Herr Lesch, verändert das Corona-Virus das Vertrauen in die Wissenschaft?
Aber ja! Was wir momentan sehen, ist eine Revolution. Es gibt die paar Hanseln, die im Internet irgendeinen Unsinn erzählen, aber alle anderen vertrauen natürlich der institutionalisierten Wissenschaft – dem Robert-Koch-Institut, der Charité, den Laboratorien und all den Kolleginnen und Kollegen, die unterwegs sind und darüber erzählen, was ein Virus ist, was eine Epidemie ist und wie sich das ausbreitet. Vor vier Wochen herrschte wesentlich weniger Vertrauen in die Wissenschaft, und jetzt auf einmal sind alle heilfroh, dass es diese Institutionen gibt – und dass es dort Leute gibt, die ein großes Interesse daran haben, die Zusammenhänge zu erklären und die das auch ganz großartig machen.
Wissenschaftskommunikation
„Diesmal sind nicht die Banken systemrelevant, sondern die Wissenschaften“

„Was wir momentan sehen, ist eine Revolution in der Wissenschaftskommunikation.“
Was können wir von der Spanischen Grippe lernen?
Es gab vor 13 oder 14 Jahren eine riesige Untersuchung darüber, wie die sogenannten „nicht-pharmazeutischen Interventionen“ wirken, wenn man also kein Medikament hat. Daraus geht ganz klar hervor: St. Louis hat praktisch sofort Quarantänemaßnahmen durchgezogen; dort war die Ansteckungs- und entsprechend die Sterberate ganz niedrig. Und in Philadelphia wurde gar nichts gemacht, da gab es große Festivitäten – dort sind die Leute gestorben wie die Fliegen. Diese Parallele macht allen klar – auch denen, die am Anfang ein bisschen skeptisch waren –, dass es schlicht die Dringlichkeit notwendig macht, auf die Wissenschaften zu hören.
Das ist eine Aufgabe für die Wissenschaftskommunikation: Man darf diese Leute nicht unkommentiert zu Wort kommen lassen. Die Bevölkerung weiß nicht, was die seriöse Quelle und was Scharlatanerie ist. Jetzt können wir ein Beispiel geben für gute Wissenschaftskommunikation: ohne Panik zu verursachen immer wieder klar sagen, was der Fall ist, wie man den Problemen begegnen kann und dass wir das auch hinkriegen, wenn wir das zusammen, ruhig, besonnen und mit Augenmaß machen.
„Wenn die Öffentlichkeit die Wissenschaft nicht versteht, dann werden sich die Menschen von der Wissenschaft abwenden.“
Aber ist es in der derzeitigen Situation nicht zuviel verlangt, dass die Virologen schnellstmöglich einen Impfstoff entwickeln, aber gleichzeitig viel über die Epidemie erklären sollen?
Im Allgemeinen sind es die Direktorinnen und Direktoren der jeweiligen Institutionen, die an die Öffentlichkeit gehen. Die Untersuchungen selbst werden ja von Doktoranden, Postdocs und so weiter gemacht, denn da muss ja momentan rund um die Uhr gearbeitet werden. Andererseits muss man sich tatsächlich fragen, welche Anforderungen heutzutage an eine Person gestellt werden, die mal Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler werden will. Wir verlangen eine eierlegende Wollmilchsau, und das kann natürlich überhaupt nicht funktionieren. Wir müssen bei der Ausbildung unserer jungen Kolleginnen und Kollegen darauf achten, früh genug Talente zu identifizieren, die sich für Wissenschaftskommunikation eignen. Nicht jeder hat das Talent, sich in der Öffentlichkeit so auszudrücken, dass das Richtige gesagt wird und dass es so gesagt wird, dass es von der Öffentlichkeit auch tatsächlich verstanden werden kann. Nicht umsonst hat zum Beispiel die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Buch Vita Activa schon 1958 sinngemäß gesagt: „Eine Schlüsselposition für die Stabilität einer technisierten, globalisierten Gesellschaft werden in Zukunft diejenigen haben, die die Ergebnisse der Wissenschaft in die Öffentlichkeit bringen und sie damit verständlich machen. Wenn die Öffentlichkeit die Wissenschaft nicht versteht, dann werden sich die Menschen von der Wissenschaft abwenden.“
Der Virologe Christian Drosten wurde ja in einem regelrechten Shitstorm kritisiert, weil er eine zuvor geäußerte Einschätzung zum Corona-Virus geändert hat …
… und hat auf die Kritik völlig richtig entgegnet, dass er schließlich kein Politiker, sondern ein Wissenschaftler sei, dessen Kenntnisstand sich verändern darf, ja, sogar verändern muss. Eine solche geänderte Lageeinschätzung zu kritisieren, ist fürchterlich – das dürfen wir niemals zulassen. Solche Leute wie Herr Drosten sind systemrelevant, auch wenn das ein blödes Wort ist. Diesmal sind nicht die Banken systemrelevant, sondern diejenigen, die in den Laboratorien die Untersuchungen machen und überlegen, was sich mit den Ergebnissen anfangen lässt.
Was können in der jetzigen Situation alle diejenigen Forscher zur Wissenschaftskommunikation beitragen, die keine Virologen oder Epidemiologen sind?
Nehmen wir mal die Geisteswissenschaften. In dieser Situation könnten sie sich fragen, was wir eigentlich sind: Sind wir nur noch eine von der Ökonomie getriebene Republik, die mit anderen Republiken zusammen Konsum durchführt? Ist es das oder sind wir mehr? Wo bleibt denn nun die europäische Identität? Und alle, die mit Naturwissenschaften zu tun haben, können sich recht leicht kundig machen über das Corona-Virus und in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis informieren und Dinge klarstellen. Ich bin mir sicher: Alle diejenigen, die sich für Intellektuelle halten, haben jetzt die dringende Verpflichtung, sich für die Sache einzusetzen. Und dann kann man eines Tages über die Corona-Krise vielleicht sagen: Damals haben wir endlich angefangen, vernünftige europäische Umwelt-, Klima-, Energie- und Gerechtigkeitspolitik zu machen.
Die Langfassung des Interviews zum Nachhören
