Am Anfang stand ein unübersehbares Defizit: In der Bildungspolitik gibt es wenige Zielvorgaben – messbare Indikatoren, an denen sich ablesen lässt, ob sich Schulen und Hochschulen weiterentwickeln und ob sie sich ausreichend schnell verbessern. Das wollte der Stifterverband 2013 ändern und startete seine Bildungsinitiative "Zukunft machen". Über mehrere Jahre hinweg lief die Initiative, die das Jahr 2020 als Zieldatum hatte und jetzt die Grundlage für neue Instrumente bildet.
Vor dem Start der Bildungsinitiative im Jahr 2013 debattierten die Expertinnen und Experten des Stifterverbandes zusammen mit den Mitgliedsunternehmen, welches die wichtigsten Handlungsfelder sind: Wo müssen sich die Schulen und Hochschulen ändern, welchen Entwicklungen müssen sie Rechnung tragen, was werden in Zukunft die großen Themen sein? Nach sorgfältiger Analyse legten sie sich auf sechs Handlungsfelder fest, in denen das Bildungssystem sich am stärksten wandeln muss, damit der Nachwuchs genau jene Kompetenzen mitbekommt, die wichtig sind, um die Zukunft zu gestalten. Zugleich legte der Stifterverband zahlreiche eigene Initiativen auf, um mit Pilotprojekten zu experimentieren und Impulse für das Bildungssystem zu geben. Die Vorgehensweise: Auf jedem der sechs Felder legte der Stifterverband genau fest, welche Ziele im Jahr 2020 erreicht sein sollen. 100 Punkte markieren dieses Ziel und schon während der Laufzeit der Bildungsinitiative analysierten die Experten, ob Fortschritte zu verzeichnen sind und ob das Ziel auch tatsächlich näher rückt.
Die Zwischenergebnisse wurden von Stifterverband und McKinsey jährlich im Hochschul-Bildungs-Report veröffentlicht. Damit gab es nun eine Messung von quantitativen Zielen, die Fachleute zu Beginn der Bildungsinitiative noch vermissten – und jetzt, wo die letzten Daten zum Jahr 2020 vorliegen und im Hochschul-Bildungs-Report analysiert werden, zeichnet sich ab: Ja, es hat sich in allen sechs Handlungsfeldern viel bewegt in den vergangenen Jahren; die Hochschulen in Deutschland sind internationaler, durch lässiger und vielfältiger geworden. Dennoch ist die Gesamtbilanz aber ernüchternd: Von den angestrebten 100 Punkten wurden gerade einmal 45 erreicht.
Zum einen liegt das daran, dass die Pandemie in einigen Feldern die Fortschritte gebremst oder sogar zu Rückschlägen geführt hat. Im Jahr 2020 ist der Index zum ersten Mal überhaupt gesunken, das Pausieren von Austauschprogrammen beispielsweise hat vor allem die Indikatoren im internationalen Bereich negativ beeinflusst. Zum anderen bewegen sich Gesellschaft und Bildungssystem wirklich zu langsam, insbesondere in den Bereichen Chancengerechtigkeit und Diversität.
Nach wie vor nehmen zu wenig Migrantinnen und Migranten ein Studium auf, Frauen studieren zu selten MINT und Männer zu selten auf Grundschul lehramt. Umso wichtiger ist, dass gute Ideen und Anstöße, wie sie der Stifterverband mit seinen einzelnen Initiativen vermitteln will, aufgegriffen werden und in der Fläche ankommen – und zwar in allen der sechs identifizierten Handlungsfelder.
Während die Bildungsinitiative inzwischen ausgelaufen ist, bleiben die Handlungsfelder für den Stifterverband unverändert aktuell: Seine Aktivitäten bündelt er jetzt in der Initiative Future Skills. Darin wird analysiert, welche Kompetenzen bei Arbeitgebern in Zukunft gefragt sein werden. Die Schul- und Hochschulabsolventen sollen Fähigkeiten aufbauen, um erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt zu sein und als Bürgerinnen und Bürger aktiv an der Gesellschaft teilhaben zu können. In verschiedenen Programmen und Netzwerken engagiert sich der Stifterverband dafür, dass genau diese wichtiger werdenden Kompetenzen an Schulen und Hochschulen vermittelt werden.
ICH BIN DAVON ÜBERZEUGT, DASS IN DER VIELFALT EINE GROßE STÄRKE LIEGT – WENN WIR SIE RICHTIG NUTZEN
Die Aufsichtsratsvorsitzende der Firma Henkel, Simone Bagel-Trah, war in Deutschland die erste Frau auf einem solchen Posten. Ein Gespräch über die Bedeutung von Diversity für Unternehmen, über die Schwierigkeiten der chancengerechten Bildung – und darüber, was sie selbst über Brennpunktschulen gelernt hat.
Frau Bagel-Trah, Sie bei Henkel arbeiten ja gerade besonders eng mit dem Stifterverband zusammen …
Das stimmt. Sie denken vermutlich an unsere Diversity-Managerin Sonja Kuch, die derzeit zwei Tage pro Woche beim Stifterverband mitarbeitet und ihre langjährige Erfahrung aus der Industrie
einbringt …
… um das Diversiy-Audit des Stifterverbandes so weiterzuentwickeln, dass es auch in Unternehmen angewendet werden kann. Was erhoffen Sie sich von dieser Kooperation?
Wir möchten eine Brücke schlagen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, um gemeinsam die wichtigen Themen Chancengerechtigkeit und Diversität voranzutreiben. Denn das ist nicht
nur eine Aufgabe der staatlichen Institutionen, sondern wir brauchen auch ein starkes gesellschaftliches und unternehmerisches Engagement. Deshalb freut es mich besonders, dass Frau Kuch ihre langjährige Erfahrung bei Henkel in die Weiterentwicklung des Diversity-Audits einbringen kann.
Das klingt gut – aber wie lässt sich das in der Praxis umsetzen?
Diversity geht immer mit einer integrativen Kultur und Führung einher – und genau hier liegen auch die Herausforderungen. Das Phänomen des unconscious bias, der unbewussten Vorurteile,
ist bekannt und vielfach untersucht. In unserer komplexen Welt laufen viele Denkprozesse automatisiert ab. Unser Gehirn nutzt erlernte Muster, und diese unbewussten Mechanismen beeinflussen unsere Entscheidungsfindung – auch in der Personalauswahl. Ähnlichkeiten schaffen Sympathie, und deshalb gibt es immer noch viel mehr Männer als Frauen in den Vorständen. Führungskräfte, Personalerinnen und Personaler durchlaufen deshalb bei uns gezielte Unconscious-Bias-Trainings.
Wo sehen Sie bei deutschen Unternehmen die größten Herausforderungen bezüglich Chancengerechtigkeit und Diversität?
Oft beschränkt sich die Debatte in Deutschland auf Frauen in Führungspositionen. Wir brauchen aber einen holistischen Ansatz, der alle Dimensionen mit einbezieht. Wichtige Aspekte wie Chancenungleichheit aufgrund von sozialer Herkunft werden zu wenig thematisiert. Vielfalt und Inklusion müssen zudem als strategische Themen erkannt und behandelt werden, das heißt mit konkreten Zielen und Kennzahlen, einer klaren Strategie und den entsprechenden Ressourcen.
Welche Erfahrungen haben Sie bei Henkel mit Flüchtlingen gemacht – ist es gelungen, sie einzubinden?
Der Schlüssel zur Integration ist Bildung. Deshalb unterstützen wir durch die Fritz Henkel Stiftung Bildungsinitiativen, die sich gezielt an Menschen mit Migrationshintergrund richten. Als die Migration von Geflüchteten nach Deutschland vor einigen Jahren einen Höhepunkt erreichte, haben wir in unserem Ausbildungszentrum in Düsseldorf ein Integrationsprogramm gestartet. In Zusammenarbeit mit den Behörden haben wir Berufsorientierung und Hospitationen, Praktika, mehrmonatige Sprachprogramme und Coachings angeboten. Das Programm lief über mehrere Jahre und bis heute unterstützt Henkel die Berufsintegration von Geflüchteten. Die Resonanz ist überaus positiv. Einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer arbeiten mittlerweile fest bei Henkel.
Gibt es weitere Projekte aus dem Bereich der Chancengerechtigkeit, mit denen Sie Erfahrungen gemacht haben?
Wir arbeiten mit der Fritz Henkel Stiftung seit vielen Jahren mit der Initiative Teach First zusammen. Teach First beschäftigt Hochschulabsolventen, die als zusätzliche Lehrkräfte an
sogenannten Brennpunktschulen arbeiten, um gezielt sozial benachteiligte Kinder zu fördern. Insgesamt 840 Fellows konnten die Stiftung und Teach First schon entsenden und damit 100.000
Schulkinder erreichen. Eine oder einen Teach First-Fellow begleite ich als persönliche Mentorin. Es ist beeindruckend zu sehen, was für einen Unterschied die engagierten Kräfte an den Schulen machen können. Oft erleben die Schülerinnen und Schüler das erste Mal in ihrem Leben, dass sich jemand intensiv um sie kümmert und sie begleitet. Das mitzuerleben ist sehr berührend.