Hotspot Lindau: Treffen der Superhirne

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„Für mich wird die Lindauer Nobelpreisträgertagung bestimmt eine außergewöhnliche Erfahrung sein, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Sie ist eine einzigartige Chance, talentierte Wissenschaftler aus der ganzen Welt zu treffen“, sagt Allison Reinsvold. Die 25-jährige Physikerin, die an der University of Notre Dame (Indiana, USA) forscht, ist eine von insgesamt 402 ausgezeichneten Studierenden, Doktoranden und Postdocs unter 35 Jahren, die an der 66. Lindauer Nobelpreisträgertagung am Bodensee teilnehmen. Die Tagung, die seit vielen Jahren vom Stifterverband gefördert wird, ist 2016 der Physik gewidmet. 

Der Nachwuchs, der von allen fünf Kontinenten nach Lindau kommt, begegnet auf der diesjährigen Tagung 30 Nobelpreisträgern – unter ihnen Takaaki Kajita und Arthur B. McDonald, die 2015 gemeinsam den Physik-Nobelpreis für den Nachweis erhielten, dass Neutrinos Masse besitzen, – oder dem Informatiker Vinton Cerf, einem der „Väter des Internets“. „Die Nobelpreisträger treffen auf fachlich besonders qualifizierte und engagierte junge Leute“, betont Wolfgang Lubitz, Vize-Präsident des Kuratoriums für die Tagungen der Nobelpreisträger in Lindau e. V. In einem internationalen Verfahren wurden die jungen Forscher ausgewählt.  

Viele der jungen Forscher sind Frauen

Die meisten der jungen Forscher stammen aus Deutschland (80), den USA (41), China (30) und Indien (30). Neben den europäischen Ländern kommen sie aber auch aus Bangladesch, Pakistan oder Kuba, den Ländern Lateinamerikas, des Nahen Ostens sowie mehreren Staaten Afrikas. Der Frauenanteil beträgt immerhin 31 Prozent – für das Fach Physik auch international betrachtet ein guter Wert. Eine von ihnen ist Allison Reinsvold. Die Teilchenphysikerin forscht im Rahmen des CMS-Konsortiums am Large Hadron Collider (LHC) in Genf. Sie freut sich darauf, über den Tellerrand ihrer Arbeit hinauszublicken und „ein Bild von allem zu bekommen, was in der Physik gerade passiert.“ Neben der Teilchenphysik sind Kosmologie und Quantentechnologie Schwerpunkte der Tagung.

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Teilchenphysikerin Allison Reinsvold

Zweifellos ist der direkte Austausch mit den Nobelpreisträgern für die Ausgewählten ein einzigartiges Erlebnis – das Herzstück jeder Tagung. Fünf Tage mit zahlreichen Vorträgen und Diskussionen bieten viel Raum für Dialog. „Ich freue mich darauf, meine Forschungsideen auf der Tagung diskutieren zu können“, sagt Grant Remmen, Theoretischer Physiker am Caltech (USA). Sogenannte Master Classes oder die Poster Session, die es in diesem Jahr zum ersten Mal gibt, sind besondere Anlässe dafür.

Fotogalerie: Sketches of Science – Nobelpreisträger skizzieren ihre Forschung

Die Tagung bietet zudem einzigartige Möglichkeiten zum Netzwerken. „Dieses Treffen ist eine große Plattform, um unterschiedliche Felder der Physik und Menschen aus aller Welt kennen zu lernen“, so Yu-Ting Chen. Der Taiwaner forscht zur Quantenphysik an der Harvard University (USA). Wer an der Tagung teilgenommen hat, wird als Alumnus zudem Teil des wissenschaftlichen Netzwerkes der Lindauer Nobelpreisträgertagungen. Keine zweite wissenschaftliche Konferenz weltweit bringt Spitzenforscher so unterschiedlicher Herkunft so nachhaltig zusammen. Mit „Mission Education“ verfolgt die Lindauer Nobelpreisträgertagung zudem das Ziel, Begeisterung für Wissenschaft und Forschung zu wecken. Deshalb erhalten jedes Jahr auch Lehrer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Gelegenheit, einen Tag lang an der Lindauer Nobelpreisträgertagung teilzunehmen.

Diese Entwicklung zu einem internationalen Hotspot der Wissenschaft konnten die Initiatoren 1951 kaum vorhersehen. Es waren die Lindauer Ärzte Franz Karl Hein und Gustav Wilhelm Parade, die mit der Idee zu einer Konferenz mit Nobelpreisträgern Lennart Graf Bernadotte af Wisborg (1909-2004) begeisterten. Graf Bernadotte ermöglichte mit seinen guten Beziehungen nach Stockholm, dass sich sieben Medizin-Nobelpreisträger bereit erklärten, an der ersten „Europa-Tagung der Nobelpreisträger“ teilzunehmen. Mehr als 400 Ärzte nutzten die Chance zur Diskussion. Sie war ein wichtiger Schritt für die deutsche Wissenschaft, um nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg wieder in die internationale Wissenschaftsgemeinde zurückzukehren.

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„Diese Tagung prägt jeden, der einmal daran teilgenommen hat, ein Leben lang. Sie schafft außergewöhnliche Momente.”

Physiker Joachim Treusch, Vorsitzender der Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung

Der Erfolg der ersten Zusammenkunft legte den Grundstein dafür, dass die Nobelpreisträgertagung seitdem jährlich ausgerichtet wird. Sie ist abwechselnd der Medizin, der Physik und der Chemie gewidmet. Seit 2000 findet alle fünf Jahre ein interdisziplinäres Treffen aller Nobelpreisdisziplinen statt. Seit 2004 treffen sich alle drei Jahre auch die Wirtschaftswissenschaftler. „Diese Tagung prägt jeden, der einmal daran teilgenommen hat, ein Leben lang. Sie schafft außergewöhnliche Momente“, betont Professor Joachim Treusch, der 1962 als Physikstudent mit Nils Bohr und Werner Heisenberg debattieren konnte, und seit neun Jahren als Vorsitzender der Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung 250 Stipendiaten die Teilnahme ermöglichte.

Mit der Gründung der „Stiftung Lindauer Nobelpreisträgertagungen“ anlässlich der 50. Tagung im Jahr 2000 wurde nicht nur die Finanzierung sichergestellt; die Tagung wird seitdem von dem bereits 1954 gegründeten Kuratorium und der Stiftung auch immer internationaler ausgerichtet. Inzwischen treffen sich in Lindau Jahr für Jahr Menschen aus mehr als 80 Nationen, tauschen Gedanken aus, lernen einander kennen, machen gemeinsame Erfahrungen. Die Kooperation mit akademischen Partnern aus mehr als 65 Ländern ist einer der Eckpfeiler dieser Entwicklung. Für die Auswahl des exzellenten Nachwuchses arbeitet die Lindauer Tagung mit mehr als 200 Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen weltweit zusammen. So schlägt die Nobelpreisträgertagung Brücken zwischen den Generationen, den unterschiedlichen Kulturen und den wissenschaftlichen Traditionen. Das mache diesen Ort und dieses Treffen so einmalig, darin sind sich die Nobelpreisträger einig. 373 von ihnen sind bis heute der Einladung nach Lindau gefolgt.

Neben der Spitzenforschung stehen auch globale Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft im Zentrum der Lindauer Debatten. Schon 1955 warnten Wissenschaftler um den Physiker Otto Hahn vor den Gefahren der militärischen Nutzung von Kernenergie. 2015 unterzeichneten 76 Nobelpreisträger die Mainauer Erklärung zum Klimawandel. Auf dem diesjährigen Treffen loten Nobelpreisträger beispielsweise die Chancen der Quantenphysik als „Zukunftstechnologie des 21. Jahrhunderts“ aus.

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Chemienobelpreisträger Stefan Hell unterschreibt 2015 die Mainauer Erklärung zum Klimawandel
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Treffen der Generationen: 2015 lauschten junge Wissenschaftler dem mittlerweile verstorbenen britischen Chemienobelpreisträger Harold Kroto.

„Das Treffen der Superhirne“ findet in diesem Jahr im Lindauer Stadttheater und nicht in der „Inselhalle“ statt, die gerade renoviert wird. Es kehrt damit dahin zurück, wo Graf Bernadotte und die beiden Lindauer Ärzten 1951 die erste Tagung eröffneten. Selbst zwischen rotem Plüsch und weißem Stuck wird von der gedämpften Atmosphäre vieler Kongresse nichts zu spüren sein. Dunkler Anzug, Aktenkoffer, Fönfrisur, hektische Betriebsamkeit - Fehlanzeige. Die Atmosphäre ist entspannt, die Kleidung leger, der Umgangston freundlich und vergnügt, in den Kaffeepausen erklingen, auch wenn die Konferenzsprache Englisch ist, viele Sprachen. Zum Abschluss reist der Kongress, wie üblich, per Schiff zur Insel Mainau. Dort wird diese Nobelpreisträgertagung mit der Podiumsdiskussion „Zur Zukunft der wissenschaftlichen Bildung“ enden – und die Teilnehmer können die Schönheit der „Blumeninsel“ entdecken. Inspiration für alle Sinne – das bietet Lindau.

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