Die Ausgaben der deutschen Wirtschaft für Forschung und Entwicklung (FuE) sind nach langer Zurückhaltung der Unternehmen wieder deutlich gestiegen: Die FuE-Investitionen legten 2021 um fast sechs Prozent auf insgesamt gut 75 Milliarden Euro zu. Das zeigen vorläufige Daten des Stifterverbands, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegen. Das Plus gleicht allerdings gerade mal den starken Einbruch während des ersten Coronajahres 2020 aus.
Und im internationalen Innovationswettbewerb könnte Deutschland trotz der Zunahme der Forschungs- und Entwicklungsausgaben der Unternehmen im vergangenen Jahr weiter zurückfallen. Denn 2020 hatten nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nahezu alle anderen Industrienationen diese für die Innovationskraft der Wirtschaft zentralen Investitionen gesteigert – nur in Deutschland und Italien brachen sie ein.
So schafft es die Bundesrepublik weiter nicht, bei der Forschungsintensität in die Spitzengruppe aufzusteigen. Die Forschungsintensität zeigt, wie viel die Ausgaben von Staat, Wirtschaft und Hochschulen für Forschung und Entwicklung prozentual vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausmachen.
Im vergangenen Jahr lag dieser Wert in Deutschland den Daten des Stifterverbands zufolge bei 3,13 Prozent des BIP – etwa ein Drittel trägt der Staat dazu bei, zwei Drittel kommen aus der Wirtschaft. 2020 waren es ebenfalls 3,13 Prozent, im Jahr 2019 aber noch 3,17 Prozent. In anderen Ländern liegt die Forschungsintensität hingegen deutlich höher: Israel kommt nach OECD-Angaben auf einen Wert von mehr als fünf und Südkorea auf fast fünf Prozent. Deutschland liegt hier noch hinter Japan und neuerdings auch hinter den USA.
Der Präsident des Stifterverbandes, Michael Kaschke, hält es trotz der jüngsten Zunahme bei den FuE-Ausgaben für ausgeschlossen, dass die Bundesregierung die Forschungsintensität wie versprochen bis 2025 auf 3,5 Prozent erhöhen kann. "2022 fürchte ich zwar keinen weiteren Einbruch – aber 2023 könnte es durchaus sein, dass die Unternehmen in der Rezession auch die FuE-Ausgaben wieder herunterfahren", sagte er. "Das wäre verheerend."
In absoluten Zahlen war 2020 China der weltweit wichtigste Industrieforschungsstandort, gefolgt von den USA und Japan, wie der jüngste Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt. Deutschland folgte an vierter Stelle. Die Zahlen des Stifterverbands für das vergangene Jahr geben auch Einblicke in die Ausgaben der einzelnen Branchen. Besonders hohe Steigerungsraten für die FuE-Ausgaben zeigen sich bei Informations- und Kommunikationsdienstleistungen: Die Unternehmen investierten dort fast neun Prozent mehr als im Vorjahr und waren somit einer der Treiber des Wachstumskurses. Die chemische Industrie investierte ebenfalls mehr als 2020.
Bei Dienstleistern für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung, bei denen sich auch Unternehmen finden, die Impfstoffentwicklung betreiben, zeigten sich die Effekte der Pandemie: Mehr als 3,5 Milliarden Euro wurden hier 2021 für interne FuE aufgewendet - eine Steigerung um mehr als 14 Prozent.
Die Automobilindustrie investierte 2021 wieder mehr als 25 Milliarden Euro in interne FuE und damit gut 1,4 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Allerdings hat die Branche den historischen Rückgang aus dem Jahr 2020 dem Stifterverband zufolge noch nicht aufholen können, sondern sie liege noch 2,4 Milliarden Euro unter dem Wert von 2019. "Dies wirkt bestimmend für das gesamte Innovationssystem", kommentiert der Verband die Zahlen, "denn gut 34 Prozent der internen FuE-Aufwendungen aus dem Wirtschaftssektor stammen in Deutschland aus der Automobilindustrie."
Neben den unternehmensinternen FuE-Ausgaben von insgesamt 75,2 Milliarden Euro haben sich auch die Ausgaben der Unternehmen für Forschungsaufträge an Dritte erhöht. Dazu zählen solche an Institute und Hochschulen, häufig aber auch an ausländische Tochterunternehmen. 2021 belief sich die Summe dieser externen FuE-Ausgaben auf 26,1 Milliarden Euro – das waren 14 Prozent mehr als 2020.
Trotz des starken Wachstumskurses der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung insgesamt verlief die Entwicklung beim Personal eher verhalten. So wurden dem Stifterverband für 2021 rechnerisch 477.000 Vollzeitstellen gemeldet und damit ein Plus von 2,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit gebe es aber in deutschen Unternehmen so viele Forscher und Entwickler wie noch nie. Überdurchschnittliches Wachstum zeigten hier pandemiebedingt etwa Programmiertätigkeiten und die pharmazeutische Industrie.
Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, wie der gemeinnützige Verein mit vollem Namen heißt, erhebt jedes Jahr im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) Informationen über die FuE-Aktivitäten des Wirtschaftssektors in Deutschland.
Der ehemalige Zeiss-Chef und Verbandspräsident Kaschke fordert angesichts der mangelnden Investitionen in Deutschland "einen Schulterschluss von Wirtschaft und Staat: Die Politik muss Innovationen und Investitionen unterstützen, die Unternehmen müssen es auch tun."
Angesichts der knappen Budgets sei es nun "umso wichtiger, dass wir in der Wirtschaft und beim Staat das vorhandene Geld effektiv investieren, uns also vor allem fokussieren und zum Beispiel Doppelinvestitionen vermeiden", sagt Kaschke. Die Wirtschaft müsse viel stärker auf Kooperation über Plattformen setzen. "Es macht sicher keinen Sinn, wenn etwa in der Automobilindustrie zig Softwarelösungen parallel entwickelt werden und das den Großteil der FuE-Budgets auffrisst." Derzeit werden in der Autoindustrie bis zu 60 unterschiedliche Ansätze bei Betriebssystemen erwogen.
Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nannte das Plus bei den Investitionen eine "gute Nachricht". Allerdings reiche es nicht, um die Forschungsintensitätsquote zu steigern. Das müsse ein "Ansporn sein, die finanziellen Anstrengungen gerade in herausfordernden Zeiten noch zu erhöhen". Die neue Zukunftsstrategie lege "das nötige Fundament für zentrale Forschungs- und Entwicklungsvorhaben der Bundesregierung – und bekräftigt das ambitionierte 3,5-Prozent-Ziel", erklärte die Ministerin.
Kaschke reicht das nicht. Die Strategie sei zu kleinteilig. Der Präsident des Stifterverbandes schlägt konkrete Innovationsziele wie "Wir wollen bis 2030 zu den drei führenden Nationen in der Anwendung der Quantentechnologie gehören" oder "Wir wollen die führende Technologie in der Elektrolyse entwickeln, die uns zu einem weltweit entscheidenden Player macht" vor.
Kaschke rät dazu, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Beispielweise habe die "weltweit effizienteste Photovoltaik" Deutschland nichts genutzt, weil sie für den Massenmarkt zu teuer war. Somit habe die Wirtschaft nicht von ihrer Forschung profitieren können. Solche Innovationsziele zu definieren und zu erreichen sei aber nur möglich, wenn die Ministerien für Forschung, Wirtschaft, Digitales und Gesundheit "künftig, anders als bisher, auch wirklich kooperieren, wie es die Zukunftsstrategie verspricht", fordert der Stifterverbandspräsident. "Bisher steht das nur auf dem Papier. Ich hoffe sehr, dass das jetzt Realität wird."
Zusammenarbeit allein reiche allerdings nicht, meint Kaschke: Um die Ziele zu erreichen, brauche die Regierung "mutige Vordenker und erfahrene Praktiker, die nun intelligente Roadmaps entwickeln, wie wir die Ziele umsetzen". Dabei hofft er auch auf das in der Zukunftsstrategie angekündigte Zukunftsforum. Schließlich lasse sich nur mit einer konkreten Strategie "intelligent und agil nachsteuern".
Autorin: Barbara Gillmann
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Handelsblatt GmbH