes Jahr in den Sommerferien stattfindet, steht Bildung & Begabung, das Talentförderzentrum des Bundes und der Länder. Unterstützt vom Bildungsministerium und vom Stifterverband, hat sich die Talentschmiede das Ziel gesetzt, die Begabungsförderung in Deutschland durch außerschulische Angebote wie die TalentAkademie systemisch zu verändern: „Unabhängig von Schulform, Elternhaus oder kulturellem Hintergrund können Jugendliche in der TalentAkademie ihre individuellen Stärken und Interessen aufspüren und kognitive, soziale und emotionale Kompetenzen weiterentwickeln“, erläutert Ulrike Leikhof, Programmleiterin bei Bildung & Begabung.

Solche Angebote sind für die Jugendlichen ungemein wichtig, darüber sind sich Experten einig. Berufliche Orientierungsveranstaltungen gehören an den meisten Schulen zum festen Programm, wenn sich die Schüler ihrem Abschluss nähern – seien es Berufsmessen in der Aula, Klassenfahrten zur Berufsberatung oder Podiumsgespräche mit Vorbildern, die von ihrem eigenen Werdegang erzählen. Fast alle Hochschulen laden zu Schnuppertagen ein, an denen angehende Abiturienten herausfinden können, ob sie studieren wollen – und wenn ja, welches Fach. Die TalentAkademie ergänzt diese Angebote und setzt bewusst einen Schritt früher an: „Bevor sich Schüler und Schülerinnen über Berufswege Gedanken machen, müssen sie erst mal ihre persönliche Potenziallandkarte kennen und wissen, welche Stärken, Interessen und Talente sie antreiben“, so Leikhof. 

„Wir wollen, dass jeder hier bei uns an seinen Talenten feilen kann. “

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Viktor Böhler (Foto: Daniel Hofer)
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Viktor Böhler
Lehramtsstudent und Akademieleiter

„Und hier sind die Mediziner“, sagt Viktor Böhler und steckt den Kopf in einen anderen Raum. Es geht gerade um die Frage, wie viel Luft wohl in die Lunge hineinpasst. Zwei angehende Ärzte leiten das Projekt. Für eine erste Annäherung haben sie ein Experiment vorbereitet: Vorn auf dem Pult steht ein Wasserbecken, in das ein Strohhalm führt. Darin liegt ein Messbecher, auch er ist mit Wasser gefüllt, und die Schüler pusten aus Leibeskräften in den Strohhalm. Der Messbecher schwimmt auf und ein Mitschüler verkündet das Ergebnis: „Anderthalb Liter!“, ruft er bei Christine, die gerade erkältet ist, Luisa schafft zweieinhalb Liter und Roman sogar drei Liter, sein Kopf wird dabei hochrot. Die beiden Medizinstudenten, die das Projekt leiten, erklären anschließend, was eine Raucherlunge ist und was sich hinter der Lungenkrankheit mit dem Kürzel COPD verbirgt und welche Funktion die Lunge eigentlich hat. Vorn neben der Tafel lehnt derweil ein künstliches Skelett, jemand hat ihm eine Baseballkappe aufgesetzt. Der Knochenbau, auch er wird in den zwei Wochen zur Sprache kommen.

Böhler schließt vorsichtig wieder die Tür und geht weiter in den nächsten Raum. Dort sitzt eine Gruppe zusammen, die sich mit dem Thema Engagement beschäftigt. Gerade plant sie ein fiktives Musikfestival: Welche Versicherungen braucht man dafür und welche Genehmigungen, wie könnte man die Anreise organisieren und wie die Buchung der Bands? Wie lassen sich Besucherzahl, Gesamtkosten und die richtigen Rahmenbedingungen planen? Das Musikfestival ist dabei ein beliebig gewähltes Beispiel. – „Das Grundwissen und die Herangehensweise können die Teilnehmer nachher für viele Projekte nutzen“, erläutert Böhler. Ein viertes Projekt gibt es noch, das ist sein nächstes Ziel auf dem Rundgang: Musikproduktion, der Untertitel verspricht eine Rap-Werkstatt. Geleitet wird sie von zwei jungen Musikern, die gerade über einen Laptop mit großen Lautsprecherboxen einen Ausschnitt aus einem Song vorspielen. Locker wippen die Teilnehmer mit den Köpfen im Rhythmus mit, danach diskutieren sie, welche Instrumente sie gehört haben. Die Fachbegriffe gehen ihnen leicht über die Lippen: Die Bassdrum und die Snare, sind sie sich einig, bilden das Fundament des Beats, darüber wechseln sich Bass, Mundtrompete und Vinylknistern ab.

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Foto: Daniel Hofer
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Angeregte Diskussion bei der Projektplanung

Der Erfolg der TalentAkademie ist ein Beleg dafür, wie groß der Bedarf an Orientierung auf der inneren Landkarte ist: Die Bewerberzahl aus dem gesamten Bundesgebiet ist mehr als viermal so groß wie die Anzahl der Akademieplätze, die Bildung & Begabung derzeit anbieten kann. Für die Bewerbung müssen die Jugendlichen aufschreiben, warum sie gern teilnehmen wollen, hinzu kommt ein Empfehlungsschreiben von einem Lehrer. „Wir wollen hier nicht nur die Schüler mit den sondern neugierige und motivierte Jugendliche aus allen Schulformen finden, die motiviert sind, gemeinsam ihre Potenziale freizulegen“, erklärt Ulrike Leikhof. „Deshalb richtet sich die TalentAkademie an Haupt-, Real- und Gesamtschüler sowie Gymnasiasten der Klassen 8 und 9.“ So vielfältig wie die Biografien und Hintergründe der Teilnehmer seien auch die Einschätzungen der Lehrer: Manche schreiben, dass die Schüler auf dem „platten Land“ keine anderen Fördermöglichkeiten fänden, andere hoffen durch die Akademie auf einen Startschuss für einen talentierten Schüler, der durch eine schwierige Situation zu Hause gebremst werde. „Der Vorteil hier ist, dass die Jugendlichen sich vorher nicht kennen. In der Akademie ist niemand abgestempelt – etwa als Klassenclown oder Streber. Vielmehr sind alle raus aus den Rollen, die sie in ihrer Schule haben.“

Auf der Suche nach dem Traumjob

Die Akademie bietet viel Raum für Sport und Spiel
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Foto: Daniel Hofer
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Oft entstehen so auch Freundschaften: Michel und Patrice etwa haben sich im Musikprojekt kennengelernt – und gleich erkannt, dass sie auf der gleichen Wellenlänge funken. Wenn sie über ihre Zukunft sprechen, wird schnell deutlich, was vielen Jugendlichen Schwierigkeiten bereitet: sich zwischen Neigung und Vernunft zu entscheiden. „Ich will nach der zehnten Klasse abgehen“, erzählt Patrice, der auf einem Gymnasium ist. Neulich hat er auf einer Tour durch Berlin ein knappes Dutzend Tonstudios abgeklappert, um einen Praktikumsplatz zu finden. Am liebsten würde er eine Ausbildung zum Kaufmann für audiovisuelle Medien machen. „Im Bereich Musik zu arbeiten – das ist mein Traum. Und dafür muss man halt etwas tun.“ Michel will einen anderen Weg gehen, auf jeden Fall erst einmal das Abitur und dann vielleicht ein Musikstudium. Er zögert aber noch: „Wenn ich mit meinem Schlagzeuglehrer darüber spreche, erzählt er mir immer, wie schwierig es ist, als Musiker über die Runden zu kommen.“ Worauf also soll er hören, auf die Warnungen oder doch auf die eigene Neigung?

Dass die Teamer der TalentAkademie selbst noch Studierende sind, meistens gerade einmal zehn Jahre älter als die Teilnehmer, gehört zum Konzept: Sie sind Experten in ihrem Fachgebiet und sozialpädagogisch fortgebildet, aber auch einfach näher dran an den Problemen der Jugendlichen. „Ich kann jederzeit mit meinen Eltern über diese Dinge reden“, sagt einer der Teilnehmer in der Mittagspause. „Aber sie sind immer so zielorientiert: ‚Wenn du das machen willst, dann folgt daraus dies!‘ Sie lassen sich gar nicht auf die grundsätzlichen Überlegungen ein, die mich umtreiben.“ 

Dass es auch anders geht, zeigt sich am Nachmittag bei der TalentAkademie. Nach dem Mittagessen wollen die Teamer, dass die Jugendlichen ihre aufgestaute Energie loswerden. Sie trommeln alle auf dem Sportplatz zusammen und erklären die Regeln für ein Experiment: Die Teilnehmer haben ein kleines Feld, das ihr Rückzugsraum ist. Am anderen Ende des Sportplatzes bewachen die Teamer einen Schatz, und jeden, der diesen Schatz greifen will, können sie abschlagen. Sicher sind nur die Jugendlichen, die im Kontakt mit ihrem Rückzugsraum stehen. Eine Viertelstunde laufen alle wild durcheinander, dann merken sie, dass sie nur gemeinsam ans Ziel kommen. Sie bilden eine Menschenkette, über die selbst die entferntesten Teilnehmer mit dem Rückzugsraum in Kontakt stehen. Und auf einmal können sich die Jugendlichen den Schatz angeln. 

Eigentlich ist das als Spiel gedacht. Aber hier in der TalentAkademie wird es zum Symbol – dafür, dass man manchmal allein nicht weiterkommt.

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Foto: Daniel Hofer
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Vielleicht ein Musikstudium? Michel zögert noch
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