Keine Perspektive in der Schule? Schülern mit schlechten Noten fehlt oft Selbstbewusstsein - und ein Ziel, für das es sich lohnt, sich anzustrengen. Lena-Carolina Eßer, Geschäftsführerin der Mentoring-Initiative Rock Your Life!, will genau diese Jugendlichen erreichen. Hier erklärt sie, wie das funktioniert - und wirkt.
Der Stifterverband hatte "Rock Your Life!" mit der Hochschulperle des Jahres 2011 ausgezeichnet.
Produktion: Corina Niebuhr
Postproduktion: Webclip Medien Berlin
Nein, das System ist nicht gerecht, alleine dadurch, dass eben eine frühe Sortierung schon stattfindet.
Auch die Lehrer meinen es oft gut mit den Kindern, treffen dann aber eine falsche Entscheidung. Also, der Klassiker ist, ein Kind aus einer Akademikerfamilie mit einer 3 kommt noch aufs Gymnasium. Ein Kind aus einer Migrations-, Arbeiterfamilie mit einer 3 kommt mindestens auf die Realschule. Und die Lehrer meinen es aber nur gut, weil sie denken: Okay, dem Akademikerkind wird geholfen, wenn's da nicht klappt, und bei dem anderen Kind wäre aber niemand da, um es zu stärken. Und das ist so eine strukturelle Ungerechtigkeit, die sich einfach durchzieht durch das System und immer wieder natürlich an verschiedenen Stellen zu Tage kommt. Ja, von daher kann man schon sagen: Derzeit haben nicht alle Kinder die gleichen Chancen im Leben.
Alle, die bei "Rock Your Life!" mitmachen, glauben einfach fest daran: In jedem schlummern Potenziale. Nur, unsere Schüler sind eben einfach, die sind 13, 14, 15, die sind mitten in der Pubertät, da ist das Selbstbewusstsein nicht das größte. Die glauben nicht an sich selber. Gerade bei diesem Knick, von Grunschule auf die Hauptschule geschickt zu werden, da passiert ganz viel mit dem Selbstbewusstsein, und zum Teil muss das in der Schule in der fünften Klasse erstmal wieder aufgebaut werden. Und wenn die nicht an sich glauben, kann das so viel bewirken, wenn sie einen Menschen an ihrer Seite haben, der wirklich sagt: Ich glaub an dich! Du schaffst es schon! Und was dabei herauskommt, ist uns, ehrlich gesagt, egal, ob der Schüler am Ende studiert oder eine Ausbildung macht. Hauptsache, das ist das, was er wirklich möchte und woran er dann auch Spaß hat.
Ich bin der Meinung, dass Lehrer das nicht mehr leisten können. Also, wie soll ein Lehrer, der eben 30 Kinder unterrichtet, wie soll der noch mit jedem Kind alle zwei Wochen mal ein bisschen sprechen und reden: Wie geht es dir eigentlich? Wie sieht es zu Hause aus? Das können die Lehrer nicht mehr leisten. Und dann sollen sie noch Berufsorientierung machen, und ein Lehrer ist ja auch nur durch das System Schule-Studium-Referendariat gelaufen. Also, der kennt sich mit Ausbildung ja auch gar nicht aus. Und wir holen uns aber die Profis dazu, wir holen uns wirlich Unternehmen dazu, die dann eben auch Unternehmensbesichtungen und ähnliches anbieten. Und das kann eben die Schule auch einfach nicht mehr leisten. Da wird ganz schön viel auch mittlerweile von Schulen und Lehrern abgefragt. Und, klar, es gibt auch Lehrer, die bemühen sich nicht, die haben auch keine Lust, die sind selber am System verzweifelt. Aber es gibt auch ganz, ganz tolle Lehrer, und, ehrlich gesagt, ohne diese tollen Lehrer, ohne diese Sozialarbeiter funktioniert auch "Rock Your Life!" viel schlechter. Also, wir haben meistens an jeder Schule irgendeinen Ansprechpartner, der total für die Schüler brennt, der "Rock Your Life!" deswegen auch richtig toll findet und uns da sehr unterstützt. Ich glaube, da, wo es ganz starr und vielleicht auch so ein bisschen zurückgeblieben ist vom Denken, diese Schule würde "Rock Your Life!" sowieso nicht nehmen. Von daher ist da vielleicht dann eben auch bei uns sozusagen ein Fehler im System, weil wir dann doch nur bestimmte Schulen erreichen, die überhaupt diese Offenheit haben, mit "Rock Your Life!" zusammenzuarbeiten. Also, da tut sich vielleicht sowieso schon ein bisschen was, aber dann kommt es tatsächlich auf den einzelnen Lehrer wirklich an. Ja, wir haben auch Lehrer kennengelernt, also, ich habe eine Lehrerin kennengelernt, nachdem ich mit ihr gesprochen habe, habe ich auch gedacht: Die Welt ist schlecht und böse, und aus mir kann nichts werden. Und das hat sie ihren Schülern vermittelt! Also, die hatten alle gar kein Selbstbewusstsein mehr, die haben alle gedacht: Am Ende kriege ich eh nur Hartz IV. Das ist natürlich wirklich ganz gefährlich für die Schüler.
Also, bei den Mentoring-Beziehungen, die Themen, die da immer wieder auftauchen, sind einmal Selbstbewusstsein, was ich schon angesprochen hatte. Das ist einfach natürlich eine schwierige Phase für die Schüler, und dieser Student ist einfach nur für sie da und hört zu. Das bewirkt schon ganz viel. Dann wirklich die Berufsorientierung: Wo soll es mit mir hingehen? Viele unserer Schüler haben so eine Standardantwort. Also, es ist ganz lustig, wenn man mit denen redet, kommt wie aus der Pistole geschossen: Ich möchte Kindergärtnerin werden. Oder: Ich möchte zu H&M gehen. Und dann fragt man nochmal nach, und dann merkt man: Da steckt gar nichts hinter. Sie haben sich das nur so zurechtgelegt, damit sie schnell eine Antwort haben und niemand mehr nachfragt. Und wenn man da mal den Vorschlag macht: Wie wär's denn mal mit einem Praktikum im Kindergarten? Oder geh' einfach mal einen Tag rein. Schau mal: Hältst du's einen ganzen Tag mit Kindern aus? Das ist viel Lärm. Kannst du das? Und wenn sie das dann machen und merken: Oh, ist vielleicht doch nicht mein Ding. Oder sie merken: Wow, ich brenne immer noch dafür, super! Aber das sind unsere ganz, ganz großen Themen, und bei anderen Schülern muss man natürlich noch ganz woanders ansetzen: Die wissen einfach gar nicht, was sie können. Die haben einfach schlechte Noten in der Schule und sind eben selber der Meinung, sie sind zu nichts zu gebrauchen. Und da kommen dann unsere Seminare ins Spiel. In diesen Seminaren durchlaufen unsere Schüler mit den Studenten gemeinsam einen durchstrukturierten Prozess, der ist von einem Trainer angeleitet. Da schauen wir erst auf die Werte vom Schüler. Also, zum Beispiel Familie, Freunde, Heimat könnten starke Werte sein. Dann wird der Job der Stewardess schwierig, weil man da ganz, ganz weit weg ist, das würde einen wahrscheinlich sehr unglücklich machen. Wenn vielleicht ein Wert ist: Freiheit, Neues erleben, ja, mit vielen Leuten zusammenkommen, dann könnte Stewardess wieder sehr, sehr interessant sein. Deswegen schauen wir auch auf die Werte, auf das Wertesystem. Dann gucken wir auf die Stärken und Talente, machen das aber in dem Prozess immer so, dass nicht nur die Schüler das für sich herausfinden, sondern sie auch von ihrer Umgebung Feedback bekommen, weil das sind ja eben die Schüler, die gemeinsam in einer Klasse sind, die dann auch so in einem Seminar sind, die kennen sich gut und sind sogar, wenn man sie anleitet, sehr, sehr offen und sehr nett zueinander. Und dann kann es eben schon mal passieren, dass dann so ein Mädel da sitzt, das sind dann schon eher die Mädels, die sagen: Oh, ich kann gar nichts gut. Und dann sagt die beste Freundin: Das stimmt doch gar nicht! Du malst so schön, und du hörst so gut zu, du bist immer für mich da. Und das mal auszusprechen und mal von anderen zu hören, was man eigentlich noch so kann, das bewirkt ganz viel. Und aus diesen ganzen Dingen, die wir in diesem Prozess sammeln, werden dann quasi Plakate erstellt, wo dann auch Berufsmöglichkeiten gesammelt werden, und dann kann da stehen: Poet, Lehrerin, Dachdeckerin, weil das zu verschiedenen Sachen passen würde. Dann kann der Schüler sich überlegen: Gut, womit kann ich mich denn erstmal identifizieren? Was kann ich ausprobieren? Und dann hat er den Studenten an der Seite, der ihn begleitet, der ihn diese Sachen auch wirklich zu verfolgen und auszuprobieren. Ganz viel kann es eben bewirken, wenn ein Schüler herausfindet: Ich möchte unbedingt irgendwas mit Biologie machen. Dann merkt er: Gut, da gibt es gar nicht so viele Berufe. Das heißt eigentlich, ich müsste studieren. Und da gibt es wirklich auch einen Fall von einem Studenten bei uns im Netzwerk, bei dem es genau so passiert ist: Er war selber auf der Hauptschule und hatte im Bio-Unterricht jemand Externen von einem Unternehmen, weil der Bio-Lehrer ausgefallen ist. Und diesen praktischen Bio-Unterricht mit dem Unternehmen fand er so spannend, dass er eben beschlossen hat: Ich möchte was mit Biologie machen. Hat sich mit demjenigen unterhalten, und der hat gesagt: Ja, ich merke, du hast da Talent für. Aber du müsstest studieren, und deine Noten, die restlichen, das wird nicht funktionieren. Daran kannst du was machen, das muss ja nicht so bleiben. Und er hat es wirklich geschafft, seinen Notendurchschnitt so zu verbessern, dass er dann auf die weiterführende Schule gegangen ist und jetzt wirklich an der Fachhochschule studiert. Bio, genau sein Traum. Und das hat er nur geschafft, weil er endlich mal ein Ziel hatte. Vorher hatte er echt schlechte Noten. Er hat wohl ziemlich viel Mist auch gebaut. Der hat mir gar nicht gesagt, was er alles gemacht hat. Aber dieses eine Ding, was ihn so motiviert hat, das zu finden, das hat ihn dann durch die ganze Schullaufbahn getragen. Und das ist natürlich bei unseren Schülern, wenn die gar nicht wissen, wo es mit ihnen hingehen soll, wenn sie am Ende denken: Ich bekomme sowiesom Hartz IV. Wie soll man sich dann aufraffen und für die Schule lernen, wenn es dann auch noch ein bisschen schwerfällt?