Peter Strohschneider, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hat im Januar in der Süddeutschen Zeitung eine äußerst lesenswerte Analyse der Herausforderungen von Wissenschaft im wissenschaftsskeptischen Klima geliefert. Er macht deutlich, dass die aktuellen Entwicklungen „die liberale Gesellschaft selbst, ihren gelassenen Pluralismus und ihre rationale Streitkultur“ gefährden, und fragt, wie darauf angemessen reagiert werden könne, „wenn das Gebildetsein und die wissenschaftliche Expertise selbst verächtlich sein sollten“. Sein Fazit: „Einfach wie bisher mehr Expertise und mehr Geld für noch mehr Expertise fordern? Das wird nicht helfen. [...] Wissenschaft braucht gesellschaftliches Vertrauen.“
Wissenschaftskommunikation
Wissenschaft darf sich nicht auf Fakten reduzieren

Das Wesen von Wissenschaft: Wahrheitssuche oder begründete Handlungsorientierung?
Wer Wissenschaft ausschließlich für Fakten zuständig erklärt, folgt einem verkürzten naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsverständnis. Dieses geht davon aus, dass es eine außerhalb von uns liegende objektive Wirklichkeit gibt, deren Bausteine und deren Funktionieren mit wissenschaftlichen Methoden immer besser verstanden werden kann. Das ist aber nur ein Bereich von Wissenschaft.
Der Versuch, soziale Realität in all ihrer technologischen, ökonomischen und kulturellen Dynamik analytisch zu erschließen, gerät an inhärente Grenzen: Bei Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften haben wir es mit einer Wissenschaft zu tun, bei der die Theorien über soziales und kulturelles Handeln selber auf die Gesellschaften zurückwirken. Das Bild, das wir uns von Ökonomie machen, prägt unsere ökonomische Wirklichkeit. Die im wissenschaftlichen Diskurs gewonnenen Begriffe von gesellschaftlicher Veränderung wirken auf Gesellschaften zurück. Im aktuell aufgeheizten politischen Klima gilt es, Stimmungen und Affekte zu analysieren und selber präzise Begriffe zu schaffen, die Projektionsqualität (Casale) besitzen, um existierende Stimmungen aufzugreifen und zu wenden. Gerade Interpretations- und Begriffsinterventionen von (öffentlichen) Intellektuellen wirken nicht nur auf einer rationalen Ebene.
„Wissenschaft ist hier in einer erweiterten Rolle gefragt: Sie muss sich mit der Kraft guter Argumente in gesellschaftliche Prozesse einbringen. “

Es geht daher bei einer umfassend verstandenen Wissenschaft nicht nur um eine einfache Abbildung von Wirklichkeit, sondern um eine wissenschaftlich begründete Handlungsorientierung. Eine solche Handlungsorientierung ist eine vieldimensionale Herausforderung. Sie muss sich mit Wertefragen, mit der Begründung wünschenswerter Zukünfte, mit der Rückwirkung wissenschaftlicher Erkenntnis auf die gesellschaftliche Praxis sowie mit der Einbettung und der Rolle von Wissenschaft in gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzen. All dies kann sie mit der Kraft wissenschaftlich begründeter Argumente.
Wissenschaft ist hier in einer erweiterten Rolle gefragt: Sie muss sich mit der Kraft guter Argumente in gesellschaftliche Prozesse einbringen. Sie muss begründete Orientierung in komplexen Situationen liefern und darf dabei Werte- und Machtfragen sowie die affektiven Dimensionen dieser gesellschaftlichen Realität nicht ausblenden. Dahinter steckt letztlich die Idee eines neuen und erweiterten „Vertrages zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).
Die damit verbundenen Konsequenzen reichen weit über eine veränderte Wissenschaftskommunikation hinaus: Sie erfordern,
- dass Wissenschaftler ihre Einbettung in die Gesellschaft verstehen und aktiv annehmen,
- dass sie gesellschaftliche Probleme und deren Rahmung ernst nehmen,
- dass sie mit der Macht und Wertedimension jeder Wissenschaft aktiv umgehen,
- dass sie der Vielfalt der Wissensformen auf Augenhöhe und mit Respekt begegnen und
- dass sie sich als öffentliche Intellektuelle in gesellschaftliche Diskurse einbringen.
Wissenschaft kann und muss eine zentrale Kraft für eine zukunftsfähige und aufgeklärte Gesellschaftsentwicklung bleiben. Ihr wird das aber nur gelingen, wenn sie sich nicht selbst beschränkt, sondern sich in einem erweiterten Selbstverständnis der Gesellschaft öffnet.
