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Ihr könnt nicht die Aufklärung sein, ich will die Aufklärung sein!

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Foto: via unsplash
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Im Dezember 2017 war ich zu einer der vielen Tagungen eingeladen, bei denen es laut Ankündigung nicht „um eine überschießende Technikkritik“ gehen soll und die dieses Versprechen doch nie einhalten. Das Einladungsschreiben hakte die üblichen Punkte ab: Das Internet sei in einer Legitimationskrise, die Hoffnung, die man in seine Möglichkeiten gesetzt habe, einer „nahezu vollständigen Ernüchterung“ gewichen, alternative Fakten, sich verselbstständige Informationsblasen, das Darknet, Hate Speech, das Verschwinden von Diskussionskulturen und so weiter.

Danach ging es — als historisches Beispiel für die „Dialektik zwischen Entgrenzung, Wahrheit und Maß“ — um die Folgen der Erfindung des Buchdrucks: „Als Reaktion auf den grassierenden Zweifel und das erodierende Vertrauen in gesicherte Wissensbestände haben die Wissenschaften einerseits die Prinzipien der Wiederholbarkeit der Experimente und der öffentlichen Nachprüfbarkeit ihrer Resultate (Exoterik) eingeführt sowie andererseits Diderot und d’Alembert die großen Enzyklopädien als gesellschaftliches Aufklärungsprojekt und Wissenskorrektiv etabliert.“

Die von Diderot und d’Alembert zwischen 1751 und 1780 herausgegebene „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ vertritt in dieser Dialektik also den Schritt zurück zu Wahrheit und Maß, weg von den Entgrenzungen und „alternativen Fakten“, die der Buchdruck in die Welt gesetzt hatte.

Grundlage der Sittenverderbnis

Nur kurz zur Auffrischung: Anfang 1752, kurz nach Erscheinen des zweiten Bandes, wurde die Encyclopédie mit der Begründung verboten, Seiner Majestät sei aufgefallen, dass in diesen Bänden Aussagen getroffen würden, die „auf die königliche Autorität zerstörerisch wirkten und den Geist der Unabhängigkeit und Revolte festigten und mit zweideutigen Begriffen die Grundlagen des Irrtums, der Sittenverderbnis, der Irreligion und des Unglaubens förderten“. Nur weil Malesherbes, der Leiter der französischen Zensurbehörde, auf Seiten der Herausgeber stand, konnte die königliche Druckerlaubnis erhalten werden. 1759 untersagte das Parlament den weiteren Verkauf, die Druckerlaubnis wurde widerrufen und die Encyclopédie auf den Index verbotener Bücher der katholischen Kirche gesetzt. Papst Clemens XII. forderte alle katholischen Besitzer bei Strafe der Exkommunikation auf, die Encyclopédie durch einen Geistlichen verbrennen zu lassen. Eine polizeiliche Beschlagnahme aller Manuskripte und Drucke wurde abgewendet, indem Malesherbes (der die Maßnahme selbst angeordnet hatte), Diderot warnte und ihm anbot, das Material am vor der Zensur sichersten Ort zu lagern: in seinem eigenen Haushalt. Die letzten zehn Bände wurden heimlich gedruckt und enthielten zur Sicherheit einen falschen Erscheinungsort in der Schweiz. 

Es fällt mir schwer, die Herausgeber der Encyclopédie in dieser Geschichte als Vertreter der Kräfte zu sehen, die die Ausbreitung schädlicher neuer Lesestoffe wieder einzudämmen versuchen. Und doch glauben die netzkritischen Tagungsveranstalter sie auf der eigenen Seite, ihre Sympathien liegen sicherlich bei Diderot und d’Alembert, nicht bei der französischen Regierung oder der katholischen Kirche, auch wenn es im Verlauf der Tagung viel um die Bewahrung von tradierten Werten ging. „Meist möchten viele Teilnehmer bevorzugt den Part der Räuber einnehmen“, heißt es im Wikipediaeintrag über das Spiel „Räuber und Gendarm“. Mit der Aufklärung verhält es sich offenbar ähnlich.

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Illustration: Irene Sackmann)
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Ein Ticket wurde eröffnet

Wer Kathrin Passigs Texte im Techniktagebuch liest, erfährt von ihren offenbar recht häufigen Reisen, vorzugsweise nach Irland. Dort schlägt sie sich nicht selten mit den Besonderheiten des Mobilfunks herum oder ergründet das kryptische Postleitzahlen- oder nicht vorhandene Hausnummernsystem. Ohnehin sind die Kapriolen der Technik offenbar ihr Herzensthema und charmante Betrachtungen wie z.B. über die hin und wieder zu erlebende Änderung der Wagenreihung bei der Deutschen Bahn lassen unvermittelt an den großen Jaques Tati denken. Doch wo Tati den Tücken des Technischen konsequent und humorvoll-linkisch erlag, findet Kathrin Passig immer einen souveränen Zugang zu den Unergründlichkeiten der postmodernen Technikwelt. Technik - so lernt man bei ihr - ist weder gut oder schlecht: Es kommt nur darauf an, wie man sich ihr nähert. Technik - lehren uns ihre Texte - muss uns nicht immer so schrecklich ängstigen, sie muss uns aber auch nicht besoffen machen. Manchmal ist Technik ärgerlich und oft einfach nur komisch - in jedem Falle aber lohnt es sich, über sie nachzudenken. 

Kathrin Passig bei Twitter

Wer Schattenbibliotheken wie Library Genesis oder Sci-Hub nutzt, beruft sich auf die Aufklärung: Hat nicht die Umgehung der Zensur, das Schmuggeln von Büchern, das heimliche Drucken ohne Genehmigung die internationale Zusammenarbeit der Aufklärer möglich gemacht? Wurden nicht die Ideen der Aufklärung zum großen Teil durch Raubdrucke verbreitet? Wer der Meinung ist, dass es so ja nun nicht geht, beruft sich ebenso darauf: Dass man für das Schreiben von Büchern durchaus Geld verlangen kann, dass es sich um Arbeit handelt und nicht um das unbezahlbare Ergebnis göttlicher Inspiration, das ganze Konzept des „geistigen Eigentums“ sind Ideen aus der Zeit der Aufklärung.

„Wer diese Zeit auf das reduziert, was einer bestimmten modernen Leserschaft zusagt, konstruiert eine „Pop-Aufklärung“, die wenig mit den historischen Gegebenheiten zu tun hat. Solange man sich daran nicht stört, dürfen wir alle tapfere Vertreter aufklärerischen Gedankenguts sein, egal, worum es geht. “

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Foto: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de)
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Kathrin Passig

Wer Orte im Netz anbietet oder nutzt, an denen der freie Austausch von Meinungen groß geschrieben wird, beruft sich auf die Bedeutung des Kaffeehauses für die Aufklärung. Wer den Fortbestand der Demokratie dadurch bedroht sieht, dass gerade solche Orte eine Fülle indiskutabler und falscher Meinungen hervorbringen und verbreiten, kann sich, siehe oben, auf die Aufklärung stützen, die durch Enzyklopädien wieder Ordnung ins buchdruckverursachte Chaos gebracht hat.

Wer Drogen im Darknet kauft, kann darauf verweisen, dass die internationale Drogenpolitik weder von Rationalität geprägt noch evidenzbasiert ist, wie es die Aufklärung fordert. Wer den Drogenkauf im Darknet anprangern möchte, kann darauf verweisen, dass die Gewinne aus Drogenhandel dem Terrorismus zugutekommen, der die aufgeklärten westlichen Gesellschaften bedroht. Darknet, allein der Name schon – nach Enlightenment klingt das jedenfalls nicht.

Die Frage, was Aufklärung ist und wer ihre Unterstützung fürs eigene Team beanspruchen darf, wurde in letzter Zeit in Rezensionen und Tweets zu Steven Pinkers im Februar erschienenem Buch „Enlightenment Now“ intensiv diskutiert. Das gemeinsame Motiv der Kritik an Pinker: „Die Aufklärung“ gibt es nicht, sie hat diverse sehr unterschiedliche Strömungen, die alle nach heutigen Maßstäben unsympathische bis unhaltbare Behauptungen und Forderungen mit sich bringen. Wesentliche Figuren der Aufklärung wollten lediglich die Religion auf eine wissenschaftlichere Grundlage stellen oder hingen okkulten Ideen an. Wer diese Zeit auf das reduziert, was einer bestimmten modernen Leserschaft zusagt, konstruiert eine „Pop-Aufklärung“, die wenig mit den historischen Gegebenheiten zu tun hat. Solange man sich daran nicht stört, dürfen wir alle tapfere Vertreter aufklärerischen Gedankenguts sein, egal, worum es geht. Die Gendarmen, das sind immer die anderen.

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