Sie möchten digitale Technologien nutzen, damit Bürger direkter auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss nehmen können. Bis heute bleibt es aber umstritten, in welchem Ausmaß zum Beispiel Bürgerinitiativen überhaupt zugelassen werden sollten.
Wir beobachten, dass das bürgerliche Engagement in den traditionellen politischen Gremien über viele Jahre hinweg stetig nachgelassen hat. Die Attraktivität politischer Parteien hat sich deutlich verringert und die Zahl der Parteimitglieder ist in den vergangenen 20 Jahren stark zurückgegangen. Viele Menschen engagieren sich mittlerweile verstärkt in zivilgesellschaftlichen Organisationen, und zwar für die Themen, die ihnen persönlich am Herzen liegen. So hat die Mitarbeit in Initiativen und Organisationen wie Amnesty International, Attac oder Campact deutlich zugenommen. Viele dieser Initiativen nutzen bereits die neuen digitalen Möglichkeiten und geben Menschen damit auch die Möglichkeit, sich direkt zu einzelnen politischen Themen zu äußern. Der Wunsch, sich zu engagieren, hat nicht nachgelassen.
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Liquid Democracy

Mitbestimmung und Beteiligung müssen sich nicht auf Wahlen beschränken. Neue Formen der Onlinebeteiligung können den demokratischen Geist wieder stärken, glaubt Jennifer Paetsch vom Verein „Liquid Democracy“.
Es können sich in einer großen Organisation doch nicht regelmäßig Tausende von Menschen treffen, um immer wieder über alles Mögliche zu diskutieren. Wo liegen die Stärken von liquid democracy als Ergänzung zum repräsentativen, parlamentarischen System?
Es gibt durch die digitalen technischen Innovationen jetzt neue Möglichkeiten, in großen Gruppen, zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Themen miteinander in den Diskurs zu treten und diesen aufrechtzuerhalten. Dies eröffnet auch eine neue Chance für die Gestaltung von Prozessen demokratischer Teilhabe. Im normalen politischen System wähle ich einen Politiker oder eine Partei, die mich für alle Themen repräsentiert. Durch neue Softwarelösungen wird es nun aber auch möglich, Prozesse für viele Menschen zu öffnen, sodass sie sich an Themen aktiv beteiligen können, die sie für sich als relevant erachten und bei denen sie Handlungsbedarf sehen. Zusätzlich zur persönlichen Teilnahme und Kollaboration kann mittels delegated voting die eigene Stimme auch delegiert werden. Dabei gebe ich meine Stimme je nach Thema an eine von mir ausgesuchte Person meines Vertrauens weiter. Beim delegated voting entscheide ich also selber, zu welchen Themen ich meine Stimme an jemanden abgebe, dem ich als Experte vertraue, und zu welchen Themen ich lieber selbst abstimme. Dabei muss ich meine Stimme niemals global oder für längere Zeiträume abgeben, sondern nur für das jeweils spezifische Thema und auch nur für einen selbst definierten Zeitraum.
Ich glaube, dass der Austausch und die Auseinandersetzung im Diskurs mit vielen unterschiedlichen Standpunkten insgesamt zu besseren Ergebnissen führen. Der Bürger erhält die Chance, viel häufiger seine Interessen kundzutun und auch auf viel differenziertere Weise themenspezifisch Einfluss zu nehmen. So wird eine Öffnung geschaffen, die es erlaubt, dass jeder seine Expertise einbringen kann, die ja jeder durch seinen Beruf, seine Erfahrungen oder seine persönliche Betroffenheit zu bestimmten Themen für sich entwickelt hat.
Häufig erhalten wir etwas später das Feedback von der jeweiligen Anwenderorganisation, wie der Prozess gelaufen ist, und können diese Erfahrungen in unsere Arbeit einfließen lassen. Wir haben hierzu ein Forschungsnetzwerk gegründet, um die Ideen rund um liquid democracy gemeinsam weiterzuentwickeln und die Projekte wissenschaftlich zu evaluieren. Daraus entstehen neue Empfehlungen und wir versuchen, diese in den Prozess der Softwareentwicklung einfließen zu lassen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und neue theoretische Fragen treffen dann auf neue Lösungen zur Usability. Die Folge ist eine kontinuierliche theoretische und praktische Weiterentwicklung innerhalb eines immer größeren Netzwerkes. Die Idee dahinter ist, dass es sich auch alleine verbreiten wird, eben dadurch, dass die Ideen und die Software jeder nutzen, verändern und verbreiten kann.
Die Idee bei Open-Source-Projekten ist ja, dass alle an einer bestehenden Softwareversion weiterarbeiten und damit ihre eigene Vision umsetzen können. Bei der Entwicklung der freien Software arbeiten wir mit vielen Externen zusammen, die bei verschiedenen Projekten eigenständig mitprogrammieren und die Softwareanwendungen immer weiterentwickeln. Gleichzeitig stellen wir die Infrastruktur für viele Projekte zur Verfügung. Dies ist erst der Anfang einer eigenständigen Entdeckungsreise in die Möglichkeiten, die liquid democracy in Zukunft bieten kann.
Gibt es Erfolgsbeispiele?
Ein Projekt, das wir im Auftrag der Senatsverwaltung Berlin durchgeführt haben, ist der Onlinebeteiligungsprozess für das ehemalige Flughafengelände Tempelhofer Feld. Nach dem Volksentscheid, dass das Tempelhofer Feld nicht bebaut werden soll, hat die Senatsverwaltung die Berliner Bevölkerung gefragt, wie die riesige Fläche nun in Zukunft genutzt werden könnte. Auf der Plattform werden Ideen vorgestellt und diskutiert. Einzelne Gruppen, die auf dem Tempelhofer Feld sehr aktiv sind, zum Beispiel die freien Gärten, haben dort ebenfalls ihre Interessen eingebracht.
Kann digital unterstützte Bürgerbeteiligung die komplexe Arbeit von Bundestag und Regierung unterstützen oder sogar ersetzen?
Unterstützen ja, ersetzen nein. Das Projekt, mit dem wir hier als Verein bekannt geworden sind, war „enquetebeteiligung.de“: Im Auftrag des Deutschen Bundestages waren die Bürger eingeladen, sich direkt an der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages zu beteiligen. Die Enquete-Kommission bestand aus 17 Abgeordneten und 17 festen Sachverständigen und bezog mit dem Modell des 18. Sachverständigen die Bürger kontinuierlich in ihre Arbeit mit ein. Ziel war die Öffnung des gesamten Arbeitsprozesses der Kommission für die Öffentlichkeit, wie es bisher im deutschen Parlamentarismus noch nicht zu erleben war. Zu Beginn konnten Themen für das Arbeitsprogramm der einzelnen Projektgruppen vorgeschlagen werden. Im weiteren Verlauf wurden von den Bürgern konkrete Handlungsempfehlungen erstellt. Wohlgemerkt: Hier handelte es sich um ein spezielles und komplexes politisches Thema, Urheberrechts- und technische Fragen spielten eine wichtige Rolle. Fachlich war dies also eine hohe Hürde, trotzdem waren die Beiträge qualitativ hochwertig. Der ganze Vorgang hat erstmals Prozesse bis in den Bundestag hinein losgetreten und es der Öffentlichkeit ermöglicht, sich an parlamentarischen Prozessen zu beteiligen. Am Ende wurden Vorschläge, die auf der Plattform eingebracht worden waren, teilweise im Wortlaut in die Handlungsempfehlungen der Kommission an den Deutschen Bundestag übernommen. Daran sieht man, dass es zusätzliche Expertise in der Bevölkerung gibt, die die Ergebnisse parlamentarischer Arbeit qualitativ verbessern kann.
Hier handelte es sich erst mal nur um Handlungsempfehlungen.
Ja, aber es war auch ein Konsultationsverfahren, kein Mitbestimmungsverfahren. Generell ist es eine große Herausforderung, Schnittstellen in den etablierten Verfahren und Entscheidungsstrukturen zu finden. Partizipation jedweder Form ist immer eine Kulturfrage der beteiligten Akteure und Organisationen. Hier ist auch der persönliche Gestaltungswille von Amtsinhabern und anderen Repräsentanten der Macht gefragt: An welcher Stelle könnte man bei einem bestehenden politischen Prozess überhaupt eine Schnittstelle schaffen, um diesen nach außen zu öffnen?
„Menschen müssen neue Möglichkeiten erhalten, selber zu entscheiden, zu welchem Thema sie sich in welcher Form einbringen möchten. Partizipation ist aber auch eine Kultur, die erlernt werden muss.“

Bis jetzt hat nur die Piratenpartei mit der Software „Liquid Feedback“ versucht, liquid democracy innerparteilich umzusetzen.
Wir stehen doch erst am Anfang. Die Piraten waren zwar bis jetzt die einzige Partei, die das Konzept für ihre innerparteiliche Meinungsfindung etabliert hatte. Es gibt aber bereits Projekte anderer Parteien, die „Adhocracy“ nutzen. Begleitend zur Initiative „Unser Projekt heißt Zukunft“ führte die SPD-Bundestagsfraktion von Januar bis Mai 2012 auf einer Onlineplattform den „SPD-Zukunftsdialog“ durch. Die Fraktion verfolgte damit das Ziel, gemeinsam mit allen Interessierten zukunftsfähige politische Konzepte zu erarbeiten. Auch die Grünen in Nordrhein-Westfalen nutzen „Adhocracy“. Dies sind alles erste Schritte und Experimente, die zeigen, dass liquid democracy funktionieren kann.
Warum gibt es Widerstand gegen liquid democracy?
Der Einsatz von liquid democracy provoziert natürlich die Frage nach der Veränderung der Machtstrukturen und Prozesse innerhalb einer Organisation. Dadurch kommen immer auch Kulturfragen hoch. Und damit auch Ängste. Es werden doch in fast allen Organisationen immer wieder wichtige Dinge in geschlossenen Räumen diskutiert und dabei sogar (vor-)entschieden. Hier stellt sich häufig die Frage, wie viel die entsprechenden Gremien davon auf eine digitale Beteiligungsplattform zurückspiegeln beziehungsweise abgeben möchten. Um diesen Prozess transparent zu gestalten und Informationsflüsse in beide Richtungen zu ermöglichen, kommt man aber nicht umhin, auch die Struktur der jeweiligen Organisation demokratischer zu gestalten, als sie vielleicht bis jetzt gehalten worden ist. Das sind schwierige Fragen, die natürlich dann auch intern in der jeweiligen Organisation immer wieder für Bewegung sorgen.
Ist die Politik hierzulande schon bereit dafür?
In unserer pluralistischen Gesellschaft entstehen immer vielfältigere Lebensentwürfe und Wertesysteme. Um diesen gerecht werden zu können, müssen Menschen neue Möglichkeiten erhalten, selber zu entscheiden, zu welchem Thema sie sich in welcher Form einbringen möchten. Partizipation ist aber auch eine Kultur, die erlernt werden muss. Die Politik hat den grundlegenden Anspruch auf Bürgerbeteiligung lange Zeit eher in den Hintergrund gerückt, mit der Ausrede, die Welt sei so komplex, dass die Regeln besser nur von Experten entwickelt werden. Das halte ich für einen gravierenden Fehler. Was der Mehrheit der Menschen dann am Ende bleibt, ist das Gefühl, passiv in Strukturen gefangen zu sein. Dann können wir vielleicht noch entscheiden, was wir konsumieren, mehr aber nicht. Viele können aus subjektiver Sicht bestätigen, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens in hierarchischen Strukturen verbracht haben, ohne das Gefühl zu haben, etwas an grundlegenden Bedingungen ändern zu können. Mithilfe von liquid democracy werden Werkzeuge bereitgestellt, die eine gesellschaftliche Mitwirkung im größeren Ausmaß als bislang ermöglichen. Gleichzeitig möchten Bürger an Entscheidungen stärker beteiligt werden. Dies ist doch ein großes Potenzial für die gesamte Gesellschaft.

Im Video
Interview mit Jennifer Paetsch von LiquidDemocracy e.V.
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