Zähe Kämpfer gegen das ungerechte Leben

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Häuserwand in Berlin (Foto: Marion Koch)
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Ein Spielplatz in Berlin-Mitte. Kolja jagt die Rutsche herunter, dicht gefolgt von Max. Beide landen im Sand, rollen sich lachend darin herum, rasen weiter zum Klettergerüst. Sie ziehen sich nach oben, lassen sich fallen. Weiter geht es. Noch scheint es, als hätten die beiden die gleichen Chancen, ein erfolgreiches Leben zu führen, einen guten Job und Freunde zu finden, irgendwann vielleicht eine Familie zu gründen. Die beiden Jungen wohnen im selben Bezirk, gehen in die gleiche Kita, werden vielleicht auch noch dieselbe Schule besuchen. Doch es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sich spätestens danach ihre Wege trennen werden. 

Am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Berlin sitzt die Psychologin Julia Tetzner in ihrem Büro. Fünfter Stock, ein in die Jahre gekommener Altbau im Baustellen- und Partybezirk Friedrichshain. Sie spricht von Risikofaktoren, die das Leben von Kolja weniger erfolgreich verlaufen lassen dürften als das von Max, der ohne große Widrigkeiten aufwächst. Koljas Mutter ist arbeitslos. Sein Vater stirbt bei einem Autounfall, als er zehn ist. Das Geld zu Hause ist knapp. All das lässt erwarten, dass er aus der Bahn geworfen werden wird, schulisch und beruflich nicht sehr weit kommt, mit Stress und Konflikten schlecht umgehen kann, seine Beziehungen deshalb leicht in die Brüche gehen. Wahrscheinlich. „Aber es könnte ganz anders kommen und auch sein Leben könnte eine positive Entwicklung nehmen“, sagt die Wissenschaftlerin. 

Unterschiedliche Startbedingungen im Leben

Psychologin Julia Tetzner erforscht, wie Kinder mit schweren Schicksalsschlägen umgehen.
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Julia Tetzner (Foto: Marion Koch)
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Kolja und Max: Es gibt die beiden Jungen nicht wirklich. Sie stehen hier nur beispielhaft für Kinder, die unterschiedliche Startbedingungen im Leben haben. Julia Tetzner interessiert sich in ihrer Forschung nicht für die Kinder, die wie Max ohne größere existenzielle Krisen aufwachsen: Die 31-Jährige ist Resilienzforscherin. Sie befasst sich mit den Kindern, die wie Kolja mit herben Schicksalsschlägen umgehen müssen. Und dennoch ihren Platz im Leben finden. 

Resilienz, das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „abprallen“. „In der Psychologie ist damit die Fähigkeit gemeint, sich neuen Situationen anzupassen, existenzielle Krisen durchzustehen und im besten Fall sogar gestärkt daraus hervorzugehen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Der Tod eines nahen Angehörigen, Gewalterfahrung, Armut, die Scheidung der Eltern und auch ein Migrationshintergrund bergen das Risiko, dass Kinder und Jugendliche weniger Chancen auf ein erfolgreiches Leben haben, dass es beruflich Probleme gibt, sie psychisch labil werden, im schlimmsten Fall suchtkrank, gewalttätig oder kriminell. Resiliente Kinder aber schaffen es, solche Schicksalsschläge zu überwinden. Julia Tetzner will wissen, warum das so ist und was ihnen dabei hilft, zu emotional stabilen Menschen heranzuwachsen, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen. Welche Eigenschaften, welche Umstände machen sie stark?

Schwere Kindheit, erfolgreiches Leben – das Schema, um das es hier geht, findet sich in Biografien vieler Prominenter. Der Vater von Bill Clinton starb, als seine Mutter mit ihm schwanger war. Der Stiefvater des späteren US-Präsidenten war alkoholkrank und gewalttätig. Oder die gerade bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnete Schauspielerin Diane Kruger: Sie hatte laut Medienberichten einen alkoholkranken Vater. Auch der in armen Verhältnissen groß gewordene Finanzmanager Carsten Maschmeyer ist so ein Fall. Und die drei Boateng-Brüder: Migrationshintergrund, Eltern getrennt, aufgewachsen im sogenannten Problembezirk Wedding. Jérôme und Kevin sind heute Fußballstars, der älteste, George, ein Rapper, der in Versen erzählt, wie er aufgewachsen ist.  

„Was „Startkapital“, Mann? Ich hab nur zwei Hände. / Keiner hat geglaubt, dass ich so weit komme.“

Kommt es zu belastenden Ereignissen in ihrem Leben und machen sie Erfahrungen, die sie als existenzgefährdend empfinden, dann haben auch resiliente Menschen damit zu kämpfen. Auch ihnen falle es schwer, solche Ereignisse zu bewältigen, sie entwickelten Ängste, hätten Selbstzweifel, seien deprimiert, erklärt die Wissenschaftlerin. 

Doch sie verfügen über mehr oder weniger stark ausgeprägte Schutzfaktoren, die die Wirkung der Risikofaktoren abmildern und es ihnen ermöglichen, mit der neuen Situation zu leben und das Beste daraus zu machen. Zum ersten Mal benannt wurden diese Faktoren von der US-amerikanischen Wissenschaftlerin Emmy Werner. Die Psychologin veröffentlichte 1977 eine Langzeitstudie, in der sie die Entwicklung von 700 Kindern beschreibt, die auf der Hawaii-Insel Kauai unter schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Die meisten von ihnen gerieten auf die schiefe Bahn, brachen die Schule ab, wurden kriminell. Doch das galt nicht für alle. Etwa ein Drittel der Kinder war resilient, ging einen anderen Weg, war beruflich erfolgreich, gründete eine Familie.  

Was Kinder stark macht

„Bei der Entwicklung von Resilienz spielt ein Konglomerat von in der Person liegenden Eigenschaften, der Umwelt, in der ein Kind aufwächst, und den Lebensumständen eine Rolle“, sagt Julia Tetzner. Zum Beispiel Intelligenz, erklärt sie. Kinder, die sich Wissen und Kompetenzen leicht aneigneten, hätten mehr Erfolge im Alltag und in der Schule. Das stärke ihr Selbstbewusstsein, das Vertrauen in ihre Selbstwirksamkeit. Sie glaubten daran, dass sie ihr Leben in die Hand nehmen und im eigenen Sinne gestalten könnten. Und das erhöhe auch die Chance, einen Weg aus einer Lebenskrise herauszufinden, sagt die Wissenschaftlerin. Wer seine Bedürfnisse kenne, sie zu regulieren verstehe und angemessen auf Stress reagiere, der werde leichter mit negativen Gefühlen wie Frustration und Schmerz umgehen können. Auch Optimismus, Neugier und ein intrinsisches Interesse, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln, helfen dabei, Schicksalsschläge hinter sich zu lassen und sich neu zu orientieren. Von Rückschlägen ließen sich resiliente Menschen nicht so leicht entmutigen, sagt Julia Tetzner.

„Fels in der Brandung, von Wellen geschliffen / Ich nehm's, wie es ist, mein eigenes Schicksal“

Hilfen von außen sind stabile Beziehungen, Bezugspersonen, Eltern, auch Lehrer oder Mentoren, die das Kind unterstützen und fördern. Haben Kinder Freunde, die sie in positiver Weise beeinflussen, ist das förderlich. Wachsen sie in ökonomisch sicheren Verhältnissen auf, kann ihnen das Stabilität geben. „Solche äußeren Faktoren sind eine zusätzliche Ressource, auf die Kinder zurückgreifen können. Besonders hilfreich sind sie für Kinder, die selbst über weniger resiliente Eigenschaften verfügen“, erklärt die Wissenschaftlerin. 

Bis in die Neunzigerjahre ging die Forschung davon aus, dass resiliente Menschen besondere Eigenschaften und Talente besitzen, die durch die widrigen Umstände, in denen sie aufwachsen, erst zur Entfaltung kommen. Noch 1995 war ein Buch zum Thema mit dem Titel „Superkids of the Ghetto“ (Die Superkids aus dem Ghetto) überschrieben. Heute sehen Forscher das anders. „Resilienz bedarf keiner besonderen Eigenschaften und auch keiner besonderen Lebensverhältnisse. Sie ist ein gewöhnliches Phänomen, eine Anpassungsstrategie an Krisen, zu denen es in jedem Leben kommen kann“, sagt Julia Tetzner.  

Talent stärkt das Selbstbewusstsein

Und doch könne Talent dazu beitragen, resilient zu werden, vermutet die Wissenschaftlerin. Zu Biografien von Prominenten hat sie nicht geforscht, aber es erscheint ihr wie eine logische Kette: „Kann man etwas sehr gut, wird dadurch das Selbstbewusstsein gestärkt, das wesentlich zu Resilienz beiträgt“, sagt sie. Das erkläre vielleicht ein Stück weit, warum aus manchen Kindern mit schlechten Startbedingungen Schauspieler, Fußballer oder Wirtschaftsbosse werden.  

„Pack' mehr Last auf die Schultern drauf / Desto schneller baut sich mein Muskel auf “

Durch das Benennen von Schutzfaktoren ist das Geheimnis der Resilienz allerdings längst nicht gelüftet. „Das Phänomen ist komplex, dahinter verbirgt sich viel mehr als die Summe von Eigenschaften, die Kinder stark machen. Nach wie vor ist vieles eine Blackbox für uns“, sagt Julia Tetzner. Wie beeinflussen Schutzfaktoren Gefühle und Einstellungen? Welche Wechselwirkung haben sie untereinander? Wie individuell sind sie? Wie verändern sich die „Stehaufmännchen-Eigenschaften“ nach einem kritischen Ereignis? Wie wirken sie auf lange Sicht? Sind für verschiedene Lebensbereiche unterschiedliche Schutzfaktoren wirksam? All dem versucht die Wissenschaftlerin auf den Grund zu gehen.

Irgendwo in einer Schule in Deutschland sitzt ein Siebtklässler vor einem Fragebogen und kreuzt an, inwieweit die Aussage auf ihn zutrifft: „Manchmal komme ich mir nutzlos vor.“ Stimmt? Stimmt manchmal? Stimmt selten? Stimmt gar nicht? Er überlegt. Wenn er ehrlich ist, stimmt das manchmal. Auf der Skala von eins bis vier kreuzt er zwei an. Nächste Frage: „Ich halte mich für einen Versager.“ Stimmt gar nicht. Vier. Frage für Frage geht er den Test durch. Ein paar Jahre später landen die Ergebnisse im Softwareprogramm von Julia Tetzner. 

Die Wissenschaftlerin forscht quantitativ, anhand anonymisierter Datensätze. Ihr Job gleicht einer Sisyphusarbeit: Sie analysiert in Zahlen übersetzte Antworten von über 15.000 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Fragen zu ihren Noten, Lebensbedingungen, Einstellungen und Gefühlen, die im Rahmen von Schulleistungstests oder Langzeitstudien generiert wurden. Auf diese Weise findet sie „mittlere Zusammenhänge“, Tendenzen, die sich abzeichnen – und oft für Tausende Fälle gelten, erklärt sie. Das mache das Forschen anhand von Daten für sie spannend und relevant.

Sie gibt einen Befehl in das Suchfeld ihres Programms ein. Der Rechner findet alle Probanden, die ein Risikoerlebnis zu verarbeiten hatten und wie der Siebtklässler zu der Aussage „Ich halte mich für einen Versager“ Stellung bezogen haben. „Stimmt selten“ haben sie im Schnitt angekreuzt. „Der Mittelwert liegt bei 3,19“, erklärt Julia Tetzner. Nächstes Beispiel: Welchen Einfluss hat Optimismus darauf, wie Kinder die Trennung der Eltern bewältigen? Mit ein paar Klicks findet sie heraus, dass die jugendlichen Probanden in der Regel einen „Entwicklungseinbruch“ erlebten, dass sie sich aber auf lange Sicht erholten, die Schulnoten wieder besser wurden, das Selbstwertgefühl wieder stieg. Bei optimistischen Teilnehmern kam es laut statistischem Mittel nicht einmal zu einem Einbruch. 

Schwerpunkt Migrantenkinder

Eineinhalb Jahre lang läuft ihr Projekt noch. So lange bleibt der Wissenschaftlerin Zeit, sich einem neuen Schwerpunkt zu widmen: Kindern mit migrantischen Wurzeln. Sie wird versuchen, herauszufinden, welche äußeren und inneren Faktoren, welche schulischen Gegebenheiten und persönlichen Eigenschaften ihnen helfen, resilient zu werden, es zu guten Leistungen in der Schule und später im Beruf zu bringen, sich wohlzufühlen in ihrem Leben.

Was Kindern wie Kolja helfen würde, sich positiv zu entwickeln? „Kostenfreien Zugang zur Bildung gibt es in Deutschland ja schon“, sagt sie. Außerdem fände sie pädagogische Programme sinnvoll, Mentorenprogramme etwa, in denen Kindern und Jugendlichen Förderer an die Seite gestellt werden. Oder Angebote, in denen sie positives Denken lernen. Das Projekt „Glück als Unterrichtsfach“ gehe in diese Richtung.

Solche Programme konkret auszuarbeiten, ist aber nicht ihr Job. Darum kümmern sich andere. Julia Tetzner schafft mit ihrer Forschung die Grundlage dafür.

„Keine Chance, doch wir haben sie genutzt / Gewachsen auf Beton “

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