Wie Wissenschaft und Politik ko-kreativ zusammenarbeiten

Wissenschaftsbasierte Politikberatung und die
Lektionen aus der COVID-19-Pandemie

Discussion Paper

Wie Wissenschaft und Politik ko-kreativ zusammenarbeiten (Cover)
  • Die COVID-19-Pandemie stellt auch die wissenschaftliche Politikberatung vor Herausforderungen.
  • Die Anforderungen der Politik und die Möglichkeiten der Wissenschaft stehen zum Teil in einem Spannungsverhältnis, zum Beispiel bei Agilität und Differenzierung, bei der Beratung im Mehrebenenmodell und bei der Ressourcenverteilung.
  • Neue Orte des niederschwelligen Austausches und der ko-kreativen wissenschaftlichen Beratung, gerade auch im digitalen Raum, können das bestehende Beratungssystem sinnvoll ergänzen.

Neue Agilität der wissenschaftlichen Politikberatung

Deutschland besitzt eine exzellente Wissenschaftslandschaft sowie erprobte Verfahren und anerkannte Institutionen der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden Politikberatung. Doch der Beginn der COVID-19-Pandemie stellte die politische Entscheidungsfindung und die begleitende wissenschaftsbasierte Politikberatung vor neue Herausforderungen. Da sich Infektionslagen und auch wissenschaftliche Erkenntnisse in hoher Geschwindigkeit veränderten, galt es, politische Maßnahmen kurzfristig und agil an die jeweils geltenden Bedingungen anzupassen. In den bestehenden Strukturen der wissenschaftsbasierten Politikberatung ließen sich in der Folge jedoch Spannungsverhältnisse zwischen den Bedarfen, Selbstverständnissen und Möglichkeiten der einzelnen Akteure erkennen. Daraus ergaben sich Fragen der Legitimität und Effektivität von Beratungsprozessen, auch mit Blick auf die Akzeptanz der aus der Beratung abgeleiteten Maßnahmen in der Bevölkerung. Ziel von Wissenschaft und Politik muss es deshalb sein, aus den Erfahrungen der Pandemie für zukünftige Krisensituationen zu lernen und insbesondere die Reaktionsfähigkeit des Staates in einer Krise zu verbessern. Ein Projekt des Stifterverbandes im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat dazu erste Erkenntnisse aufbereitet. Sie beruhen auf Literaturanalysen, Interviews mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung, sowie zwei Ko-Kreation Workshops mit Stakeholdern aus Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft.

 

Anforderungen an wissenschaftliche Beratung in der Krise

Vier Beobachtungen sind kennzeichnend für den Krisenmodus in der Politikberatung während der Corona-Pandemie und können voraussichtlich auch auf andere Krisen übertragen werden: der hohe und vielschichtige Informationsbedarf, das Auftreten neuer Wissensquellen, die hohe Belastung für alle Beteiligten des Beratungsprozesses und die eingeschränkte Absorptionsfähigkeit des Wissens durch die Politik. Exemplarisch für die Pandemieberatung heißt das:

  • Hoher Informationsbedarf von Politik und Verwaltung auf unterschiedlichen Ebenen
    Um den Bedarf nach schnellen, evidenzbasierten, verständlichen und handlungsorientierten Empfehlungen abdecken zu können, bedurfte es über die bestehenden Beratungsgremien hinaus neuer Ad-hoc-Beratungsformate und der individuellen Beratung von Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Dieser Bedarf konnte mithilfe der vorhandenen, aber bisher weniger in die Politikberatung eingebundenen Expertise insbesondere aus den lebens- und naturwissenschaftlichen Fachbereichen (zum Beispiel Virologie oder Epidemiologie) erfüllt werden. Wenngleich dies die besondere Leistungsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems zeigt und frühzeitig evidenzbasiertes Handeln seitens der Politik ermöglichte, gab es insbesondere auf Arbeitsebene und lokalen politischen Ebenen unerfüllte Beratungsbedarfe.
     
  • Neue Wissensquellen werden genutzt
    Engagierte Einzelpersonen, die sich über die Medien einen Weg in die Beratungslandschaft gesucht haben, brachten zu Beginn der Krise ihre Expertise zur Bekämpfung der Pandemie ein. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten zudem verstärkt (soziale) Medien, um ihr Wissen sowie Handlungsempfehlungen zu teilen. Dadurch kam es während der Pandemie zu einer Demokratisierung des Wissens, in der die Bevölkerung Zugang zu wissenschaftlicher Expertise erhielt und weiterhin erhält. Dieser erleichterte Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen offenbarte jedoch auch eine fehlende Scientific Literacy, also ein Verständnis über wissenschaftliche Arbeitsweisen, in Medien und Gesellschaft. Gleichzeitig wuchs in der Krise die Bedeutung wissenschaftsbasierter Beratung in informellen Runden mit wechselnder Besetzung, die ad hoc und jenseits etablierter Gremien entstanden.
     
  • Hohe Belastung für einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
    Im anhaltenden Krisen- und Pandemiemodus stieg die Belastung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche sich unter anderem als öffentlicher, zeitlicher oder auch finanzieller Druck äußerte. Betroffen sind insbesondere Forschende in der frühen Karrierephase, denen durch den Dialog- und Beratungsaufwand Zeit für die karriererelevanten Publikationsaktivitäten und Fördermittelakquise fehlen. Dabei bestehen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kaum systemische Anreize für ein Engagement in der Politikberatung. Daraus folgt das Risiko, dass wertvolles Wissen zur Krisenbekämpfung nicht vollumfänglich abgerufen werden kann.
     
  • Herausforderungen in der politischen Umsetzung
    Das vielfältig zur Verfügung gestellte Wissen und die erkenntnisaktualisierten Empfehlungen werden im politischen Prozess unterschiedlich gut verarbeitet. Wissenschaftliche Einschätzungen wurden teilweise nicht aufgegriffen und Empfehlungen teilweise nicht umgesetzt. Dies ist auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen, zum Beispiel divergierende politische Interessen und gesellschaftliche Konfliktlinien, aber auch technische oder bürokratische Hürden insbesondere in der Datenerhebung und -verwertung und eine zum Teil fehlende Scientific Literacy in der öffentlichen Verwaltung.

 

Zentrale Herausforderungen in der Krisenberatung

Die COVID-19-Pandemie stellt die politische Entscheidungsfindung und die begleitende wissenschaftsbasierte Politikberatung vor große Herausforderungen, da sich nicht nur Infektionsgeschehen, sondern auch Datenlage und wissenschaftliche Erkenntnisse sowie politische Interventionen in hoher Geschwindigkeit verändern und gegenseitig bedingen. Politik und Wissenschaft haben sich diesen Herausforderungen erfolgreich gestellt. Gleichzeitig gilt es aus der Krise zu lernen und systemische Anpassungen dort vorzunehmen, wo sich noch offene Fragen im Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ergeben haben. Dazu gehören unter anderem Fragen zu der Reaktionsfähigkeit und Qualitätssicherung wissenschaftlicher Expertise, der Transparenz, Legitimität und Perspektivenvielfalt von Beratung, der Zugänglichkeit von Informationen im Mehrebenenmodell von Politik und Verwaltung sowie der Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Politik. Im Zusammenspiel zwischen Politik und Wissenschaft zeigen sich auch die unterschiedlichen Logiken der Sektoren. Beispielhaft dokumentieren das Einschätzungen der Hochschulleitungen, die in einer bundesweiten Befragung des Stifterverbandes mit großer Mehrheit angaben, dass unterschiedliche Kommunikationskulturen die Politikberatung erschweren.

Bewertung von Herausforderungen für das Engagement der Hochschulen in der Politikberatung

Eine Weiterentwicklung oder Ergänzung einer wissenschaftlichen Politikberatung muss die wesentlichen Spannungsverhältnisse und Herausforderungen adressieren, die sich in der Beratungssituation während der Pandemie gezeigt haben. Zu diesen zählen:

  • Beratungsfokus und Interdisziplinarität in der Beratung
    In einer Krise wie der COVID-19-Pandemie wird zunächst dringliches, spezifisches Wissen in der Beratung abgefragt. Doch da es sich bei der Krise um ein komplexes Problem handelt, besteht die Notwendigkeit, das Problem mithilfe einer Vielzahl an Perspektiven innerhalb einer Disziplin sowie einer Breite an verschiedenen Disziplinen zu betrachten.
     
  • Evidenz und Agilität
    Einerseits ist schnelles Handeln in der Pandemie für Entscheidungsträgerinnen und -träger unerlässlich. Andererseits ist Forschung und sich darauf berufende Beratung auch darauf angewiesen, wissenschaftliche Erkenntnisse qualitätszusichern zum Beispiel durch Peer-Review-Verfahren. Diese Prüfungen brauchen Zeit und Ressourcen, woran es in der Krise oft fehlt.
     
  • Differenzierung und Handlungsorientierung
    Insbesondere in Krisensituationen braucht die Politik verlässliche und eindeutige Informationen. Doch Wissenschaft liefert differenzierte Ergebnisse. Auf der einen Seite muss möglichst viel verfügbares Wissen in den Beratungsprozess einfließen, um angemessene Entscheidungen treffen zu können. Auf der anderen Seite birgt dies jedoch die Gefahr eines Information-Overflows. Hinzu kommt: In der Politikberatung kommunizieren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen häufig aus Sicht einer Disziplin, die jeweils eigene Referenzrahmen, Interpretationen gesellschaftlicher Prioritäten und Werteüberzeugungen beinhalten. Eine Abwägung teils widersprüchlicher Empfehlungen unterschiedlicher Disziplinen unternimmt die Wissenschaft in der Regel nicht. Die Politik muss in diesem Raum der Mehrdeutigkeiten und vielfältigen strategischen Optionen Handlungsfähigkeit beweisen.
     
  • Neue Wissensquellen und bestehende Vertrauensverhältnisse
    Politische Entscheidungsträgerinnen und -träger und ihre Institutionen bauen in ihrem Beratungsnetzwerk auf Personen, mit denen sie schon lange zusammenarbeiten und ein vertrauensvolles Verhältnis haben. In neuen Problemlagen wie der Pandemie bedarf es jedoch anderer Expertinnen und Experten, die neues und relevantes Wissen zur Verfügung stellen und beraten können.
     
  • Wissenschaftskarriere und Beratungstätigkeit
    Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind motiviert, sich in Beratungsprozesse einzubringen, allerdings erfordert dies vor allem zeitliche Kapazitäten. Diese Kapazitäten fehlen wiederum, um die eigene Karriere in der Forschung voranzutreiben. Ohne Anreize sich in der wissenschaftsbasierten Politikberatung zu engagieren, werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler politischen Entscheiderinnen und Entscheidern nicht auf Dauer zur Verfügung stehen.
     
  • Transparenz und Persönlichkeitsschutz
    Die Öffentlichkeit fordert mehr Transparenz in der wissenschaftlichen Politikberatung, beispielsweise in der Besetzung von Beratungsgremien. Demgegenüber steht das Interesse der Beraterinnen und Berater nicht zur öffentlichen Person zu werden, die gegebenenfalls für politische Entscheidungen einstehen muss und dafür auch persönlichen Anfeindungen ausgesetzt ist.
     
  • Kompetenz die richtigen Fragen zu stellen
    In komplexen und interdependenten (Krisen-)Situationen sind die zu lösenden Herausforderungen oft nicht eindeutig zu bestimmen. Politik und Wissenschaft müssen erst ein gemeinsames Verständnis der Herausforderungen finden, Prioritäten bei der Bearbeitung offener Fragen festlegen und unbekanntes Nichtwissen identifizieren.
     
  • Gestaltung von Strukturen zur Vernetzung und Bündelung von Wissen
    Um in einer Krisensituation schnell handeln zu können, muss es einen vordefinierten Prozess geben, wie Personen aus Ministerien schnell an Expertise aus der Wissenschaft kommen, um Empfehlungen für die politischen Entscheiderinnen und Entscheider vorzubereiten. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen diesen Prozess kennen, um im Krisenfall sofort zu wissen, an welche Stelle sie sich wenden können, um ihr Wissen in den Politikberatungsprozess einzuspeisen.
     
  • Kommunikation und Arbeitsteilung im Mehrebenensystem
    Das Mehrebenensystem in der Politik trägt dazu bei, in der Bekämpfung der Pandemie lokal differenzierte und damit angemessene Entscheidungen zu treffen. Auf der anderen Seite gestalten sich die Bildung gemeinsamer Positionen und der Informationsaustausch von der Bundes- über die Landesebene bis hinunter auf die kommunale Ebene als schwierig. Vor dem Hintergrund von begrenzten Kapazitäten in der Beratungsleistung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie der Funktion der Kommunen als direkter Ansprechpartner der Bürgerinnen und Bürger gilt es, Informationen besser und schneller weiterzugeben.
     
  • Transparenz
    In der COVID-19-Pandemie wurde die teilweise als intransparent empfundene Auswahl von Beraterinnen und Beratern öffentlich diskutiert. Die Auswahl von beratenden Personen hat mithin Einfluss auf das zu erwartende Beratungsergebnis. Durch eine ausgewogene und transparentere Auswahl von Beraterinnen und Beratern steigt das Vertrauen der Bevölkerung in das Beratungssystem und die getroffenen Entscheidungen.

 

Lernen aus der Krise

Die unterschiedlichen Herausforderungen zeigen an, welche Bedarfe durch eine Weiterentwicklung oder Ergänzungen im bestehenden System der wissenschaftlichen Politikberatung adressiert werden müssen. Keine Lösung wird dabei allen Fragen gerecht werden. In den ko-kreativen Workshops wurden die folgenden vier Ideenprototypen entwickelt. Sie skizzieren, wie einige der zentralen Herausforderungen bei Interdisziplinarität, Agilität, Differenzierung und Arbeitsteilung im Mehrebenensystem stärkere Berücksichtigung finden können.

  • Krisen-Informations-Dashboard
    Zur Beschleunigung von konzisen Informationsflüssen im Mehrebenensystem sollen der öffentlichen Verwaltung mithilfe einer nutzerfreundlichen, personalisierbaren Plattform zentral relevante Daten und Handlungsempfehlungen in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden.
     
  • Rapid Advice Request
    Das Instrument ermöglicht es der ministeriellen Fachebene, schnell den aktuellen Forschungsstand zu einem spezifischen Thema einzuholen. Auf dieser Basis sollen politische Entscheidungen evidenzbasiert vorbereitet werden. Die Zusammenstellung des aktuellen Forschungsstandes übernehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Prozess von der Veröffentlichung der Fragestellung über die Vergabe bis hin zur Zusammenstellung des Forschungsstandes soll einen vorher definierten, kurzfristigen Zeitrahmen nicht übersteigen.
     
  • Crowdsourcing-Plattform
    Die Online-Plattform bietet der öffentlichen Verwaltung einen einfachen und schnellen Zugang zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie zu wissenschaftlicher Expertise. Sie vernetzt Wissensträgerinnen und -träger aus Wissenschaft, Verwaltung und Politik und ermöglicht das Generieren einer großen und vielfältigen Zahl von Ideen und Lösungsansätzen zur Bewältigung spezifischer Problem- und Fragestellungen.
     
  • Science Policy Hub
    Der Science Policy Hub ist eine übergeordnete, agile Einheit zur Ko-Produktion von Wissen, Strategien und Maßnahmen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Verwaltung. Es liefert schnelle, robuste und wissenschaftsbasierte Handlungsoptionen für die öffentliche Verwaltung in Krisensituationen. Dabei bietet der Hub eine Vielzahl von Leistungen, welche nach dem Baukastenprinzip genutzt werden können.

 

Fazit

Die wissenschaftliche Politikberatung hat Deutschlands Politik wichtige Leitplanken gegeben. Die Pandemiesituation, die im Grunde eine Kombination von Krisen war – gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Natur – hat aber auch gezeigt, dass das bestehende Beratungssystem an Grenzen stößt. Der hohe Bedarf an Informationen und Empfehlungen auf den verschiedenen Ebenen von Politik und Verwaltung konnte nicht immer ausreichend gedeckt werden. Für eine nicht nur reaktionsschnelle, sondern auch breiter zugängliche, agile und interdisziplinäre Politikberatung in solchen Krisen braucht es mehr dauerhaft bestehende Räume des Austausches und der ko-kreativen Verständigung zwischen Wissenschaft und Politik, in analogen, aber auch zunehmend in digitalen Formaten.

 

Im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Projektteams "Forschung und Beratung zur Krisenbewältigung COVID-19-Pandemie" wurden die hier dargestellten Ergebnisse aus dem Projekt "Wissenschaftsbasierte Politikberatung in Krisenzeiten am Beispiel der Pandemielage" abgleitet. Der Stifterverband hat dieses Projekt durchgeführt. Dafür wurden wissenschaftliche Literatur und Medienberichterstattung analysiert, leitfadengestützte Interviews mit Personen aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung geführt und zwei Ko-Design-Workshops durchgeführt.

Mehr Info zum Projekt

Die Autorinnen und Autoren

Marian Burk
Andrea Frank
Pascal Hetze
Judith Koeritz
Kaja Niemann
Nick Wagner

Das Paper wurde im November 2021 veröffentlicht.