Wissenschafts­basierte Politik­beratung in Krisen­situationen am Beispiel einer Pandemie­lage

Der Stifterverband wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit der Durchführung einer Exploration und Workshop-Serie zur wissenschaftlichen Politikberatung beauftragt, um Hemmnisse aktueller Beratungsstrukturen anhand der COVID-19-Pandemie aus Sicht der Akteure zu analysieren und Handlungsbedarfe abzuleiten. Auf dieser Seite werden die zentralen Erkenntnisse präsentiert.

Die COVID-19-Pandemie verdeutlicht die Bedeutung wissenschaftlicher Beratungsstrukturen für politische Entscheidungsprozesse. Entscheidungsträger sind gefordert, politische Maßnahmen kurzfristig an die jeweilige Krisenlage anzupassen. Auf Bundes- und Länderebene existieren verschiedene Beratungsgremien zu unterschiedlichen Politikfeldern. Hinzu kommen wissenschaftliche und wissenschaftsnahe Organisationen, die sich in Selbstverständnis oder im Auftrag in der wissenschaftlichen Politikberatung engagieren. Das Gefüge aus verschiedenen Akteuren muss – insbesondere in Krisensituationen – sehr schnell, innovativ und interdisziplinär agieren, um wirksame Beiträge für Herausforderungen zu liefern, für die es bisher so gut wie keine Erfahrungswerte oder gesicherte Analysen gibt.

Dieses Projekt war eines von drei vom BMBF geförderten Projekten zum Thema "Forschung und Beratung zur Krisenbewältigung COVID-19-Pandemie". Informationen zu den anderen Projekten finden Sie auf der Website des Hans-Bredow-Instituts und der Universität Potsdam.

Projektzeitraum: Dezember 2020 bis Dezember 2021. Im September 2021 fand eine öffentliche Präsentation der Ergebnisse mit dem Auftraggeber statt. Die Ergebnispublikation wurde im November 2021 veröffentlicht.

Methodik

Das Projekt zur wissenschaftsbasierten Politikberatung in Krisensituationen am Beispiel einer Pandemielage bestand aus einer Explorationsphase und einer Phase der ko-kreativen Entwicklung von Lösungsszenarien. 

Phase 1: Exploration
Die Explorationsphase hatte das Ziel, unterschiedliche Perspektiven zu erfassen und aussagekräftige Informationen und relevante Erkenntnisse für die Co-Design-Phase zu sammeln. In der ersten Phase wurden drei Zugänge zur Erfassung der gegenwärtigen wissenschaftsbasierten Politikberatungsstruktur gewählt. Dazu zählen: 
●  Analyse der Fachliteratur
●  Analyse der Medienberichterstattung
●  eigene Durchführung von 16 leitfadengestützten Interviews mit je acht Personen aus Politik und Verwaltung sowie mit Personen aus der Wissenschaft. 

Folgende Perspektiven wurden dabei vertreten: 
Wissenschaft:
●  Aktive Beratung in der Pandemie
●  Expertinnen und Experten für das Beratungssystem
●  Expertinnen und Experten für Krisen

Politik:
●  Politische Steuerung Krise
●  Politische Steuerung  Wissenschaftssystem
●  Politische Umsetzung lokal
 

Phase 2: Lösungsszenarien
In der zweiten Phase wurden zwei Co-Design-Workshops durchgeführt. Sie dienten dazu, die in den Interviews skizzierten zentralen Herausforderungen zu überprüfen, sowie erste konkrete Lösungsansätze zu entwickeln. 

In den Workshops wurden die Ergebnisse der vorausgegangenen Explorationsphase diskutiert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Workshops bildeten ein sogenanntes Designteam, dessen Aufgabe es war, mittels eines systematischen Innovationsprozesses Ansätze für die Weiterentwicklung von Beratungsstrukturen und -prozessen zu erarbeiten. Das Designteam bestand aus folgenden Personengruppen:
●  Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Bundesministerien
●  Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
●  Expertinnen und Experten aus verschiedenen Themengebieten (Agilität, Digitalisierung/Zivilgesellschaft, Lean Management, Daten, (Krisen-)Kommunikation, Verwaltung/Governance und Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft)

Für die inhaltliche Vorbereitung der Workshops wurden die zentralen Erkenntnisse aus der Desktop Recherche und den Interviews aufbereitet und Personas erstellt. 

Der eintägige Workshop hatte folgende Ziele: 
●  Challenges und Team kennenlernen: Austausch von Sichtweisen, Teilen von Wissensständen, gemeinsames Verständnis der Aufgabe sicherstellen 
●  Problemdefinition und Explorationsergebnisse erfassen: Prüfung der Erkenntnisse, Austausch von Sichtweisen, Teilen von Wissensständen, Definition eines gemeinsamen Problemverständnisses
●  Bewertung erster in der Exploration identifizierter Lösungsansätze und Erarbeitung weiterer Lösungsansätzen im Team

Die Ergebnisse des ersten Workshops wurden durch das Projektteam verdichtet und in vier Lösungsansätze für modellhafte Konzepte wissenschaftsbasierter Politikberatung überführt. 

Der zweitägige Workshop hatte zum Ziel:
●  Ideen und Prototypen im Co-Design entwickeln: Mithilfe von systematischen, kreativen Prozessen erforschten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Probleme und Möglichkeiten, entwickelten neue Ideen und visualisierten, testeten und entwarfen neue Lösungen.
●  Testen der Prototypen: Feedback zu den Lösungsansätzen wurde in einer Testsituation mit potenziellen Nutzerinnen und Nutzern der Lösungsansätze eingeholt und anschließend eingearbeitet.

Zentrale Beobachtungen

Während der COVID-19-Pandemie kommt es zu einem wachsenden Beratungsbedarf in Politik und Verwaltung. Um diesen Bedarf nach schnellen, evidenzbasierten, verständlichen und handlungsorientierten Empfehlungen abdecken zu können, bedurfte es über die bestehenden Beratungsgremien hinaus neuer Ad-hoc-Beratungsformate und der individuellen Beratung von Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. 

Dieser Bedarf konnte mithilfe der Expertise neuer Wissensträgerinnen und -träger insbesondere aus den lebens- und naturwissenschaftlichen Fachbereichen (zum Beispiel Virologie oder Epidemiologie) erfüllt werden. Dabei zeigte sich die besondere Leistungsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems, welches frühzeitig evidenzbasiertes Handeln seitens der Politik ermöglichte. 

Dies ist auch auf engagierte Einzelpersonen zurückzuführen, die sich über die Medien aktiv einen Weg in die Beratungslandschaft gesucht haben, um so ihre Expertise zur Bekämpfung der Pandemie bereitzustellen. 

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben zudem verstärkt (soziale) Medien genutzt, um ihr Wissen sowie Handlungsempfehlungen zu teilen. Dadurch kam es während der Pandemie zu einer Demokratisierung des Wissens, in der die Bevölkerung Zugang zu wissenschaftlicher Expertise erhielt und weiterhin erhält. Dieser erleichterte Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen offenbarte jedoch auch eine fehlende Scientific Literacy in Medien und Gesellschaft. 

Im anhaltenden Krisen- und Pandemiemodus steigt die Belastung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, welche sich unter anderem als öffentlicher, zeitlicher oder auch finanzieller Druck äußert. So fehlen die zeitlichen Ressourcen zur Akquise von Fördermitteln oder Folgebeschäftigungen. Dabei bestehen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kaum systemische Anreize für ein Engagement in der Politikberatung. Es besteht das Risiko, dass wertvolles Wissen zur Krisenbekämpfung nicht vollumfänglich abgerufen wird. Um langfristig von der Expertise der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu profitieren, wird die Etablierung entsprechender Anreiz- und Anerkennungsmechanismen in der Wissenschaft empfohlen. 

Das vielfältig zur Verfügung gestellte Wissen und die immer wieder durch neue Erkenntnisse angepassten Empfehlungen werden im politischen Prozess unterschiedlich gut verarbeitet. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden teilweise nicht aufgegriffen und Empfehlungen teilweise nicht umgesetzt. Dies ist auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen: 
●  divergierende politische Interessen
●  bürokratische Hürden (beispielsweise Erfassung und Weitergabe von Infektionszahlen oder Organisation der COVID-19-Impfungen)
●  besondere Herausforderungen, die mit der COVID-19-Pandemie als "Wicked Problem" einhergehen
●  fehlende Scientific Literacy
 

Lernen aus der Krise
Aus den Interviews ergaben sich insbesondere zwei zentrale Forderungen für eine bessere systemische Krisenbewältigung:
  
1. Um zukünftig besser auf Krisen wie die COVID-19-Pandemie reagieren zu können, ist ein Vorantreiben der Digitalisierung sowie der Datenerfassung und -analyse notwendig. Dazu gehören mehr Echtzeitinformationen, aber auch die Kompatibilität der IT-Systeme verschiedener Verwaltungseinheiten.
 
2. Bei der Bewältigung der Pandemie in einem Mehrebenensystem wurde ein koordinierendes Zentrum vermisst. Zudem wurde ein stärkerer Austausch auf europäischer bzw. internationaler Ebene angeregt, so dass internationale Expertise und gute Praxis genutzt werden können.

Empfehlungen

Zentrale Ergebnisse und Lösungsansätze 
Um die identifizierten Herausforderungen zu bewältigen, wurden insgesamt vier Lösungsansätze erarbeitet.

  • Science Policy Hub
    Das Science Policy Hub ist eine agile Einheit zur Ko-Produktion von Wissen, Strategien und Maßnahmen an der Schnittstelle von Wissenschaft und Verwaltung. Es liefert schnelle, robuste und wissenschaftsbasierte Handlungsoptionen für die öffentliche Verwaltung in Krisensituationen. Dabei bietet das Hub eine Vielzahl von Leistungen an, welche nach dem Baukastenprinzip genutzt werden können.
     
  • Crowdsourcing Plattform
    Die Online-Plattform bietet der öffentlichen Verwaltung einen einfachen und schnellen Zugang zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie zu wissenschaftlicher Expertise. Sie vernetzt Wissensträgerinnen und -träger aus Wissenschaft, Verwaltung und Politik und ermöglicht das Generieren einer großen und vielfältigen Zahl von Ideen und Lösungsansätzen zur Bewältigung spezifischer Problem- und Fragestellungen.
     
  • Rapid Advice Request
    Das Instrument eines Rapid Advice Request ermöglicht es der ministeriellen Fachebene, schnell den aktuellen Forschungsstand zu einem spezifischen Thema einzuholen. Auf dieser Basis sollen politische Entscheidungen evidenzbasiert vorbereitet werden. Die Zusammenstellung des aktuellen Forschungsstandes übernehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Prozess von der Veröffentlichung der Fragestellung über die Vergabe bis hin zur Zusammenstellung des Forschungsstandes soll einen vorher definierten kurzfristigen Zeitrahmen nicht übersteigen.
     
  • Krisen-Informations-Dashboard
    Zur Beschleunigung von konzisen Informationsflüssen im Mehrebenensystem sollen der öffentlichen Verwaltung mithilfe einer nutzerfreundlichen, personalisierbaren Plattform zentral relevante Daten und Handlungsempfehlungen in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden. 
Fachliche Unterstützung (Grafik)
Science Policy Hub
Institutionelle Verortung (Grafik)
Science Policy Hub
Antworten auf komplexe Fragen (Grafik)
Crowdsourcing-Plattform
Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen (Grafik)
Crowdsourcing-Plattform
Wissenschaftliche Sachstände verständlich aufbereitet (Grafik)
Rapid Advice Request
Wissenschaftliche Sachstände verständlich aufbereitet (Grafik)
Rapid Advice Request
Informationen für Krisenmanagement (Grafik)
Krisen-Informations-Dashboard
Erweiterungsmodule (Grafik)
Krisen-Informations-Dashboard

Kontakt

Pascal Hetze (Foto: Damian Gorczany)

Dr. Pascal Hetze

leitet das Handlungsfeld "Forschung & Innovation" und das Fokusthema "MINT-Lücke schließen".

T 030 322982-506

E-Mail senden

Mitglieder des Projektteams

Marian Burk
Umfragedesign und qualitative empirische Sozialforschung

Andrea Frank
Strategische Begleitung

Dr. Pascal Hetze
Projektleiter

Judith Koeritz
Desktop Recherche

Kaja Niemann
Stellvertretende Projektleiterin

Nick Wagner
Design Thinking und Innovationsmethoden